DaiSifu Rainer Tausend

ChiSao – wie ich es jetzt verstehe

Es war mir schon vor vielen Jahren aufgefallen, dass SiFu sein ChiSao „irgendwie anders“ machte als wir. Dies war noch lange, bevor er seine aktuelle Konzeption vor einigen Jahren den Meistern und Technikern vorstellte.
Damals meinte ich, bei SiFu etwas gesehen zu haben, was ich für mich einen „virtuellen“ KaoSao nannte. Zu dieser Zeit konnte ich noch nichts Richtiges damit anfangen. „Wie macht er das?“, fragte ich mich.
Heute weiß ich natürlich, was da geschah: Er machte schon damals nicht einfach einen KaoSao, weil er das wollte, sondern sein KaoSao entstand wie von selbst aufgrund meiner Aktion.
Mir war damals nicht wirklich bewusst, dass ich selbst den winzigen Druck in die Richtung nach außen gegeben hatte und SiFu so und nicht anders nachgebend reagieren „musste“. Noch bevor ich mit meinem Druck nach außen fertig war, hatte mich sein Konter schon getroffen.
Ich wusste immer, dass SiFu sehr schnell ist, aber so schnell hatte ich ihn nie zuvor wahrgenommen.
Dieses Ereignis ist jetzt schon ein paar Jahre her. Damals machte ich mir noch keine richtigen Gedanken über das, was da passiert war. Nur eins fragte ich mich danach: „Wie konnte er nur so schnell sein?“ Seine Muskelfasern können sich nicht doppelt so schnell bewegen wie bei anderen trainierten Menschen! Es gibt hier eine natürliche Grenze. Das war mir beim Uni-WingTsun-Studium nach einigen Vorlesungen klar geworden.
Seine Geschwindigkeit kommt von seiner Umsetzung der WingTsun-ChiSao-Konzeption: von totaler Muskelentspannung, fließenden Bewegungen, flexiblen Reaktionen in allen Situationen, kurzen Bewegungen und keiner Abhängigkeit von eintrainierten, vorgeplanten Abläufen und vor allem von perfektem Timing.
Schon damals war dies das Geheimnis seines ungewöhnlichen Handelns, denke ich. Aber er schien es, zu der Zeit unbewusst zu machen. Er unterrichtete es nicht, sondern hielt sich beim Unterricht nur an die überlieferten Vorlagen.
 
Ich muss einmal an den Anfang meiner WingTsun-Karriere zurückgehen.
Als ich mit WingTsun anfing, war das Erste, was ich vom WingTsun hörte: Der Arm bewegt sich wie eine Peitsche. Er sollte so flexibel wie eine Peitsche sein und so anpassungsfähig wie eine Schlange.
 
Die Schlange hat natürlich einige Gelenke mehr als der menschliche Arm. Trotz dieses Unterschiedes sollte unser Arm sich so biegsam wie eine Schlange oder wie eine Reitpeitsche bewegen. Über das Drücken des Armes zu BongSao und das Zurückpeitschen mit FakSao wurde damals schon gesprochen.
Mein damaliger SiHing hatte den Neuinteressenten die nötige Flexibilität des Armes immer anhand einer Reitpeitsche demonstriert, die er bei jeder Vorführungsveranstaltung unter den Arm geklemmt herumtrug.
 
Als ich Ende 1981 mit dem Unterrichten begann, hatte ich in meinem Koffer, den ich zum Training mitnahm, auch immer eine Reitpeitsche dabei, damit ich den Neuinteressenten diese Eigenschaft des WingTsun zeigen konnte. Ich zeigte immer an der Reitpeitsche, dass es für einen Fauststoß sehr schwierig ist, die Peitsche (BongSao) zu kontrollieren. Ein bisschen zu viel Druck oder Bewegung und schon schlägt die Peitsche zu. Die Peitsche hat hier nur eine einzige Richtung, nämlich die Richtung des FakSao aus der ersten Form.
Es gab zu jener Zeit keine richtige Möglichkeit, diese Peitsche abzuwehren. Ich kann mich nur an eine Möglichkeit erinnern: Der Peitsche erst gar keinen Grund zum Entstehen zu geben.

