Gleichgewicht gleich Gleichgewicht? Balance im WingTsun
Einssein mit sich selbst und entspannt sein. Die Herausforderung kann nur mit dem richtigen Stand und richtiger Struktur gemeistert werden. Neben den Fähigkeiten, die wir bisher kennengelernt haben, spielt natürlich auch unser Gleichgewicht eine große Rolle
In der Überschrift stellen wir die Frage, ob Gleichgewicht gleich Gleichgewicht ist. Antwort: „Nein!“ Das, was man sich allgemein darunter vorstellt, wenn jemand über ein gutes Gleichgewicht verfügt, hat nichts mit dem Gleichgewicht zu tun, das wir im Kampf brauchen.
Einerseits geht es um Gleichgewicht mit sich selbst und andererseits mit dem Gegner in einem ausgewogenen Gleichgewicht zu sein, ohne ihn als „Stütze“ zu benutzen.
Üben der SiuNimTau auf einem Bein verbessert das Gleichgewicht mit sich selbst
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Beispiele für Gleichgewicht mit sich selbst: Jemand tänzelt locker über ein Hochseil oder eine Slackline. Jemand steht auf einem Bein und macht dabei verschiedenste Bewegungen. Ihr erinnert euch an eine beliebte Anfangsübung aus dem WingTsun-Training: SiuNimTau auf einem Bein? Oder das langsame Ausführen und „Halten“ der Tritte in der ChamKiu?
Den Körper unter Einfluss der Schwerkraft auszurichten, d.h. im Gleichgewicht mit sich selbst zu sein, sorgt dafür, dass man entspannt ist. Anders gesagt: Die Muskeln sind nicht mit verkrampftem Halten des Körpers beschäftigt, sondern sind bereit für Action.
Um das eigene Gespür dafür zu verbessern, wo eure Bewegungsgrenzen sind, an denen es ohne gravierende Gegenmaßnahmen mit dem Gleichgewicht vorbei, hier eine kleine Übung:
Übung 1
Bevor ihr in den IRAS geht, könnt ihr eure maximale „Gleichgewichtsgrenze“ testen. Schaukelt dafür von den Hacken zu den Fußspitzen, nach links und rechts. Kurz bevor ihr jeweils das Gleichgewicht verliert, haltet inne und merkt euch diese Grenze.
Übrigens gibt es eine andere beieindruckende, einfache Übung, um euch klarzumachen, welchen Anteil eure Augen bei der Wahrung eures Gleichgewichts haben:
Übung 2
Stellt euch mit geöffneten Augen auf ein Bein. Klappt doch prima und könnt ihr relativ lang durchhalten, oder? Jetzt schließt ihr die Augen. Na, wie fühlt es sich jetzt an? Ganz schön wackelig, wenn man es nicht gewohnt ist. Plötzlich greifen hektisch diverse Haltemuskeln ins ungewohnte Geschehen ein. Schnell ist es vorbei mit dem Gleichgewicht. Stimmt’s? Gute Nachricht: Es lässt sich üben. Vorteil: das Sturz- und Verletzungsrisiko wird verringert. Bestimmt ein Vorteil im Kampf.
Um sich immer wieder vom durch die Augen geschaffenen scheinbaren Gleichgewicht zu lösen, ist es gut, im Training des Öfteren mit verbundenen Augen zu üben.
Welches Gleichgewicht ist im Kampf gut?
„Balance ist der entscheidende Faktor, der die innere Haltung und den Stand eines Kämpfers bestimmt. Ohne in Balance zu sein, kann er nicht effektiv sein.“
Bruce Lee, Tao of Jeet Kune Do
Im Kampf unerlässlich: gutes Gleichgewicht
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Wirklich simpel: Wer kein Gleichgewicht hat, kann nicht effektiv kämpfen – sei es abwehren oder zuschlagen.
Leider passiert es uns im Kampf oder auch im Training bei Partnerübungen immer wieder, dass wir den Gegner als „Stütze“ für unser Gleichgewicht verwenden. Mit unter Umständen fatalen Folgen; denn entzieht der andere uns die Unterstützung, sind wir unseres Gleichgewichts beraubt.
Generell gibt es im Kampf kein stabiles Gleichgewicht. Unser Körper ist ständig in Bewegung – sei es nur Atmung oder Muskeltonus, vom Einfluss eines Gegners ganz zu schweigen – und muss somit immer wieder nachjustieren. Gleichgewicht ist also kein Zustand, sondern ein ständiges Bewegen, ein Prozess..
Im iWT wollen wir deshalb „bei uns bleiben“ und z.B. unser eigenes Gleichgewicht möglichst unabhängig von dem des Gegners machen – auch wenn wir einander berühren, ziehen oder schieben.
Für uns ist eine hoch entwickelte dynamische Balance wichtig, denn unser Balancepunkt bleibt nicht immer derselbe. Wir müssen im Gleichgewicht bleiben im Stehen auf zwei Beinen, auf einem Fuß, im Sitzen, im Knien, gegen eine Wand gelehnt, auf dem Rücken, im Springen, im Vor- und Zurückgehen, bei einer Gewichtsverlagerung, beim Vorbeugen oder Zurücklehnen. Als Krönung des Ganzen gibt es einen Gegner, der mit aller Macht ständig versucht, uns unser Gleichgewicht zu rauben.
Um dieses Gleichgewicht zu halten, sind weitere Fähigkeiten gefragt, die man oft nur separat betrachtet: Beweglichkeit, Koordination, Muskelsinn und nicht zuletzt die richtige Bauchatmung.
So beschreibt es GM Kernspecht in seinem Buch „Die Großen Sieben“.
Das dynamische Gleichgewicht entwickelt sich nicht (nur) durch statische Übungen – wie Säulestehen – und auswendig gelernte Drills oder feste Sequenzen. Die Fähigkeit dieses Gleichgewichts wird am besten in anwendungsbezogenen Übungen trainiert.
Eine gute Möglichkeit bei geringem Verletzungsrisiko zu üben, bietet das „Schubs-ChiSao“:
Übung 3:
Die beiden Trainierenden stellen sich nahe gegenüber in einen stabilen Stand. Nun wird abwechselnd geschubst: zuerst A, dann B. Die Übergänge können gern fließend sein, dann entstehen Situationen, die die Übenden mittels geschickter Körperbewegungen lösen müssen, zunächst ohne Schritt.
Ziel ist natürlich, nicht geschubst zu werden oder zumindest die Schubsenergie möglichst weit gegen Null zu bringen. Jeder versucht also, das Gleichgewicht seines Gegenübers zu rauben, aber selbst nicht die Balance zu verlieren.
Möge das Gleichgewicht mit euch sein!
Text: Sadek Radde/hm
Fotos: mg