EWTO

Öffentliche Generalproben am Strand von Mallorca und die Rehabilitation der Solo- und Partnerformen

Nicht allein das Wetter, das sich von seiner besten Seite zeigte, so dass jeden Tag am Strand mit Meerblick trainiert werden konnte, ließ auf Mallorca den Winter total vergessen. Es gab außerdem ein Trainingsangebot, das alles bisher Dagewesene übertraf und öffentliche Generalproben, bei denen klassische WingTsun-Formen einen maßgeblichen Anteil hatten. Doch der Reihe nach …

WingTsun

Der Tag begann wie immer um 9.30 Uhr – es ist ja Urlaub – mit WingTsun-Unterricht bei den drei Meistern Andreas Groß, Oliver König und Giuseppe Schembri. Sie stimmten mit Soloformen, Schülergradprogrammen und Partnerformen auf das nach einer Stunde bei Großmeister Keith R. Kernspecht beginnende WingTsun-Abenteuer ein und das teils sogar zweimal am Tag. SiFu besuchte die einzelnen Trainingsgruppen und passte die Trainingsaufgabe den jeweiligen Graduierungen an.
Bei den Technikern nahm er einen Baustein aus dem Partnerformablauf und experimentierte bzw. ließ mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten experimentieren; denn die Partnerformabläufe sind zwar als Spickzettel gut geeignet, aber so wie man bei einem guten Vortrag frei sprechen und nicht ablesen will, um auf die Zuhörer einzugehen, sollte man auch im Kampf auf den Gegner „hören“, damit man das Problem nicht mit Kraft lösen muss. GM Kernspecht führte im Unterricht exemplarisch an der 3., 4., 5., 6. und 7. „Sektion“ ChiSao sowie an den BiuDjie- und Holzpuppen-Partnerformen vor, mit welcher wissenschaftlichen Methode (Fragmentation!) man sie trainieren muss, damit sie nicht nur das Gedächtnis trainieren, sondern die Selbstverteidigungsfähigkeit verbessern und entscheidenden Tastsinn und Timing produzieren.

Escrima

Dazu gab es dieses Jahr erstmals auf Mallorca Escrima-Unterricht bei Großmeister Bill Newman. Trotz der eigentlich „ungünstigen“ Zeit nach der Mittagspause schaffte er es immer wieder, die Escrimadores und die, die es werden wollten, zu begeistern und die Mittagsschläfrigkeit zu vertreiben. Es war Aufmerksamkeit gefordert: nicht nur in Bezug auf den Gegner, sondern in erster Linie für die eigene Unversehrtheit. Deshalb war ein wichtiger Punkt, hinter der eigenen Waffe zu bleiben, um sie so gleichzeitig zum Angriff und als Schutzschild nutzen zu können. Außerdem wurde die gerne vernachlässigte freie Hand aus ihrer Schläfrigkeit geholt, indem sie immer als erste ihre Schutzposition vor dem Mund einnehmen durfte.

ChiKung

Hinzu kam täglicher ChiKung-Unterricht mit den zwei altbewährten und erfahrenen ChiKung-Teammitgliedern Sifu Regula Schembri und Sifu Alfred-Johannes Neudorfer. Aber hier gab es die erste öffentliche Generalprobe am Strand. Hatte man sie im letzten Jahr ausschließlich mit dem Langstock trainieren sehen, stand sie in diesem Jahr an einem Nachmittag überraschend vor der ChiKung-Schülergruppe und leitete sie an: Sifu Petra Weipert. Sie erweitert die bestehende ChiKung-Führungsgruppe als neues Mitglied zu einem fünfköpfigen Team. Befragt dazu, wo sie ihren ChiKung-Schwerpunkt sieht, meinte sie als Kurzfassung: „Für mich bieten die WingTsun-Formen eine Fülle an Bewegungsmöglichkeiten, die unter dem ChiKung-Aspekt hervorragend variiert werden können.“
Anlässlich ihrer offiziellen ChiKung-Premiere auf dem Internationalen Lehrgang in Hockenheim wird die WingTsun-Welt-Redaktion ausführlicher über das neue Teammitglied Sifu Petra Weipert berichten.

