Editorial

Internal Farce – Videos zum Fremdschämen

Nachdem die Entwicklung der Kampfkünste der letzten Jahrzehnte begrüßenswerter Weise in Richtung Realitätsnähe (Käfigkämpfe, MMA usw.) ging, hat sich nun – wie zu erwarten war – auch eine extreme Gegenbewegung von verirrten Träumern gebildet.

Diese möchten glauben (machen), dass es möglich ist, einen zum letzten entschlossenen Angreifer – sogar ohne jegliche Berührungkampfunfähig zu machen.*
Zahlreiche Videos dieser Art wollen uns – wider jede Erfahrung – vorgaukeln, dass das erlernbar ist.

Nachdem solche „Illusionisten“ in verschiedenen Budo-Organisationen Fuß gefasst haben, weil sie einen willkommenen Zuwachs an Mitgliedszahlen versprechen, der nicht nur auf Kinder als Teilnehmer beruht, haben sie nun auch Wing Tsun in seinen verschiedenen Spiel- und Schreibarten angebaggert.

Schon vor Jahren hatte ein Illusionist aus Übersee versucht, einen meiner Landestrainer (in Spanien) körperlich von der Wirksamkeit seiner wundersamen Methode zu überzeugen, indem sie ihm Schläge und Tritte auf diverse Punkte gaben, wobei er sich nicht bewegen durfte. Das scheiterte jämmerlich.

Nichtsdestotrotz wandte sich derselbe Herr doch tatsächlich in einer Mail an mich persönlich, um mich von seiner angeblichen Kraft zu überzeugen.
Wie man weiß, interessiert mich alles, was die Kampfstärke meiner Mitglieder optimieren könnte, und ich sagte ihm zu, dass ich mit mehreren meiner handfesten Jungs zu seiner Veranstaltung kommen wolle und dabei bin, wenn es denn funktionieren sollte.
„Nein, nein“, protestierte er eilig, es ginge überhaupt nicht um Kämpfen, sondern um Geldverdienen. Genauer gesagt, um seine und meine Rente im Alter, wenn ich meinen Mitgliedern seine Kurse verkaufe.

Ihm war also bewusst, dass er das, was er verkaufen wollte, überhaupt nicht besaß.

Warum ich das schreibe?

  1. Weil ich nicht will, dass unser WT irgendwann einmal in diese abartige Richtung geht.
  2. Weil ich nicht will, dass die ahnungslose Öffentlichkeit uns für solche Spinner hält.

Die in unserem WT angewandte Kraft grenzt für Außenstehende nämlich auch ans Wunderbare:

  • Ein schwerer Gegner wird von dem leichten WT-Kämpfer fast mühelos zurückgestoßen.
  • Der Gegner kann sich nicht von unseren Armen lösen usw.
  • Wir können auf die gegnerische Psyche einwirken, so dass seine Psyche zu unserem
       Vorteil auf seinen Körper einwirkt.

Aber all das hat mit den Wirkungen einer geheimnisvollen „inneren“ Wunder-Kraft noch lange nichts zu tun.

Um es vorwegzunehmen:

Ich habe in über 55 Jahren Kampfkunst fast alle bedeutenden Meister gesehen. Aber ich habe, ebenso wie all die echten Meister, mit denen ich jemals Kontakt hatte, keine kampfrelevante echte „innere Kraft erlebt.

Es ist aber ziemlich einfach, auf Youtube-Videos eine Wirkung vorzutäuschen und ein Können, über das man nicht verfügt.
Zum Beispiel, indem man mit körperlich oder psychisch Schwachen demonstriert oder mit gehorsamen Schülern, die einen aufs Peinlichste anhimmeln.

Man kann auch selbst zum „betrogenen Betrüger“ werden, wenn man seiner eigenen Propaganda glaubt und dem Schüler, der sich mitreißen lässt und „mitspielt“, weil er das Gefühl hat, dass es sein Lehrer oder die Zuschauer von ihm erwarten.
Ähnliches gilt auch für „Wunderknaben“, die sich auf Youtube als „unschubsbar“ darstellen, indem sie sich von Leuten, meist eigenen Schülern, „pushen“ lassen, die davon ganz offensichtlich nichts verstehen.