Diese alten Gegebenheiten wurden mir wieder bewusst, als ich mich näher mit SiFus „neuen“ ChiSao-Ideen befasste. SiFu selbst nennt sie übrigens nicht „neu“. Für ihn sind sie nur die „Konsequenz der WingTsun-Leitideen“, so wie er sie von seinem SiFu gelernt hat und jetzt für sich interpretiert.
Er hat aus diesen „Ideen“ kein festes Programm gemacht und sie keinen bestimmten Techniker- oder Meister-Stufen zugeordnet. Er hat auch keine neuen Techniken geschaffen.
Jedenfalls ist das, was wir vor diesen vielen Jahren gerne umsetzen wollten, mit Leichtigkeit und Spontaneität jetzt Dank dieser Interpretation möglich.

Ich habe erkennen müssen, dass wir in den letzten acht bis zehn Jahren Gefahr liefen, dieses Ziel aus den Augen zu verlieren, indem wir uns fast nur mit festen Bewegungsabläufen (Techniken!) beschäftigten: mit Schein-ChiSao!
Ich will damit überhaupt nicht die Bedeutung der von Großmeister Leung Ting geschaffenen sog. „ChiSao-Sektionen“ klein reden. Ganz im Gegenteil: Sie sind ein geniales Hilfsmittel, um uns Bewegungsauswahlmöglichkeiten, die wir für ein spontanes, lebendiges, echtes ChiSao benötigen, in einem geordneten Lehrplan zu unterrichten.
Ohne die „ChiSao-Sektionen“ wäre es für die Schüler unmöglich, wirklich alle „Techniken“ des gesamten WingTsun-Repertoires zu erlernen und sich zu merken. Ohne die „Sektionen“ wäre es aber auch für den Lehrer unmöglich, alles zu unterrichten, was es an Optionen gibt. Jeder kennt das: Man macht einige Dinge im Training besonders gerne und man vergisst, dass es auch noch andere Bewegungen gibt, die man unterrichten muss, weil sie vielleicht nicht mir, sondern meinem Schüler nützen könnten.
Hätte man jetzt kein Programm (Partnerformen mit ChiSao-Kontakt), würde man bestimmt einige wichtige Dinge nicht unterrichten. Man sollte bedenken, dass jeder Schüler eine andere Lieblingstechnik hat, die er besonders gut kann und die ihm besonders gut liegt. Gäbe es hier keinen Plan, würde jeder nur die Lieblingstechniken des Lehrers erlernen, und zwar aus der Lebensphase heraus, in der sich der Lehrer gerade befindet.

Die „ChiSao-Sektionen“ wurden leider von einigen von uns als das Mittel aller Dinge missverstanden. Der Ablauf war das Wichtigste. Manche haben sogar neue Abläufe hinzugedichtet und diese als Geheimnis angepriesen, welches angeblich nur sie gelernt hätten. Aber warum sollte das bei uns anders laufen, als es Großmeister Yip Man selbst erging?
Es ist schon erstaunlich, welchen Phantasien und Verschwörungstheorien hier freier Lauf gelassen wurde. So wurde auch gerne behauptet, dass bestimmte „Techniken“ oder „Sektionsabläufe“ nur in Hongkong unterrichtet würden, da sie nicht in den Rest der Welt gelangen sollten.
Leider haben auch viele Schüler diesen Unfug geglaubt. Wenn sie dann noch das WT-Heilversprechen, sich spontan und mühelos verteidigen zu können, nicht erfüllt fanden und die Schuld nicht sich, sondern ausschließlich unserem Verband in die Schuhe schoben, war die Kündigung bei der EWTO oft die Konsequenz dieser Verunsicherung und Enttäuschung.
Sie suchten sich dann neue Gurus unter denen, die schon vorher unseren Verband verlassen und sich dann durch selbstgegebene Graduierungen erhöht hatten und vorgaben, diese „Sekten-Tänze“ noch detaillierter und in einer noch geheimeren Version von höchster Stelle gelernt zu haben. Einige glauben sogar, dass sie von Yip Man, der ihnen im Traum erschienen war, persönlich dazu berufen seien …
Dies ist ein Problem, solange es Menschen gibt: Personen, die die heile Welt versprechen, werden immer wieder zu Führern von Leichtgläubigen, die sich gerne führen lassen, und von Unzufriedenen und Neugierigen.

