Editorial

Ein Großmeister muss über den Tellerrand gucken – das ist er seinen Schülern schuldig

Im Sommer hält mich nichts im Haus, da muss ich raus: draußen trainieren, mit unserer Rauhaardackel-Hündin spazierengehen oder meinen alten roten MGA-Roadster bewegen.

Dann entwerfe ich neue Trainingsideen in Straßencafés, auf Bierdeckeln, wobei ich die Schiffe im Hafen betrachte; denn jetzt gerade findet hier die „Kieler Woche“ statt, das größte Segelereignis der Welt. Im Sommer ist Kiel eine großartige Stadt mit ihren vielen Stränden ringsherum.
Abends treffe ich mich meist zu Arbeitsessen mit unseren Mitarbeitern, aber auch gern mit Kampfkunst-Lehrern anderer Stile. Danach poste ich gern auf Twitter (GM_Kernspecht), mit wem ich gerade Rotwein trank und Carpaccio aß.

Anschließend lese ich die mir zugesandten aktuellen Facebook-Ausschnitte und amüsiere mich, welche neuen Gerüchte aufgrund meiner Essens-Fotos oder Tweet-Texte nun über mich weltweit verbreitet werden: Ich erfahre zu meiner Verwunderung, dass ich seit Jahren einen russischen Stil lerne oder auch einen israelischen, dass ich mich zum Sumo hingezogen fühle oder nun wieder zum Karate zurückgefunden habe und dafür mein WT aufgeben will.

An den ersten beiden Gerüchten ist gar nichts. Sumo fasziniert mich schon lange und ich halte es, wie Bodenkampf, für eine exzellente Methode, Rumpfkraft zu entwickeln. Allerdings muss ich mir dafür noch etwas Gewicht anfuttern, zurzeit wiege ich gerade 80 kg.

Karate war tatsächlich einer meiner allerersten Stile, und mein erster Karate-Stil Ende der 1950er Jahre war das super-starke Kyokushin-Karate Masutatsu Oyamas, das vom Goju-Karate abstammt, das u.a. von einer Art WingTsun-Vorstufe abstammt. Mein Freund und KungFu-Bruder aus den 1970er Jahren, der Iraker A. Sharif (Dänemark), war Privat-Schüler von Oyama, bevor ich ihn auf einem Spaziergang durch den Tivoli zum WingTsun bekehrte.
Masutatsu Oyamas groß(artig)e drei Bücher waren wohl die ersten Bücher über Karate in englischer Sprache und nicht nur Bruce Lee, sondern auch mein eigener SiFu waren von diesen dicken Prachtbänden hochbegeistert. Das „Wing Tsun Kuen“ hatte sich die Bücher Oyamas als Vorlage genommen, was Aufmachung, Größe, Einband usw. betraf.
In diesen Büchern kann man immer wieder einen hünenhaften Schüler Oyamas erkennen, den Mas Oyama für unbesiegbar hielt: Jon Bluming. Wenn ihn einer besiegen könnte, wollte Oyama seinen 10. Dan ablegen.
Dazu kam es nie. Bluming (jetzt 81 Jahre) bekam nicht nur seinen 9. Dan im Judo, sondern auch nach Oyamas Tod auch „dessen“ 10. Dan im Karate. Beide Graduierungen gab er sich nicht selbst, sondern erhielt sie in Japan.
Jon Bluming war und ist ein richtig harter Typ, der schon in den 60er Jahren zusammen mit der amerikanischen Judo-/Ringer-Legende Gene LeBell mein „Held“ war.
Als ich herausfand, dass er in den 1960er Jahren mit einem anderen, diesmal chinesischen, „Helden“ von mir „zusammentraf“, den ich auf der chinesischen Seite für den Besten hielt, gab es kein Halten. Ich besuchte Kaicho Jon Bluming, um mehr zu erfahren, um von seinen beispiellosen Trainings- und Kampferfahrungen zu profitieren.
Bluming, der als „Pionier der Mixed Martial Arts“ Judo und Karate (und später Thaiboxen und Sambo) zum „Allround Fighting“vereinte, hielt zu unserem englischen Bachelor-Kursus (Theory & Practise of Martial Arts) einen spannenden Vortrag über die japanischen Kampfkünste (Judo, Karate, Aikido usw.) in den 1960er und 1970er Jahren, dem auch der eigens dafür angereiste Rektor und Vice-Rektor unserer dortigen Universität begeistert lauschten. Und Bluming zeigte uns seine erfolgreichsten Methoden im Stand und vor allem am Boden. Gerade Letzteres fand bei unseren Studenten großes Interesse und wurde darauf in Bulgarien an der Staatsuniversität Plovdiv, mit der wir ein Magister-Studium (in WingTsun!) durchführen, mit 300 Studenten der diversen Kampfkünste fortgesetzt.
Ganz besonders aufschlussreich für das Studium unserer Studenten ist Blumings einzigartige Methode eines wissenschaftlichen Bodenkampfes, der Schlagen und vor allem Kontrolle mit den Unterarmen vereint, und sein bewährter Weg, bei seinen Schülern Kampfgeist (essenzielle Fähigkeit Nr. 7) progressiv zu entfalten.