Wie David Hume (1711 - 1776) schon gezeigt hat, kann der Mensch keine Zusammenhänge erkennen, nur ein Hinter-, Neben- oder Nacheinander. Somit kann er leicht über Ursache und Wirkung getäuscht werden.

Wer allerdings Erfahrung hat im Schubsen und im Geschubstwerden, wer sich und andere – aus der Innen- und Außensicht – zu beobachten gelernt hat, dem helfen u.a. seine „Spiegel-Neuronen“ echte Wirkung von nur vorgetäuschter unzweifelhaft zu unterscheiden.

Ich kann mich leicht in die Bewegungen und Gefühle eines anderen, dessen Bewegen ich sehe, hineinversetzen und mit den eigenen „Muskelgefühlen“, die dann bei mir aufkommen, vergleichen.

Offenbar ist diese Fähigkeit manchem Komödianten nicht einmal theoretisch bekannt, wie könnte sich sonst entblöden, mir ein Video seines oberpeinlichen Täuschungsversuches, zukommen zu lassen mit der Beteuerung: „Glaube mir doch, das ist echte innere Kraft!“
 

Was für mich der Name „Inneres WingTsun“ bedeutet

Keinesfalls will ich mit der Namensgebung die Illusion hervorrufen, dass wir mit einer übermenschlichen „inneren“ Kraft arbeiten.
Auch wenn die Wirkungen, die wir verursachen, für die meisten schwer zu durchschauen sind, beruhen sie auf klugem kraftschlüssigem Verhalten und widersprechen den „Gesetzen“ der Physik nicht.

Wenn ich mein WT „Inneres“ WingTsun nenne, will ich damit nur aufzeigen, dass wir unser WT von „innen nach außen unterrichten“, so wie es wohl ursprünglich im chan-buddhistischen WingTsun angelegt war.

Wir beginnen im Unterrichten mit der Bewegung der Achtsamkeit, nicht mit der Bewegung des Körpers.
Wenn wir dann die SiuNimTau-Form üben, geht es uns in erster Linie um die Selbstbeobachtung und dann erst um die in der Form enthaltenen Bewegungen.

Kurz, unser Inneres WingTsun ist deshalb ein inneres, weil wir zuerst die Achtsamkeit üben und die Innenansicht der Bewegung.

Ein inneres WingTsun folgt dem Chan-Buddhismus des Shaolin-Klosters und stellt die Achtsamkeit, also die selbst geführte Aufmerksamkeit, nach vorn und ruft den Schüler als Erstes zu den Tatsachen, also genau „hinzusehen“, was wirklich Sache ist.

Unser funktionales körperliches Bewegen ist dann der nächste Lernschritt, bei dem es darum geht, auf die Frage des Gegners, die unsere Achtsamkeit richtig erkannt hat, situationsgerecht zu antworten.

Bitte helft mir, dass uns die Öffentlichkeit nicht mit unrealistischen Spinnern in einen Topf steckt.

Nur was die „Art des Unterrichtens“ angeht, nennen wir unser WT einen inneren Stil.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht


Achtung:

Damit kein Missverständnis aufkommt, „Kong Jin“ (Internal Force)-Training ist eine umstrittene Trainings-Methode vieler innerer Stile, bei der zwei „Partner“ sich in jahrelangem gemeinsamem Training wie „Sender und Empfänger“ so aufeinander einstellen, dass sie den „Angriff“ des anderen schon „spüren“ können, bevor oder ohne dass dieser sie berührt. Sie verhalten sich dann in vorauseilendem Gehorsam so, als ob sie schon getroffen wären bzw. sie nehmen die Wirkung voraus und lassen sich z.B. zu Boden fallen. Man kann darüber streiten, wie sinnvoll solch eine „Konditionierung“ ist.
Ob sie im Ernstfall Wirkung bei einem nicht in jahrelanger gemeinsamer Arbeit eingespielten „Partner“ zeigt, ist zu bezweifeln.

 


*  Vergleiche „Kurs-Buch Inneres WingTsun“ S. 42:
   Auch ohne physische Berührung möglich,
   Achtung, Scharlatane unterwegs.