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„Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Stephan Bollen“

Sifu Stephan Bollen, 2. TG WT, 3. TG E, zur von Großmeister Kernspecht angestoßenen Diskussion zum Stellenwert des Chi-Sao innerhalb des WingTsun ...

Wie heißt es doch so schön: Weniger ist mehr

Lieber Si-Fu,
ich habe das Glück, dass ich keinen direkten Lehrer vor Ort habe, der mir bei Fragen und Problemen zur Seite steht. Ich betrachte dies als Glück, da ich somit gezwungen bin, die Techniken und Trainingsmethoden selbst zu hinterfragen und zu analysieren. Würde ich immer eine vorgegebene Antwort meines Lehrers erhalten, würde dies dazu führen, dass ich mir keine oder nur wenige eigenen Gedanken dazu machen müsste. Ich habe zudem das große Glück, einen guten Trainingspartner zu haben, mit dem ich hervorragend über die Techniken, Abläufe, etc. diskutieren kann, da er ebenso kritisch ist. Natürlich komme ich nicht ohne den Unterricht von Dir oder anderen hochrangigen Lehrern im Rahmen von Lehrgängen, Kleingruppen oder Privattraining aus. Dadurch bekomme ich immer wieder wichtige neue Impulse und Ideen.

Jetzt möchte ich ausführen, inwieweit Deine aktuellen neuen Impulse über das Verständnis des Chi-Saos mein Chi-Sao, bzw. dessen Umsetzung mit Schülern verändert. Erst einmal möchte ich sagen, dass mir die Reduzierung der Bewegungen zurück auf das Wesentliche sehr entgegenkommt. Natürlich könnte ich die Abläufe schneller und dynamischer ausführen, um Fortschritte im Training zu erzielen. Meinem Erachten nach führt dies allerdings dazu, dass mein Trainingsschwerpunkt auf den Techniken liegt. Ein Ziel sollte es ja eigentlich sein, sich von dem Diktat der Technik zu befreien und eine Umsetzung der Konzepte zu erwirken. Es geht als nicht darum, WAS ich mache, sondern WIE, bzw. WARUM ich es mache. Wenn ich in den Techniken gefangen bin, kann ich nicht adäquat auf Veränderungen der Kampfsituation reagieren und mich den Geschehnissen anpassen. Diese Betrachtungsweise der Dinge habe ich auch dem Escrima-Training zu verdanken. Auch dort lernt man am Anfang Techniken, bzw. Formen (ich sehe die Chi-Sao-Sektionen auch als Formen), allerdings befreit man sich im Laufe der Trainingsentwicklung von diesen starren Formen, um im Kampf frei agieren zu können. Somit stellt sich die Frage, ob das Sammeln von Sektionen und deren verschiedenen Variationen wirklich zu dem Erfolg führt, den man gerne haben möchte. Ich denke nicht. Wie heißt es doch so schön: Weniger ist mehr.

Ich bin der Meinung, dass die Variationen der Sektionen dazu führen, dass der Schüler immer mehr verwirrt wird. Er ist so stark mit den Abläufen beschäftigt, dass er nicht mehr dazu kommt, den eigentlichen Grund der Bewegung zu erkennen. Und auf dem nächsten Lehrgang ist die Sektion wieder etwas anders. Begründet werden diese Variationen mit Neuerungen oder Aussagen wie „das ist die alte Sektion“. Darüber hinaus wird aber oft vergessen, den Schülern darauf hinzuweisen, warum diese Bewegung nun so ausgeführt wird. In der Regel ist ja nur der Druck des Angriffes ein wenig anders, so dass der Bewegungsablauf nun angepasst werden muss. Der Schüler denkt nun, dass die alte Bewegung falsch ist und trainiert nur die neue. Er beraubt sich der Möglichkeit, beide Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, je nachdem wie der Druck des Angreifers ist. 

Ein anderer Punkt im Chi-Sao, den ich immer mehr bei Dir beobachte, ist der Einsatz des Körpers. Ich bin der Meinung, ich lasse mich aber auch gerne korrigieren, dass im Chi-Sao nicht die Arme, sondern der Körper dem Druck nachgeben. Die Arme verformen sich nur. Im Frühjahr auf dem verschobenen Osterlehrgang aber auch in Bulgarien habe ich festgestellt, dass Deine Arme Dich permanent decken und Du Dich mit Deinem Körper hinter Deinen Arme in Sicherheit bringst. Diese Beweglichkeit des Körpers in Verbindung mit koordinierten Bewegungsabläufen der Arme ist auf jeden Fall ein Ziel, welches ich zur Zeit anstrebe. Auch hier hilft mir das Verständnis vom Escrima weiter. Dort wird bei den Aktionen der ganze Körper als Einheit bewegt, um auf kurze Distanz ein Maximum an Kraft zu erzielen aber auch, um die Deckung nicht aufzugeben. Das WT-Training ist am Anfang sehr armlastig. Somit fällt es dem Schüler schwer, eine Verbindung zwischen Körper und Arme herzustellen.

Diese beiden Schwerpunkte (frühzeitiges richtiges Reagieren und Gesamtkörperkoordination) haben mein Chi-Sao in den letzten Monaten sehr verbessert. Noch Anfang des Jahres war ich mit meinem Chi-Sao und der Kontrolle über meine fortgeschrittenen Schüler sehr unzufrieden. Dieses bessert sich jetzt immer mehr. Ich schaue erwartungsvoll in die Zukunft und freue mich auf die Erkenntnisse, die noch kommen werden.

Liebe Grüße

Dein To-Dai

Stephan Bollen, 2. TG WT, 3. TG E

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