Editorial

„Übst du noch die Formen?“

Zurzeit bin ich wieder einmal intensiv mit meinen Forschungen bezüglich unseres WingTsun-Trainings beschäftigt – nicht zuletzt auch dem Formentraining. Dies ist ein immer wiederkehrendes Thema. Da ich, wie gesagt, zeitlich sehr eingespannt bin, habe ich den Mann, der sich mit den Formen am intensivsten befasst hat, gebeten, in einem Gasteditorial etwas zu den Formen zu schreiben: GM Giuseppe Schembri.

Als mein SiFu, Großmeister Kernspecht, mich auf dieses Thema ansetzte, fiel mir wieder ein, wie vor ca. zwei Jahren ein Schüler mich fragte: „Übst Du noch die Formen?“ Ich erwiderte ihm: „Ja, selbstverständlich! Die Formen bringen mich in Form. Ich trainiere mit mir selbst als Partner und verbessere meine Fähigkeiten der Großen 7. Ich nehme bewusst jede Bewegung wahr, das heißt, ich übe die Achtsamkeit. Dies ist für mich die wichtigste der Fähigkeiten.“

Ich genieße es, für mich eine Stunde Formen zu üben. Danach bin ich voller Energie. Viele Jahre habe ich das jeden Tag gemacht. In letzter Zeit komme ich leider nicht mehr tagtäglich dazu. Doch wenn, übe ich am liebsten früh morgens, denn da ist die Luft noch unverbraucht. Und am liebsten in der freien Natur. Die Verbindung von Bewegung und Natur lässt mich Kraft schöpfen. Ob ich bei mir zuhause in Küsnacht an den Zürichsee gehe oder in den Bergen an einen Wasserfall, einen Bergsee oder natürlich auch ans Meer, wenn ich eines in der Nähe habe, die Schönheit der Natur gibt so viel zusätzliche Energie in die Bewegungen, in den Geist und Körper.
Mein Körper freut sich jedes Mal, wenn ich ihn bewege. Er ist dazu da. Die Formen geben mir die Gelegenheit, mir überall ein bisschen Bewegung zu verschaffen, auch wenn keine Gelegenheit zu größeren sportlichen Aktivitäten besteht.

Zudem lehre ich meinen Körper jedes Mal, wie er besser sich bewegen kann. Ich mache alle WingTsun-Formen sowie die Gesundheits-SiuNimTau und natürlich auch die ChiKung-Form, die noch zusätzliche Bewegungsaspekte enthält. Zudem übe ich die Energieübungen, die SiFu uns aktuell zeigt.

Ich verstehe, dass das Formenüben für die meisten Schüler nicht so erstrebenswert erscheint. Sie wollen lieber kämpfen und andere interessante Sachen trainieren. Doch können Formen – mit der richtigen Intension geübt – sehr viel bringen und formen. So übe ich zum Beispiel manchmal nur Teile aus den Formen. Oder ich konzentriere mich auf spezielle Aspekte – z.B. auf das Gleichgewicht oder ein anderes Mal auf die Gewandtheit. Wieder ein anderes Mal mache ich alles mit Körpereinheit usw.

Vielleicht bin ich geprägt von der Anfangszeit meiner WingTsun-Karriere: Meine erste Übung war, eine Stunde im IRAS zu stehen. Danach folgten viele weitere Stunden mit dem Üben der SiuNimTau. Damals mit 15 Jahren habe ich es noch nicht verstanden, was der Nutzen davon sein soll. Diese Erkenntnis kam erst ein paar Jahre und viele, viele Übungsstunden später. Trotzdem habe ich es einfach gemacht. Dies war ein sehr wichtiger Lernschritt – nämlich für Ausdauer und Kampfgeist: an einer Sache dran zu bleiben, sogar ohne zu verstehen.

So vieles wurde durch das Formentraining besser, vor allem auch das ChiSao und die LatSao-Übungen.
Deshalb blieb ich dem Formentraining treu. Die Formen lehrten mich außerdem, mutig zu werden und zu experimentieren.

Vor vielen Jahren, als ich mit dem Holzpuppen-Training begann, sagte mir SiFu, ich solle es aus dem Körper machen. Zu der Zeit wurde noch nicht so viel erklärt, wie man das machen könnte, wie heute. Ich hatte einfach diesen Satz im Kopf und begann herumzuexperimentieren: „Wie kann ich die Bewegungen aus dem Rumpf ausführen?“
Nach langer Übungszeit kam ich dann auf die Idee, die Arme einfach einmal zu vergessen und stattdessen die Bewegungen vom Rumpf her auszuführen.
Nachdem ich dies eine Weile trainiert hatte, führte ich die Rumpfbewegung mit den Armbewegungen wieder zusammen. Ich beobachtete dabei, wie ich den Körper und die Arme am optimalsten koordinieren konnte.

Dieses Ausprobieren machte und macht mir sehr viel Spaß und es bringt mir eine Menge Erkenntnisse. Vieles wurde mir erst richtig klar, wenn ich diese Bewegungen schließlich unterrichtete. Ich merkte, dass ich sie anders und vielschichtiger anleiten konnte.

Ich kann nur sagen, wenn ihr Zeit und Freude daran habt, euch körperlich und WingTsun-technisch in Form zu bringen, dann übt die Formen!

Gasteditorial von: GM Giuseppe Schembri, 9. Grad WingTsun