Der Weg zum Erlernen des WingTsun geht über die sog. „ChiSao-Sektionen“ – als eingesetztes Hilfsmittel. Manche wollen nun nach unserem neuen Verständnis das Kind mit dem Bade auskippen und diese nichttraditionelle Erfindung von Großmeister Leung Ting ganz abschaffen. Aber das ist völliger Unsinn. Das Einzige, was wir schleunigst abschaffen müssen ist der Name „ChiSao-Sektionen“, denn wie GM Kernspecht deutlich gemacht hat, vermittelt der Name den falschen Eindruck, dass diese festen Bewegungsabläufe angepasstes, spontanes Reagieren hervorbringen könnten. Nennen wir sie doch einfach und zutreffend so, wie Großmeister Leung Ting es auf einem Tutorial, bei dem ich anwesend war, auch tat: „Partnerformen“!
Hat man den Ablauf, die Reihenfolgen diese „Partnerformen mit Armkontakt“, bewusst gelernt, müssten sie in kurze Teile (Großmeister Leung Ting nennt sie „Ringe“) zerbrochen werden und irgendwie gespeichert werden.
So ist die Theorie. Aber ich denke, es ist für die meisten von uns sehr schwierig, die festen „Techniken“ der festen „Partnerformen“ spontan und auf die jeweilige Situation angepasst, abzurufen, ohne jedes Mal ein Blutbad anzurichten. Hier setzt meines Erachtens SiFus ChiSao-Verständnis an. Es erlaubt uns, ohne in Gefahr zu geraten, allen Bewegungen des Gegners freien Lauf zu lassen, ohne uns mit aller Kraft dagegen stemmen zu müssen.
 
SiFu sagte einmal beim Privatunterricht Folgendes:
„Die größte Gefahr für einen Meister (selbst für einen WT-Meister) ist ein Angreifer, der verrückt ist, völlig ausflippt und ohne Eigensicherung unkontrolliert angreift; denn der Verrückte bietet dem Meister keine „Form“, die er erkennen kann.“
 
Meine Erfahrung lehrt mich, dass man bei neuen Schülern in der WingTsun-Schule besonders aufpassen muss, weil sie – ohne sich darüber im Klaren zu sein – völlig unerwartete, scheinbar sinnlose und unkoordinierte Angriffe machen.
Ich denke, dies ist bestimmt eine nicht leichte Situation für so manchen Ausbilder, der erst mit dem Unterrichten angefangen hat. Mancher Ausbilder hat dieses – wie ich erfuhr – in der Vergangenheit mit Brutalität wettgemacht. Einer meiner Schüler, der während seiner Studienzeit in Deutschland unterwegs war und deshalb auch in einigen Schulen zum Unterricht war, hat mir hierzu z.B. erzählt, dass es in einer Schule üblich war, dass jeder neue Schüler schon einmal vorbeugend einen Ellbogen kräftig auf die Brust bekam, damit er „gewarnt“ war und in der Zukunft nicht auf dumme Gedanken kam und den Ausbilder nicht mit wilden, überraschenden Bewegungen anzugreifen wagte.
Leider hatte diese Methode auch den Nachteil, dass die Schüler nicht so lang dabeiblieben.
Prophylaktisches Einschüchtern des Schülers ist sicherlich eine Möglichkeit, im Unterricht nicht mit überraschenden Situationen konfrontiert zu werden, aber sie sollte unter der Würde eines echten WT-Lehrers sein; denn was ist schöner, als sich vor den noch zweifelnden Neuanfänger zu stellen und ihn freundlich aufzufordern: „Greif mich an, wie und mit was du willst! Ich werde damit fertig und ich werde dich nicht bei der Abwehr verletzen.“ In einer solchen Situation, für die unser WT geschaffen wurde, helfen keine vorgefertigten Techniken oder Kombinationen und gewiss keine geübten Partnerformen. Hier ist Spontaneität und Kreativität gefragt, alles Fähigkeiten, die aus dem Unterbewusstsein kommen, wenn man die Mittel hat, sie im Stress abzurufen …
 
In den vielen Stunden Privatunterricht konnte ich die Bewegungen von SiFu beobachten und auch immer wieder spüren. Manchmal dachte ich, der macht ja „nur“ die Anwendungen der dritten Form. Dann meinte ich, der hat ja Doppelmesser in den Händen, aber es waren seine Handkanten, die so schneidend auf meinen Körper einschlugen. Ein anderes Mal fühlte ich mich wie seine Holzpuppe. Er rutschte so elegant über meine Arme und ich hatte so gut wie keine Möglichkeit, etwas gegen diese schlüpfrigen Bewegungen zu unternehmen.