Es gelang mir, Großmeister Bluming als die für mich höchste lebende Autorität im japanischen Budo und Allkampf, dafür zu gewinnen, meine kampfstarken Schüler zu evaluieren und ihn für weitere Kurse für unsere Studenten und Ausbilder zu gewinnen. Er kann ihnen über eine vergangene Zeit berichten, als die Asiaten noch die Kampfkunstwelt beherrschten.

Natürlich bin ich „meinem“ WT nicht abtrünnig geworden, auch wenn ich einräumen muss, mich auf meine Begegnung mit Kaicho Bluming durch Aufpolieren meiner alten theoretischen und auch praktischen Karate-Kenntnisse sehr gründlich vorbereitet zu haben. Das gilt sogar für die (Kyokushin-)Katas, von denen der kompromisslose Kämpfer Bluming nach eigenem Bekunden wenig hält („Es hat noch nie einen Kata-Champion gegeben, der sich gegen seine Großmutter verteidigen konnte, wenn die einen Regenschirm in der Hand hielt.“)

Ich habe wieder zaghaft, trotz angerissener Schultersehne, mit leichtem Krafttraining begonnen. Nicht, weil ich es für WT benötige, sondern weil ein gepumpter Bizeps beim Cabriofahren meine Eitelkeit fördert.

Gestern lud ich meinen 92-jährigen Cousin Waldemar zum Essen ein. Dabei erwähnte er, dass er noch täglich mehr als 100 Liegestütz in einem Stück macht. Er bewies das an Ort und Stelle, indem er ganz leicht 50 Liegestütz zwischen drei Restaurantstühlen pumpte, bis die „Mitesser“ an den anderen Tischen mit den Fingern auf uns zeigten.

Als Kontrast-Programm zum superharten Oyama-Karate werde ich mich mit meinen chinesischen Freunden nun wieder auf dem Gebiet der inneren chinesischen Stile betätigen. Nicht indem ich von ihnen die „Techniken“ von Tai Ji & Co. lerne, sondern indem ich mein WingTsun mit ihren inneren Methoden konfrontiere: ihr Schubsen gegen meines, mein Ziehen gegen ihres. Von diesen lebendigen, körperlichen Erfahrungen werden die Studenten unserer Universitäts-Studien wie immer als Erste profitieren.

Nach dem Sommer werde ich außerdem wieder ausgiebige Studien in der Heimat des WingTsun, in Asien betreiben. Und ich werde ebenso weitere innere Systeme erkunden, wie mir Prof. Tiwald damals riet.

Ich habe nun auch mein BlitzDefence-Programm wieder besucht, und werde es umfangreich ergänzen und damit der schleichenden weiteren Entartung des von mir so getauften „Ritual-Kampfes“ Rechnung tragen und unsere Schüler noch besser für die wirklich wirkende Realität zu wappnen; denn auch der Ritualkampf ist nicht mehr das, was er einmal war.
Man bringt heute Messer dazu mit oder Helfer, tritt dem Zu-Boden-Gegangenen zum Kopf, was nicht selten tödlich endet usw.

Wie ich es trotzdem schaffen werde, Euch 2015 wieder ein neues Buch  vorzulegen, ist mir noch schleierhaft, aber schau‘n wir mal …

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht