WingTsun

Die Bauern und die Glorreichen • ein Salut den Freizeit-WT-lern – Teil 2

Nachdem wir im ersten Teil mögliche Frustfallen besprochen haben, in die man tappen kann, hier nun wie versprochen meine Lösungsstrategie, mit der ich der Frustration ein Schnippchen geschlagen habe, um meinen WT-Weg fortzusetzen. Wir sind dann 'mal trainieren…
 

Meine Lösungsstrategie

Trainingsvielfalt und -häufigkeit

Ich habe angefangen, unterschiedliche Trainingstage zu nutzen, um mit anderen auf andere Weise zu trainieren. Ich erkundigte mich, wann die höheren Schüler- und Technikergrade üblicherweise trainieren. Gerade das gemeinsame Trainieren mit ihnen gibt mir neue Impulse, weil ich mich einer Herausforderung stellen muss. Dabei muss ich mich allerdings immer wieder daran erinnern, mich nicht zu bewerten oder mich mit ihnen zu vergleichen. Stattdessen versuche ich, mich von ihrem Können inspirieren zu lassen. Das ist ein großer Unterschied.
Ich habe mir außerdem vorgenommen, große offizielle Lehrgänge – wie den Internationalen EWTO-Lehrgang zu Pfingsten in Hockenheim – zu besuchen, um das Gefühl zu bekommen, Teil von etwas Größerem zu sein.
Ich suche nach Möglichkeiten, öfter zu trainieren. Mein Tag hat auch nur 24 Stunden und die Woche sieben Tage. Manchmal lassen sich aber andere Verpflichtungen zeitlich anders einplanen oder ich sortiere eine Aktivität anhand meiner Prioritätenliste aus. Ich verlege zum Beispiel andere Termine auf den Mittwoch, an dem kein Training stattfindet. Ich fange früher an zu arbeiten, um die Termine am späten Nachmittag noch wahrnehmen zu können. Wenn ich keinen Weg finde, bin ich trotzdem zufrieden, weil ich alle Mittel ausgeschöpft habe und mir keine Faulheit vorwerfen muss.

Schülergrade als Basiswissen

Ich habe mir fest vorgenommen, zügig die unteren Schülergradprüfungen zu absolvieren. Wie in obigem Beispiel stelle ich mir vor, die Kampfkunst wie eine Fremdsprache zu lernen. Die Formen sind das Alphabet, BlitzDefence sehe ich als die ersten grundlegenden Standardsätze aus wenigen Worten. Mit Englisch habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mich erst durch häufigen Gebrauch beim Austausch mit Leuten, die diese „Sprache“ beherrschen, fließend unterhalten und auf Antworten und Gegenfragen reagieren kann. Ich stelle mir vor, es verhält sich beim Erlernen von WingTsun ähnlich. Ich will daher nicht zu lang bei den Basics stehen bleiben. Um beim Vergleich mit einer Sprache zu bleiben: Sie dienen nur dazu, das Alphabet, einige Vokabeln und Redewendungen zu lernen.
Ich habe den Eindruck gewonnen, der 12. Schülergrad ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Ich bin zuversichtlich, dass genügend vom Erlernten der vorherigen Grade hängen bleibt, um meine Chancen zu erhöhen und im Ernstfall wenigstens irgendetwas antworten zu können.

