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„Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Kasper Lund Nielsen“

Sifu Kasper Lund Nielsen, 4. TG WT, Nationaltrainer für Dänemark, zur von Großmeister Kernspecht angestoßenen Diskussion zum Stellenwert des Chi-Sao innerhalb des WingTsun ...

WingTsun: Nicht bloß Kampf-Sport, sondern Kampf-Kunst!


Lieber Si-Fu,

während die Werbung bereits seit einigen Jahren Kunden mit Sprüchen wie „Back to Basics“ oder „Reduce to the Max“ offenbar mit großem Erfolg anzusprechen vermag, und Ratgeber, die dem Leser dabei behilflich sein sollen, sein zu kompliziert gewordenes Leben zu vereinfachen, wie warme Brötchen über die Tische der Buchhandlungen gehen, entwickelt sich - dank Deiner aktuellen Bemühungen, und vor allem im Zusammenhang mit Deiner Fokussierung auf das „Einpflanzen von Reflexen“ im Chi-Sao - auch unsere Kampfkunst in Richtung einer Optimierung durch Besinnung auf die eigenen Wurzeln.  Diese Entwicklung freut mich als Purist ganz besonders. Im Leben entwickelt sich alles, verändert sich stetig. Manchmal gilt es diesen Lauf freizugeben. Manchmal aber, muss auch auf die Bremse getreten werden. Oder mit einem Bild gesprochen: damit ein Heißluftballon steigen kann, muss er zuerst seine Gewichte ablassen.

Meine eigenen Gedanken zum Chi-Sao- und Formen-Training hatte ich vor einigen Jahren in meiner Arbeit zur Erlangung des 3. Technikergrades WingTsun ausführlich dargelegt. Nachfolgend ein kurzer Ausschnitt aus dieser Arbeit:

„Für das Erlernen des WingTsun zentral ist die Bildung und Festigung von Bewegungsentwürfen auf neuronaler Ebene. Diese vorprogrammierten Bewegungsprogramme erlauben es uns einerseits, unseren Arbeitsspeicher mit anderen Informationen und Gedanken zu speisen; daneben können die Bewegungen automatisch (...) starten, was bei der vom WingTsun in gewissen Situationen geforderten Schnelligkeit von besonderer Bedeutung ist. Die Stabilität solcher Schemata kann nur durch die Unveränderlichkeit einer beschränkten Anzahl von Grundelementen gewährleistet sein. In diesem Sinne sind unsere Formen zu verstehen, sie bilden zusammen die Grammatik unserer Kampfkunst und jede der in ihnen enthaltenen Bewegung ist ein Begriff unserer gemeinsamen Sprachbasis (...) Die wichtigste Leistung für uns ist die Begriffsbildung. Im klassischen Unterricht setzt dies ein Lehrer folgendermaßen um: er zeigt dem Schüler eine Bewegung oder die Abfolge mehrerer Bewegungen, er beantwortet dessen mögliche Fragen und lässt ihn das Gesehene üben. Ich habe beschrieben, dass mechanisches Lernen sinnlos ist, ein Schüler, welcher nur „nachäfft“, lernt nichts Neues. Vielmehr muss er – ausgehend vom motorischem und psychischem Vorzustand seines Körpers – den Lernstoff (...) mit vorhandenem Vorwissen verknüpfen. Genau dieser Punkt zeichnet das WingTsun aus: Jeder Mensch kann es lernen, denn wir bauen auf den psychomotorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten normaler Menschen auf. Im Verlauf des Studiums unserer Kampfkunst verändert sich dieses Vorwissen von den üblichen Fertigkeiten des Körpers und des Verstandes zu mehr und mehr raffiniertem Können, die Formen schulen uns nach und nach, und sie bauen aufeinander auf. Der zweite wichtige Aspekt, den ich angesprochen habe, ist die Fähigkeit, konkrete Probleme lösen zu können, denn eine wunderbar ausgeführte Biu-Tze-Form alleine macht uns noch nicht zu einem guten Kämpfer. Erstens ist es unsere eigene Erfahrung, die uns lehrt, wie wir uns in möglichen Kampfsituationen zu verhalten haben, wobei es natürlich nicht sinnvoll ist, regelmäßig handgreiflichen Streit zu suchen, um sich diese Erfahrung anzueignen. Zuerst lernen wir bestimmte Verhaltensweisen durch Rollenspiele im Training, aber noch viel wichtiger ist die Tatsache, dass das gesamte System des WingTsun auf „Erfahrung“ basiert. Ich erfahre durch das Üben meiner Formen und deren Anwendungen in einem abstrakten  Rahmen meinen Körper UND den Körper, die Bewegungen, die Gedanken sowie die Absichten meines Partners kennen“. (Kasper Lund Nielsen, Auszug aus der Arbeit zur Erlangung des 3. Technikergrades WingTsun, eingereicht am 10.10.2002)

Eine kurze Bemerkung zum Schluss: WingTsun ist - meiner Ansicht nach - nicht ein Kampf-Sport, es ist eine Kampf-Kunst. Und Kunst besteht aus mehr als einigen mehr oder weniger subtilen und perfektionierten Techniken. Das „gewisse Etwas“ ist es, was das Besondere, das Faszinierende, einer Kunst ausmacht, in unserem Fall das Fühlen und Handeln auf mentaler ebenso wie auf körperlicher Ebene. In diesem Sinne danke ich Dir dafür, lieber Si-Fu, dass Du unsere Kunst, ihre Kraft und ihre Schönheit, durch Dein unermüdliches Engagement zu einem Erlebnis und zu einer Freude werden lässt.

Herzliche Grüsse!

To-Dai Kasper Lund Nielsen

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