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„Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Michael König“

Sifu Michael König, 4. TG WT, zur von Großmeister Kernspecht angestoßenen Diskussion zum Stellenwert des Chi-Sao innerhalb des WingTsun ...

Ich war nur ein Sektionsjäger


Hallo Si-Fu,
seitdem ich bei Dir Privatunterricht bekomme (was ich schon immer wollte, aber so fern war, dass ich es nie für möglich hielt), beschäftige ich mich damit, wie man das Erlebte zu Papier bringen könnte.
In Deinem Editorial bringst Du es auf den Punkt: Als ich mit dem Privattraining bei Dir anfing, war mein wichtigster Gedanke das Erlernen von Sektionen.
Mit Beginn der 1. Stunde bei Dir als frischgebackener 4. TG, hast Du mich aber schon in die Richtung gelenkt, dass es die Sektion als feste Bewegungsfolge eigentlich nie gegeben hat und sie daher von der Wichtigkeit überschätzt wird.
Zugegebenerweise fiel es mir schwer, Deine vorgegebene Richtung, nämlich freies Chi-Sao zu üben, zu folgen. Im Grunde genommen war ich ein Sektionsjäger. ich fand es schön, die Sektionen und Varianten der gleichen zu erlernen und mehr zu wissen als andere.
Es ist meiner Meinung nach auch immer noch, zwar von viel geringerer und anderer (!) Bedeutung wichtig, eine ggf. standardisierte Sektion zu üben, da der Schüler eine gewisse feste Grundlage braucht.
Problematisch ist der Standard jedoch, da sich jeder Mensch anders anfühlt und daher anders angreift. In sofern wird und kann es nie eine 100prozentig gleiche Sektion geben. Schon gar nicht in jeder Schule, da jeder Lehrer ein anderes Verständnis oder Wissen über die Sektion hat.
Da ich seit Jahren das gute Schlosstraining bei Sifu Thomas Schrön genieße, habe ich ein relatives Wissen über die jeweilige Sektion. Vielleicht kann ich daher auch das freie Training mit Dir besser beurteilen.
Wenn ich die Sektion, wie Du es sagst, als Zweimannform bezeichne, macht sie vom Üben her Sinn. Problematisch ist es jedoch trotzdem, da jeder Mensch sich anders anfühlt, angreift, körperliche Kraft- und Größenunterschiede hat. Das hat zur Folge, dass ich eben nicht den Standard aufstülpen kann. WT war schon immer rebellisch und unangepasst und deshalb für sich erfolgreich.
Vielleicht würde eine Standardisierung von Bewegungsabläufen einen Stillstand bzw. Rückschritt zur Folge haben, da der Standard alleine starr und tot ist.
Mein Motto ist, freie Geister können sich nur bei freien Möglichkeiten entwickeln.
Wie gesagt, alles, was ich hier so niederschreibe, habe ich Dir und Deinem Unterricht zu verdanken. Ich wäre von alleine nie darauf gekommen. Insofern haben sich meine Gedanken und das Verständnis über Chi-Sao (also WT) durch Deinen Chi-Sao-Unterricht wahnsinnig verändert.
Seit Jahren besuche ich Lehrgänge von Dir. Eine ganze, komplette Sektion hast Du bislang selten unterrichtet. Ich verstand damals nie so richtig warum, kann mich aber, auch heute noch, an viele Details Deiner Lehrgänge erinnern. Selbst an Lehrgänge, die schon 10 (!) Jahre her sind.
Manche Sektionsvariante allerdings vergaß ich schon nach kurzer Zeit. was natürlich auch daran lag, dass man für höhere Sektionen oftmals keinen Trainingspartner hat.
Doch alleine der Gedanke eine Sektionsvariante zu vergessen, schaffte bei mir ein Gefühl der Unsicherheit, wobei Unsicherheit ein Gefühl ist, was ich bei Selbstverteidigung nicht gebrauchen kann. Sicherheit schafft Selbstvertrauen. Daher sollte und muss jeder, schon der 1. SG, Sicherheit empfinden.
Da ich zur Zeit monatlich mindestens einmal (manchmal sogar zweimal) eine doppelte Stunde mit Dir genießen (!) kann, habe ich einen offenen Geist behalten oder wieder bekommen. Bei jeder Stunde mit Dir stehe ich vor Dir und versuche mittlerweile nichts zu erwarten, sondern entsprechend dem Angriff zu reagieren, da ich die Abwehr nie hinbekomme, analysierst Du mit mir den Angriff und die resultierende Abwehr. Alleine diese Analyse und die dabei von Dir geäußerten Gedanken (denn Du denkst laut zum Mitdenken!) bringen mich unglaublich voran.