Prüfungssituation zum Vorteil nutzen

Ich beginne, eine Prüfungssituation unter einem anderen Aspekt zu sehen. Ich leide schon seit meiner Schulzeit an Prüfungsangst bei mündlichen bzw. praktischen Tests und Prüfungen. Bislang habe ich noch kein einziges wirksames Gegenmittel für mich entdeckt. Aber zumindest lasse ich diese Angst mich nicht daran hindern, Prüfungen zu absolvieren, weil ich weiß, sie sind für ein Weiterkommen unerlässlich.
Bei meiner letzten Schülergradprüfung war es besonders schlimm. Es ist das Gefühl der Unzulänglichkeit und Ohnmacht, das ein klares Denken blockiert und die Kontrolle über Bewegungsabläufe erschwert. Nur eine leise innere Stimme hat mich da durchgebracht und die Prüfung bestehen lassen: „Mach‘ einfach weiter, nicht aufhören, nicht aufgeben!
Ich war hinterher noch völlig unzufrieden mit meiner Leistung. Aber dann setzte mein Verstand wieder ein und ich sagte mir: „Ich muss nicht nur Verantwortung für meine Fehlschläge, sondern auch für meine Erfolge übernehmen.“ Letztendlich geht ja niemand anderes als ich selbst zu der Prüfung und niemand anderes steht es durch. Und ein weiterer Gedanke kam mir: „Ist das Durchstehen einer WT-Prüfung trotz meiner Unsicherheit, des Stresses und Kontrollverlusts nicht eine hervorragende Übung für eine reale Kampfsituation?“ Ich versuche nun, die Prüfungen als Chance, mich an Unsicherheit und Stress zu gewöhnen, und somit als Teil des Trainings zu sehen.

Stärkere, bessere Trainingspartner

Ich wähle mir bewusst, wenn möglich, stärkere, bessere Trainingspartner für dynamisches LatSao. Wenn ich dabei richtig gefordert werde, kann ich meine Ausdauer, meine Reaktion und meinen Blick für die Bewegungen des Gegners (Monitoring) trainieren. Ich hatte schon zuvor in leichtem Sparring mit einem Freund die Erfahrung gemacht, dass, wenn meine Gedanken ständig um die Frage kreisen, was passiert, wenn meine Technik nicht funktioniert, mich Treffer abhärten und die Angst vor dem Unbekannten verringern.

Widersprüche klären und Eselsbrücken bauen

Häufig verwirren mich vermeintliche Widersprüche zwischen zuvor Gelerntem und neuen Techniken. Dann habe ich mir angewöhnt, Sifu direkt nach dem Trick, dem Prinzip, der dahinterliegende Grundidee zu fragen. Widersprüche verunsichern mich und dann habe ich die Neigung, gleich alles – das Neue und das Alte – über Bord zu werfen. Ich baue mir dann Eselsbrücken und präge mir Merksätze ein. Mir hilft das besonders, wenn es mit neuen Eindrücken mal wieder zu viel wird. Dazu sammle ich auch die Ausgaben der WingTsun-Welt, um immer wieder einmal Artikel nachzuschlagen, die für mich gerade aktuelle Fragen oder Techniken beleuchten.

Mein Lernziel

Ich, als „Freizeit-WT-ler“, lerne primär WT, um meine Chancen zu erhöhen, nicht um filmreif zu siegen. Ich lerne respektvollen Umgang mit anderen. Ich lerne, mich und Situationen einzuschätzen.

Wir Freizeit-Wt-ler können stolz sein auf unsere Vielseitigkeit. Wir stehen mitten im Leben und erweitern unsere Fähigkeiten nicht nur auf unserem persönlichen Spezialgebiet, sondern trainieren unsere (Über)Lebensfähigkeit auch auf einem so fundamentalen Gebiet wie dem Kampf. Wir sind bereit, in verschiedene Richtungen gleichzeitig zu wachsen, und lassen auch unbequeme Bereiche nicht brach liegen.

Der Triumph der Bauern

Am Ende von „Die glorreichen Sieben“ erklärt der alte Dorfvorsteher, dass im Grunde nur die Bauern gewonnen haben. Sie haben gelernt, was nötig ist, um ihre Familien und ihr Heim zu verteidigen. Sie haben ihre Chancen im Kampf erhöht. Es gab Verluste, aber die meisten überstanden es und haben ihr altes friedvolles Leben zurück. Vier der sieben Revolverhelden sterben. Einer bleibt als Bauer. Nur zwei reiten davon.

 

Text: Mathias Weller
Fotos: fotolia©JackF/EWTO-Schule Wiesbaden-Erbenbach