„Lieber Besserkönner als Besserwisser – Christoph Bürk“
Neuschwanstein auf dem Hühnerei
Lieber Si-Fu,
im Laufe des gestrigen Privatunterrichts hast Du uns, Sifu Xaver Hörmann 5.PG, Sifu Bodo Seibold4.TG und mir ausführlich erläutert, dass die Ausbildung der vier sog. „Semi-Reflexen“ im Leung Ting WingTsun eine bedeutendere Rolle spielt, als weitläufig angenommen. Würde ein WT-Praktizierender über die Fähigkeit verfügen, diese vier Passiv-Bewegungen tatsächlich taktil und reflexartig ausführen zu können, wäre er zweifelsfrei in der Lage, sich den aggressiven Berührungen im Sinne der meisten geläufigen Angriffe vollständig zu entziehen.
Dabei geht es hauptsächlich darum, aus der Krafteinwirkung einer fremden Person gänzlich zu verschwinden, die fremde Kraft 100%ig los zu werden. Die Kraft des Gegners aufzunehmen bzw. die Kraft des Gegners gegen ihn selbst zu richten steht an zweiter oder nachfolgender Stelle. Doch wie erlernt man die geniale Fähigkeit, genau diese Bewegungen (Bong-Sao, Taan-Sao, Jum-Sao, Kao-Sao) an jedwedem Punkt und dazu noch „semi-reflex-taktil“ anzuwenden. Dieser Kampf um Gelenkpositionen, Winkel, Spannungszuständen der eigenen und fremden Muskulatur und um die Besetzung der Zentrallinie zeigt sofort die persönlichen Grenzen auf und stellt den WT-ler vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Doch offensichtlich gibt es auch für dieses Problem eine entsprechende Lösung, denn es existieren Personen, welche über dieses besondere Können verfügen, welche vielleicht in jedem Gelenk ein Bewusstsein besitzen, das sie in die Lage versetzt genau zum richtigen Zeitpunkt, genau die passende Gelenkposition einzunehmen mit der präzisen Koordination, kombiniert mit einer souveränen Leichtigkeit um die Kraft des Gegners vollständig zu absorbieren.
Doch liegt meiner Meinung nach wie immer der Fluch in erster Linie im Ego der eigenen Persönlichkeit, doch vielleicht auch im WingTsun-System selbst. Wenn ich von mir selbst ausgehe, ertappe ich mich immer wieder, dass ich mich mehr für die „hohen“ WT-Programme interessiere und deutlich mehr an der Holzpuppe trainiere, als dass ich mich auf den Kern, die Basis der Sache konzentriere. Offensichtlich spielt dabei Enthusiasmus und sicherlich auch Fanatismus eine große Rolle, doch sollte man sich stets etwas bremsen und nicht den toten Techniken blindlings hinterher rennen und dem „Sektionen-Tanz“, der „2-Mann-Form“ zu viel Bedeutung zukommen lassen. Ich möchte in keinster Weise am WT selbst, an den Formen, am Chi-Sao oder gar an der Unterrichtsmethodik Kritik üben, doch habe ich WingTsun stets als Prinzip, als Mittel des Ausdrucks erlebt und nicht als die Summe toter Techniken (ob ich das genauso mache, lass ich mal dahingestellt, davon bin ich meilenweit entfernt).
Immer wieder höre ich von Schwarzgurt- und hohen Dan-Trägern persönlich, dass sie „auf der Strasse nichts anwenden konnten“. Das Problem liegt allerdings meines Erachtens darin, dass der Schüler zu Beginn seiner Kampfkunst(-sport)-Laufbahn den Weg über die „tote“ Technik gehen muss. Wie soll er denn auch fremde Bewegungsabläufe und neuartige Koordinationsmuster erlernen, wenn nicht auf dem Weg der Imitation und des Kopierens des Lehrers?
Im WingTsun geschieht dies genauso. Der Schüler lernt dadurch, dass er vom Lehrer „Grundtechniken“ imitiert, welche er im Unterricht vorgesetzt bekommt, bzw. welche er glaubt erkannt zu haben. Diese Methode geschieht dabei in den niedrigeren Schülerprogrammen bis zum Unterricht in Technikersektionen und Biu-Tze oder Holzpuppenformen.
Doch dabei schaufelt sich der Lehrer sprichwörtlich sein eigenes Grab, denn wer „nur“ Techniken unterrichtet, wird von seinen eigenen Schülern logischerweise nach diesen Techniken beurteilt und gewertet. Ich höre meistens von Seiten der Schüler, dass derjenige Lehrer der Beste ist, welcher die meisten Techniken unterrichtet, dass der Lehrgang der Beste war, an dem sie die meisten Techniken gelernt haben oder, dass der Unterricht der „Tollste“ war, weil sie besonders viele Techniken, Variationen, Ornamente oder sonstigen „Schnick-Schnack“ gelernt – gesehen haben. Anders herum möchte auch der Lehrer für seine Schüler ein guter Lehrer sein und unterrichtet deshalb viele Techniken und noch mehr Variationen um die dadurch entstandene „Gier“ nach noch mehr Techniken zu stillen oder sein Ego zu streicheln oder nur um seine Schüler bei der Stange zu halten und damit auch seine Schule voll zu bekommen. Auch das ist eine Kehrseite des Berufes „WT-Lehrer“, wenn der Enthusiasmus der monetären Zwangslage weichen muss.