BlitzCombat

Am Donnerstag gab es dann die nächste überraschende Neuigkeit. Großmeister Kernspecht ließ noch vor der üblichen Mittagspause alle Lehrgangsteilnehmer zusammenkommen, aber nicht, um mit Aufstellung und Verbeugung das Training zu beenden, sondern um das Wort seinem aus der Kämpferschmiede von Mario Janisch (6. PG) stammenden Privatschüler Sifu Stefan Crnko (39) einem angehenden 5. PG WingTsun, „Käfigkämpfer“ und Instruktor polizeilicher und militärischer Spezialeinheiten, zu erteilen.
Ein bisschen ins kalte Wasser geworfen, was die Vorstellung des Programms betraf, aber inhaltlich umso fundierter, begann Sifu Stefans öffentliche Generalprobe.
Er machte zunächst den Unterschied zwischen Sport und Realität auf der Straße deutlich. Bodenkampf ist für das sportliche Kampftraining und sportliche Wettkämpfe unumgänglich: „Wenn du dir so die Kämpfe anschaust, nach 10-20 Sekunden sind die meisten auf dem Boden. Dadurch wird es zur wichtigsten Sache für den Sportaspekt.“
„Für meine Arbeit, für die Selbstverteidigung oder für Polizei und Militär eher weniger“, stellte er fest. „Ich habe es noch nicht oft erlebt, dass auf der Straße jemand einen zu Boden geschlagen hat, sich dann zu seinem Kontrahenten auf den Boden wirft und dort weitermacht. Da kommen eher die Füße zum Einsatz und der Am-Boden-Liegende wird getreten.“
Weiterhin gab er zu bedenken: „Wer will schon wirklich Bodenkampf in der Disko machen und sich, gestylt im Party-Outfit, in Zigarettenstummeln, Bierlachen und Glasscherben wälzen? Und was man nicht vergessen sollte, Asphalt auf der Straße oder die klebrigen, schmutzigen Diskoböden rutschen nicht so gut wie die Matten im Trainingsraum. Also sind schon viele schöne Techniken nicht durchführbar. Wo bitte ist da der Spaßfaktor oder der sportliche Aspekt??? Ich kann da keinen erkennen. Wie gesagt, in der Halle auf Matten für den sportlichen und konditionellen Aspekt ist es sicher eine super Sache. Besser als Joggen oder Radfahren.“
Was Stefan dann am Boden zeigte, auf oder unter seinem Gegner, war mehr als überzeugend. Stefan ließ sich nicht auf Ringen am Boden ein. Er beherzigte die Worte, gegen die heute fast alle verstoßen: „Boxe nicht gegen einen Boxer und ringe nicht gegen einen Ringer“. Und – Stefan appellierte an den Stolz der WingTsunler: „Ihr habt es nicht nötig, Euch Techniken aus anderen Stilen abzuschauen, um am Boden zu bestehen. WingTsun hat alles, was erforderlich ist!“
Interessant war die Tatsache, dass er dabei immer wieder auf „simple“ Bewegungen aus den WingTsun-Soloformen hinwies. Und bei den praktischen Vorführungen stellte er auch unter Beweis, wie niederschmetternd – im wahrsten Sinne des Wortes – Bewegungen aus den Formen sein können.

Stefan Crnko, der Mann der beinharten Praxis, hinterließ bei keinem der Anwesenden Zweifel daran, dass klassisches WingTsun mit minimalen Modifikationen für den knallharten Praxiseinsatz auch am Boden tauglich ist und dass die Formen – in Verbindung mit den Prinzipien – eine Fülle von Möglichkeiten bieten.
Dieser Anti-Boden-Lehrgang durch „Cagefighter-Stefan“ war der erste offizielle, dem weitere in der Reihe von BlitzCombat-Veranstaltungen, für die ein EWTO-Team kampferfahrener Spezialisten als Lehrer zur Verfügung steht, folgen werden. Näheres dazu erfahren interessierte Schulleiter in unserer EWTO-Zentrale.

Bilanz

Mallorca hat gezeigt, wie vielfältig die Formen einsetzbar sind und wie unverzichtbar sie für den Unterricht sind.

„In der großmeisterlichen Galaxie“, um es mit den Worten DaiSifu Schembris zu sagen, gelten dann allerdings andere Maßstäbe, z.B. die Formlosigkeit, von der im Taoismus immer die Rede ist.“
Bei so viel WingTsun, Escrima und ChiKung wurde trotzdem noch pünktlich ab 17.00 Uhr jeden Tag Volleyball gespielt und abends in der Disko das Tanzbein geschwungen. Da fiel es wahrlich nicht schwer, auf Mallorca den vergangenen Winter zu vergessen.

Text: hm
Fotos: hm/Jérome Gravenstein