Die Vielfältigkeit eines Angriffs und die entsprechende Vielfalt der Abwehr lassen für mich nur den Schluss zu, dass eine bewusst gedankliche Abwehr zeitlich nicht möglich ist. Lediglich durch das Körpergefühl wäre eine angepasste Abwehr möglich.
Bei einem Deiner Unterrichte wog ich gut 98 kg. Ich muss dazu sagen, dass ich mindestens 3-4 Mal in der Woche Krafttraining mache und vielleicht nicht der Schwächste bin. Du allerdings hast bei einer Stunde 69 kg gewogen. Trotzdem hast Du mich meterweise durch den Raum geworfen. Klar hatte mich das frustriert. Dies aber positiv!
Bei der langen Heimfahrt (die dauert!) dachte ich mir, wie kann das sein? Weder Zauber, noch sonst mysteriöse Dinge können das bewirken. Unser WT ist schließlich wissenschaftlich und daher analysierbar.
Jede Privatstunde schrieb ich mir später auf. Das neu Erlernte floss umgehend in den Unterricht ein. Ich kann sagen, das Wissen hatte und hat einen ungeheueren Einfluss auf meine Gedanken und daraus resultierend auf meinen eigenen Unterricht als Lehrer.
Neues Wissen kann man nicht verbergen, da es einen verändert.
Bei dem Unterschied von fast 30 (!) kg + unserem Altersabstand müsste jedem Außenstehenden klar sein, dass die Kraft (vielleicht aus der Sichtweise, wie wir sie interpretieren, nämlich sportlich und meist jung) im WT keine Bedeutung hat, sondern eher ein Nachteil ist.
Ich habe beim Schreiben dieser Zeilen natürlich einen großen Nachteil, denn ich kann das Körpergefühl und die Gedanken, die mir kommen, seit ich bei Dir lerne, nicht alle transparent rüberbringen.
Das ist ein großer Nachteil für mich, da es für mich nicht möglich, vielleicht auch mit Worten unbeschreiblich ist.
Vielleicht kann ich es anhand von Unterrichtserfahrungen mit Schülern verständlicher machen: Ich habe Privatschüler vom 11. SG bis hin zum 3. TG. Bislang hatten wir immer und mit viel Spaß standardisierte Sequenzen geübt.
Durch Deinen Unterricht und Deine ausgesprochenen Gedanken veränderte sich jedoch auch meine Unterrichtsmethode (nicht nur beim Privattraining).
Einigen schülern fiel es schwer, dass sie nicht Sektionsvariante xyz mit mir trainieren konnten. Andere wiederum waren von den freien Übungen sofort begeistert. Da ich am freien Üben festhielt, mussten alle ähnlich mit mir trainieren, so wie ich mit Dir.
Für mich war es erstaunlich, dass ich mit fast dem gleichen Angriff, Schüler von 11. SG bis 3. TG angreifen konnte und kein Angriff abgewehrt wurde.
Ähnlich wie Du es in Deinem letzten Editorial beschriebst (laut Zeugenaussage), griff ich fast alle gleich an und keiner konnte abwehren.
Zum Thema Überlegenheit kann ich hier nur eins sagen: ziemliche Überlegenheitssteigerung.
Dies sollte und muss zu denken geben. Denn nur die Effektivität der Kampfkunst sollte uns von Bedeutung sein.
Im Taoismus wird davon ausgegangen, dass wenn man ein oder zwei Blätter eines Baums betrachtet, die übrigen Blätter bedeutungslos sind. Doch der ganze Baum ist von Schönheit und Bedeutung. Betrachtet man nur ein oder zwei Blätter, fehlt der Sinn für die restlichen Blätter.
Auch taoistisch ist, wenn Du tausend Arme hast, aber nur zwei nutzt. Wozu sind dann die anderen von Bedeutung?
Das muss auch im WT weiterhin so bleiben. Das Ziel ist, zu überleben im Kampf. Sonst nichts.
Ich finde Deinen Unterricht befreiend, da nicht tote Bewegungsfolgen im Vordergrund stehen. sondern das Ziel.
Formen, Schritte, Drills, Lat-Sao und Chi-Sao sind Mittel, aber nicht das Ziel. das Ziel ist der Sieg. Der Angreifer kann der größte Primitivling sein und trotzdem siegen.
Diesen Gegner gilt es zu besiegen.


Michael König
4. TG WT

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