Doch was nützen mir die „tollsten Techniken“, wenn ich sie nicht anwenden kann? Ich persönlich halte die Basis einer Kampfkunst (jap. Kihon), den Kern der Sache für das Allerwichtigste. Ich hoffe für mich, dass ich irgendwann in ferner Zukunft vielleicht auch den Punkt erreiche, an dem ich alle „Techniken“ vergessen und über Bord werfen kann, um nur noch den „Kern der Sache“ auszudrücken. Nur dann zeigt sich, ob es sich jahrelanges Training und Studium gelohnt haben.
„Wenn ihr das physische Training abgeschlossen habt, wendet euren Blick nach innen und seht, welchen Schaden eure Psyche, eure Seele und euer Herz genommen hat!“ (Stephen K. Hayes).
Ich halte es für außerordentlich wichtig, in der Kampfkunst für überlebensnotwendig, die Basis zu schulen und seine Konzentration gänzlich auf die Mitte zu richten. Meines Erachtens ist, im Gegensatz zur obigen Erläuterung des „guten Lehrers“, derjenige Lehrer am geeignetsten, wer Qualität in Quantität verbergen kann, das bedeutet, der Schüler bekommt einen Einblick in die Quantität des WingTsun (ob das überhaupt möglich ist, sei an diesem Punkt dahingestellt) und übt ohne sich darüber bewusst zu sein den Kern, die Qualität des Systems. Dies ist auf der einen Seite bedauerlich, andererseits allerdings sehr gefährlich.
Bedauerlich deshalb, denn es ist eine Eigenheit der westlichen Gesellschaft, nach Sensation und actiongeladenen Situationen zu gieren. Von den Schülern wollen die meisten sofort ans „Eingemachte“, Sparring, Anwendungen, Kombinationen, etc.
Gefährlich wird es dann, wenn wir den Schwerpunkt nach diesen Bedürfnissen ausrichten und nur noch skurrilen Technikvariationen und wilden Anwendungstaktiken nachjagen. Wenn unsere Schüler ihre „Techniksammlungen“ vergleichen um ihren Rang innerhalb der Gruppe darzustellen und ihre Lehrer danach beurteilen, wie viele verschiedenen Techniken sie beherrschen und unterrichten, haben wir den Gipfel des Qualitätsverlustes erreicht (dann geht's nur noch abwärts).
Die vier „Kernbewegungen des WingTsun“ (Bong-Sao, Taan-Sao, Jum-Sao, Kao-Sao) auf eine Art und Weise zu trainieren, dass diese ähnlich eines Reflexes zustande kommen bzw. gebildet werden können, ist für jemanden, der actiongeladene Akrobatik sucht, nicht geeignet. Der Kampf um Winkel und Positionen, um die Besetzung der Zentrallinie und ihre Räume um sie herum, ist nur mit langsamster Geschwindigkeit und unter voller Konzentration auf Koordination und Bewusstsein möglich.
Dadurch wird dieses Trainingsmethode für den Schüler nicht besonders attraktiv, denn ein Verständnis für den Ansatz einer Bewegung bildet sich erst nach Jahren des Trainings.
Die meisten Schüler, die ich kenne trainieren lieber Lat-Sao-Sparring als einarmiges Chi-Sao (was allerdings abhängig ist von der Motivation seitens des Lehrers).
Es wäre meiner Meinung auch fahrlässig unseren Schülern die Illusion zu vermitteln, sie kämen mit dem typischen Straßenschläger zurecht, würden wir ihnen ausschließlich Chi-Sao vermitteln. Dadurch wird ansatzweise deutlich, dass auch der Unterricht diverser Techniken seine Berechtigung aufweist.
Die Laufbahn eines WingTsun-lers ist geprägt von verschiedenen Phasen: Härte, Weichheit, Kraft, Schnelligkeit, Elastizität, Stabilität, Sensibilität, Spannung, usw. Erst, wenn man alle Phasen trainiert und erlebt hat, bildet sich ein in sich geschlossener Kreis (oder eine mehrdimensionale Kugel). Allein die geometrische Eigenheit einer Kugel verdeutlicht, dass es jederzeit und schnellstens möglich ist, den Kern zu erreichen. Genauso, wie ein WT´ler in Lage sein sollte, seine vier Semi-Reflexe taktil jederzeit und an jedem Punkt der jeweiligen Situation anpassen zu können.
WingTsun zu erlernen lässt sich vielleicht mit dem Erbauen eines Palastes oder einer Burg vergleichen. Jede Technik, jede Schrittarbeit, jede Form ist ein Stein, ein Fenster oder ein Turm unseres persönlichen WT-Schlosses.
Doch sollten wir uns davor in Acht nehmen, zu viele Türmchen, Fenster, Gauben und besonders auffällig ausladende Gebäudeteile anzubauen und dabei das Fundament außer Acht zu lassen. Kein Schloss steht besonders stabil und lange auf einem Hühnerei. Dieser Text beinhaltet zum Teil meine eigene Meinung und meine persönliche Sicht bezüglich diverser Problematiken und Situationen. Ich entschuldige mich im voraus, sollte sich jemand dadurch beleidigt, oder auf den Schlips getreten fühlen. Gerne bin ich bereit zu den oben angeführten Punkten persönlich Stellung zu nehmen.
„Wahre Worte sind nicht schön – schöne Worte sind nicht wahr“ (Lao Tse)
Viele Grüße aus dem herbstlichen Allgäu,
Dein To-Dai
Christoph Bürk, 3. TG WT
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