Editorial

Gibt es eine überlegene Technik? – 2. Teil

Von der Wichtigkeit, keine vorgefertigten Techniken zu machen und überraschend zu sein.

Wir fahren fort, gemeinsam von dem 1000 Jahre lang verschollenen und z.T. nur bruchstückhaft auf Bambusstreifen erhaltenen klassischen chinesischen Text zu lernen, der wie das bekannte Strategiewerk von Sun Tsu „Die Kunst des Krieges“ heißt.
Er ist von Sun Bin aus der Zeit zwischen 475–221 vor unserer Zeitrechnung, also einem Nachkömmling von Sun Tsu.
Ich stelle hier den 2. und Schlussteil vor, weil er kaum aufzutreiben ist und das Wesen der andersartigen chinesischen Strategie in knappen Sätzen beschreibt und in dieses uns fremde Denken, wie Wirksamkeit erreicht werden kann, einführt.

„Deshalb kann ein Kampfexperte seine eigenen Nachteile aus den Vorteilen des Gegners zurückschließen. Seine eigenen Schwachpunkte zeigen ihm die Stärken des Feindes. Der Weg zum Sieg liegt so klar vor seinen Augen wie die Sonne oder der Mond. Wie er gewinnt, ist ihm so bewusst, wie er Feuer mit Wasser löschen kann.
Dem Experten ist es sonnenklar, worin seine Chance zu siegen liegt, denn seine Stärke und Aussicht auf Sieg basiert auf der Schwäche des anderen.
Gewöhnliche Kriegsführung gegen gewöhnliche Kriegsführung einzusetzen, nennt man „Zheng“. Benutzt man ungewöhnliche Kriegsführung gegen gewöhnliche, spricht man von 'Qi'.“

Im WingTsun-System würde man unter „Qi“ wohl die ungewöhnliche, weil indirekte und nicht-lineare, Kampfesweise der 3. Form (BiuDjie) verstehen, wenn man sie gegen „gewöhnliche“, bekannte, lineare „Techniken“ aus den anderen Formen einsetzt.

„Es gibt unendlich viele Möglichkeiten des interagierenden Abtausches von Qi und Zheng. Alles kommt nur darauf an, wie man seine Kräfte einsetzt. Man ordnet den einzelnen Kampfeinheiten „Qi“- bzw. „Zheng“-Aufgaben zu und zieht seinen Nutzen aus dem Gesetz gegenseitiger Auswirkungen unter Berücksichtigung der fünf Elemente, um mit dem Gegner fertig zu werden.“
Hier ist die Rede von einem beliebten, aber ziemlich nebulösen Topos der chinesischen Kampfkünste, den sog. Fünf Elementen (Erde, Wasser, Holz, Feuer, Metall), auf denen im Zusammenspiel mit der „Lehre von Yin und Yang“ und der „Pa-Kua-Theorie“ die Harmonie in der Welt beruhen soll. Da die Theorie von den „Fünf Elementen“ und vom Pa-Kua im WingTsun als Aberglauben abgetan wird (so die Auffassung vom chinesischen WingTsun-Großmeister LEUNG, 10. Meistergrad) wollen wir hier auf diese WingTsun-fremden und unwissenschaftlichen Ideen nicht näher eingehen.

„Sobald aber die Aufstellung der Streitkräfte beschlossen ist, nimmt die Kampfstellung Form an; wenn sie Form angenommen hat, ist sie zu erkennen. Und wenn sie erst einmal zu erkennen ist …“
Dieser Satz ist nicht vollständig erhalten, aber wir können ihn problemlos ergänzen: „Wenn die Form erst einmal zu erkennen ist,“ – kann sie besiegt werden.

„Wenn man jedesmal dieselbe Positionierung einnimmt, wird man nicht siegreich sein. Nur wenn man unter verschiedenen Umständen verschiedene Formationen einnimmt, kann man den Feind mit einem Überraschungszug besiegen.“
Hier die deutliche Warnung, vor dem Kampf keine Gestalt anzunehmen, auf die der Gegner sich einstellen kann.

„So vermittele ich dem Feind den Eindruck von Trägheit, um ihn dann zu überrumpeln; den Eindruck von Ermüdung, wenn ich ausgeruht bin; den Eindruck, ausgehungert zu sein, wenn ich wohlgenährt bin; den Eindruck von Verwirrung, wenn alles geordnet ist; den Eindruck, wenig Truppen zu haben, wenn ich tatsächlich über viele verfüge.“
Tarnen und Täuschen, dem Gegner vorspiegeln, was nicht ist und ihm verschleiern, was wirklich ist, das kennt man schon von Sun Tsus „Kriegskunst“

„Jede Aktion, die der Feind erkennt, ist Zheng, jede, die er nicht durchschaut, ist Qi. Der Sieg ist gesichert, wenn der Feind überrascht werden kann.“
Hier wird deutlich, dass eine Aktion nicht aus sich selbst heraus z.B. „Qi“ ist. Die Tatsache allein eine nicht-lineare, indirekte „Technik“ einzusetzen, macht die Aktion noch nicht zu „Qi“. Wird der Gegner nicht davon überrascht, etwa weil das Nicht-lineare für ihn das Übliche, Gewöhnliche ist, dann ist ein Zug, der für lineare Stilisten überraschend („Qi“) wäre, nur „Zheng“, eine Technik, die ihn zum Gähnen reizt, weil er schon tausendmal mit ihr konfrontiert wurde.

„Wenn man gelernt hat, wie man den Gegner durch Überraschungsaktionen besiegt, kann man große Siege erringen.“

Mit diesem Schlusssatz, dem an Klarheit nichts hinzuzufügen ist, wollen wir uns von Sun Bin verabschieden und niemals vergessen, dass nur Überraschung und verblüffende spontane Aktionen der Schlüssel zum Erfolg sind:

  • Kämpfe ich gegen jemand, der WT nicht kennt, dann sind orthodoxe WT-Methoden und sogar vorgefertigte „Angriffs-Techniken“ durchaus ein erfolgreiches, weil überraschendes Mittel.
  • Aber gegen einen anderen WingTsun-Kämpfer wäre das Einnehmen des üblichen WT-Kampfstandes und die Verwendung üblicher WingTsun-„Techniken“ nicht überraschend und somit kein sicherer Weg zum Erfolg. Um gegen einen anderen WingTsun-Kämpfer auftrumpfen zu können, bedarf es entweder eines viel größeren Könnens (z.B. Distanzsinn, Tasten, Timing, Erfahrung) oder überraschender spontaner Aktionen.

Herzliche Grüße

Euer SiFu, SiGung
Keith R. Kernspecht