Mir wurde klar, er setzte seine neuen Erkenntnisse perfekt um. Jedes Dagegen-Reißen brachte im gleichen Moment einen neuen Treffer.
Eine Verteidigung war unmöglich, jeder Widerstand zwecklos. Jede Bewegung, die ich dagegen machte, löste einen neuen andersartigen Angriff aus: Hand, Ellbogen, FakSao von außen und das ganze Programm in die andere Richtung, FakSao aus den unterschiedlichsten Richtungen, keine wirklich vorhersehbare Bewegung, immer anders als erwartet.
Nach einigen Stunden Training und nachdem ich gelassener war und mich damit abgefunden hatte, getroffen zu werden, wurde dann doch die eine oder andere Abwehr möglich. Aber immer erfolgte ein direktes Ausnutzen der ersten erfolgreichen Abwehr durch SiFu und damit ein Treffer.

Ich begann dann, dies nun auch bei meinen Privatschülern zu unterrichten. In dieser Situation war ich derjenige, der austeilte. Die Kontermöglichkeiten meiner Schüler waren noch beschränkt. Sie hatten genug mit ihrem Körper und den Armen zu tun. Ich fühlte mit ihnen. Ich dachte, so hatte ich wohl bei meinen ersten Stunden bei SiFu ausgesehen.
Beim Lehrgang auf dem Schloss, beim praktischen WT-Teil des Uni-Studiums, beim Lehrgang in Homburg und beim Privatunterricht in Bulgarien, immer das gleiche Bild: Niemand, aber auch niemand, konnte gegen die Angriffe von SiFu irgendetwas machen, gegen diese formlosen und doch so präzise gezielten Schläge. Es war für mich ein Trost, dass ich nicht allein war und dass es allen Kollegen genauso erging.
Mir wurde immer klarer, welche Dimension an Genialität in dieser Methode steckt. Dass es etwas Großes, alles Umfassendes hinter der oberflächlichen Technik gab, was auch über die spezifischen Mottos hinausgeht, war mir schon immer klar, aber wie man dahin kommt, wusste ich nicht.
Um diese konzeptuelle Herangehensweise umsetzen zu können, muss man mit den kleinen Dingen anfangen, behutsam an sich arbeiten und in sich hineinspüren.
Es ist sehr wichtig, dass der Partner auch den entsprechend richtigen Druck geben kann. Ohne den richtigen Druck in der ersten Trainingsphase ist es fast unmöglich, die richtigen Reaktionen zu erlernen. Hier gewinnt die Rolle des Privatlehrers wieder eine ganz neue Bedeutung; denn seine Aufgabe kann keine DVD leisten. Beim echten ChiSao geht es nicht um das Auswendig-zu-Lernende und auch nicht um das Sichtbare; alles was hier zählt, ist Tasten und Spüren.

Mein Fazit aus dem Gelernten:

ChiSao ist kein Kampf, sondern eine Methode, um den Kampf in allen Situationen zu üben. Schläge aus allen Richtungen sind zugelassen.
Sei total entspannt, nicht nur in den Armen, sondern auch im ganzen Körper, stehe nicht immer mit verriegelter Hüfte da, betrachte den „unbeweglichen Ellbogen“ nicht als Tabu, das für ewig gilt. Gib immer und überall nach (auch der kleine Zeh muss in seinen Möglichkeiten nachgeben), halte nie dagegen, reiße nicht nach oben, aber drücke auch nicht nach unten, nutze jede Abweichung, beute – unmittelbar – jeden Gegendruck zum Gegenangriff aus.
Kontere, wenn der Gegner noch in der Angriffsbewegung ist, denn der Weg ist jetzt für Dich wirklich frei.
Wiederhole Deine Bewegungen immer und immer wieder. Aber schleife sie nicht ein, variiere sie. 10.000 Mal ist so gut wie einmal.
Mach dir nichts daraus, getroffen zu werden, kommentiere deine Fehler nicht, akzeptiere sie einfach, sie verschwinden, wenn die Zeit gekommen ist.
Auf diese Weise kannst du total entspannt sein und wirst dem Gegner immer weniger Druck geben, den er gegen dich ausnutzen kann.
Nichts ist unmöglich mit WingTsun.
 
DaiSifu Rainer Tausend
7. Meistergrad WT