Staffel der Sinne – die Sinne melden, aber keiner hört hin
Heute beschäftigen wir uns mit der fünften Fähigkeit der „Großen Sieben“.
Manchmal liest man etwas von Wahrnehmung oder Tastsinn. Professor Horst Tiwald hielt jedoch die Bezeichnung „Staffel der Sinne“ für zutreffender.
Um perfekt mit unserem Gegner umgehen zu können, ist nicht nur eine gute Koordination – im Sinne von Körpereinheit – nötig, sondern auch eine möglichst zielgerichtete, sprich genaue, Wahrnehmung erforderlich: Wann und wo genau passiert etwas?
Nun ist es ja nicht so, dass unser Gehirn nicht genügend Sinneseindrücke erhielte. Dort kommen, wie der Heidelberger Forscher Manfred Zimmermann ermittelte pro Sekunde etwa 12 Millionen „Informationen“ an. Den Löwenanteil daran haben die Augen mit ca. 10 Millionen, gefolgt von den Ohren und den Rest teilen sich Nase, Geschmackssinn und das Körperempfinden (taktil-kinästhetisch). Aber verarbeiten können wir davon nur 40 (!) „Informationen“ pro Sekunde. Oberste Priorität haben dabei natürlich überlebenswichtige Nachrichten wie Schmerz. Ansonsten können wir glücklicherweise größtenteils selbst beeinflussen, was uns wirklich bewusst werden soll: durch unsere Achtsamkeit. Ein wichtiger Hinweis zum Thema von Prof. Horst Tiwald war, dass nicht unsere Sinne für unser Erleben entscheidend seien, sondern das Beachten dessen, was die Sinne ohnehin fortwährend melden. Das gelte insbesondere bei unserem eigenen Bewegen.
Kampfkünste und -Sportarten wie z.B. Karate oder Boxen verschaffen sich die für sie wichtigen Informationen optisch über das Sehen. Sie schätzen so Geschwindigkeiten ein, nehmen Bewegungsmuster beim Gegner wahr. Im BlitzDefence müssen wir auch mit diesem Sinn auskommen, da wir dort noch keinen körperlichen Kontakt zu unserem Gegner hergestellt haben.
Beispiel:
Kommt ein Gegner mit der linken oder rechten Hand vorn auf uns zu, dann sehen wir das. Wir passen unsere Position an und antworten mit „Blitz 1“ oder „Blitz 2“, wie wir es gelernt haben.
ChiSao-Training hilft bei der Schärfung der Sinne
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Es gibt andere Kampfkünste, bei denen das Fühlen die Hauptrolle übernimmt. Im WingTsun gibt es fürs Fühlen die einzigartige Trainingsmethode namens ChiSao – mit Betonung auf Training. Im Kampf umfasst WingTsun weit mehr. Da gilt es alle anderen Sinne, die komplette Staffel, mit einzubeziehen. Außer dem bislang angesprochenen Sehen und Fühlen sind dies Hören, Riechen, Schmecken.„Aber, ob es nun um Sehen oder Fühlen geht, an beidem haben die Muskeln einen entscheidenden Anteil“, schreibt GM Kernspecht in seinem Buch „Die Großen Sieben“. Er weist daraufhin, dass der Tast- sowie der Gleichgewichtssinn nur Zulieferdienste für die Wahrnehmung leisten. Die grundlegende Wahrnehmungsleistung aber vollbringt die Muskulatur – dies auch über die mit ihnen verbundenen Nerven, hauptsächlich jedoch über die sie umgebenden Faszien. Sie bilden zusammen mit dem Bewegen ein gigantisches Wahrnehmungsorgan, den sogenannten Muskelsinn. Er liefert uns im Nahkampf die wichtigsten Informationen unmittelbar durch das Berühren des Gegners.
Sollte unser Gegner unsere Hand bei der Kontaktaufnahme wegdrücken, können wir dies entsprechend geschickt auswerten. Die Möglichkeit dazu erarbeiten wir uns im ChiSao-Training. Wir beginnen mit eindeutigen und deutlichen Druckrichtungen und schreiten immer weiter fort, bis wir auch uneindeutige Impulse – etwa einen Druck auf die Körpermitte – erkennen und diese gewandt lösen können. Übrigens auch zu den übrigen Sinnen gehören jeweils Muskeln zur Wahrnehmung. Sie spielen im Gegensatz zum Sehen und Fühlen allerdings eine kleine Rolle.
Bewegen wir uns in unserer Umwelt, müssen wir sie mit allen unseren Sinnen achtsam wahrnehmen. Wir richten unseren Fokus gezielt auf das, was uns interessiert und was Entscheidendes passiert. Wir müssen uns schon weit im Vorfeld darüber klar sein, welches Geschehen für uns von Vorteil und welches von Nachteil ist.
Als Besonderheit im WingTsun „begreifen“ wir die Welt da draußen aber nicht nur mit Auge, Ohr usw., sondern vor allem mit unserem Bewegen. Unser Muskelsinn muss so trainiert sein, dass er uns mitteilt, ob sich Gutes oder Schlechtes nähert.
Zwei Lernstufen aus dem WingTsun für Beginner
Stufe 1: Jeder vereint sich mit sich selbst.
Wir lernen, unserem eigenen Arm – einschließlich Kopf oder Rumpf – auszuweichen. Das könnt ihr bequem auch zuhause beim Einseifen unter der Dusche üben. Jedes Mal, wenn sich die Hand mit der Seife nähert, weicht das angepeilte Körperteil im letzten Augenblick zurück oder dreht sich leicht weg, um sich vor dem Seifenschaum zu retten.
Bei dieser „Dusch-Form“ lernt ihr, euch selbst und eure Grenzen kennen und euren eigenen einschäumenden Händen auszuweichen. Der Grundsatz, der dahintersteckt:
Man muss an sich selbst arbeiten, ehe man mit dem Partnertraining beginnt.
Kontaktpunkt im ChiSao
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Stufe 2: Das Vereinen mit dem Kontaktpunkt
Hier vereinen wir uns mit dem anderen nur an einem Kontaktpunkt. Am Anfang soll uns sein Handgelenk als körperlicher Berührungspunkt dienen. Unser Gegenüber ist in dieser Übungsphase noch kein Gegner, sondern ein hilfreicher Partner! Mit ihm zusammen arbeiten wir daran, den Kontaktpunkt im Raum in den drei Ebenen zu fixieren.
Für den Kampf gilt auf jeden Fall: Immer dafür sorgen, dass unser eigener Arm rechtzeitig zwischen den Arm des Gegners und unseren anvisierten Restkörper gebracht wird!
Im fortgeschritteneren WingTsun lernen wir dann, welche Möglichkeiten wir haben, uns den Gegner komplett einzuverleiben.
Aber fürs Erste: Nutzen wir stets alle Sinne und bewachen sie achtsam!
Und übrigens viel Spaß in Zukunft beim Duschen! WingTsun ist immer und überall!
Text: Sadek Radde/hm
Fotos: mg