Editorial

Von Zero zum Hero

Keith R. Kernspechts kometenhafter Aufstieg in der Rangfolge unserer Grundschul-Klasse vor 54 Jahren.

Liebe WT-Welt-Leser,

Ich bin kein WT-Mitglied, sondern der wohl älteste Freund, den Keith R. Kernspecht (von Euch „Si-Gung“ und anderes genannt) hat, und möchte ein paar Ergänzungen zu dem interessanten Interview mit Keith in der WT-Welt machen.

Keith hat mir ein Exemplar des Magazins beim letzten Zusammensein mit ihm über Weihnachten gegeben.
 
Ich kenne Keith wohl am längsten, traf ich ihn doch am Einschulungstag 1952 in der Muhlius-Knaben-Volksschule in Kiel, auf dem Weg dorthin. Er und ich, bewaffnet mit einer Schultüte mit Geleitschutz in Form unserer Mütter. Wir wurden schnell Freunde, nicht nur wegen dem gleichem Nachhauseweg, den wir alsbald ohne Mütter absolvierten.

Was nun die Jungbullen- und Rangfolgekämpfe auf dem Schulhof angeht, die Keith auf der Seite 65 der WT erwähnt, so war es in der Tat für uns alle erstaunlich, dass ein ansonsten sportlich überhaupt nicht in Erscheinung tretender Keith es mit für uns unfairen Tricks (z.B. Schwitzkasten) schaffte, alle bis auf einen zum Aufgeben zu zwingen. Ich erinnere mich noch, wie wir als 7-Jährige alle in der Turnhalle lachen mussten, wenn die Reihe an Keith kam, sich an einem Klettertau zu versuchen. Der hing zu unserer großen Belustigung wie ein „nasser Sack“ am Ende des Taues, konnte sich keinen Meter mit seinen Armen am Tau hoch ziehen. Auch die Übung „Knieaufschwung“ an der Reckstange kann ich immer noch mit einem Grinsen auf dem Gesicht visualisieren. Alleine schon, wie Keith sich abmühte, das eine Bein über die Stange zu bringen, um nun noch gar nicht vom „Knieaufschwung“ zu reden, den Keith natürlich nie meisterte, war Slapstick-Mister Bean-reif. Der Lehrer musste selbst grinsen über das Schauspiel, es war wirklich zu komisch.

Doch nun zurück zum „Schwitzkasten“-Trick.
Die Rangordnung war eigentlich schon längst festgestellt worden in unzähligen Kämpfen, wo Keith sich unter den Schwachen befand. Doch dann mischte Keith eines Tages die Karten neu: Bei neuerlichen Kämpfen ließ er sich mit dem Kopf des Gegners im „Schwitzkasten“ auf den Rücken fallen, wo nach herkömmlicher Meinung der Kampf schon beendet sein sollte, berührten doch seine beiden Schulterblätter den Boden. Aber zu unserem Erstaunen fing Keith dann erst richtig an, quetschte den Gegner mit seinem „Schwitzkastengriff“ so nachhaltig, dass der um Gnade winseln musste, bekam er doch keine Luft mehr!

Ich selbst kann mich auch noch an Keiths Schraubstockgriff erinnern. Da war kein Entkommen! Keith stieg wie ein Komet auf in der Rangfolge. Der Stärkste in unserer Klasse, Wolfgang Markl, den Keith immer noch sucht, um sich mit ihm zu messen – wer kann helfen? –, wollte es nur einmal im Kampf mit Keith wissen. Nachdem er sich mühsam aus dem Umklammerungsgriff von Keith befreit hatte, der Kampf damit unentschieden blieb, gingen sich die beiden aus dem Weg.
Das Gerücht machte in der Klasse die Runde – vielleicht habe ich es auch als Freund verbreitet –, dass Keith nur diesen einen entscheidenden Klammergriff von seinem Vater, der dazu noch Zauberer war, (na bitte, Nachtigall ick hör Dir trapsen!) gelernt und trainiert hatte, ansonsten sei er immer noch so unsportlich = untrainiert wie zuvor.
 
Ach ja, das waren noch Zeiten, wo wir Proletarierkinder noch nach Herzenslust und ungestraft auf unsere späteren Herren eindreschen konnten. Nach der 4. Klasse wurde Keith ja von seinen ambitionierten Eltern auf die Kieler „Gelehrtenschule“ geschickt, eine Schule, die für uns „Straßenkinder“ wie ein Objekt aus einer fremden Galaxis erschien, alleine schon vom Namen.

Zum beiliegenden Klassenfoto nun noch im Zusammenhang mit dem Interview-Aspekt „Loser-Leader“ sei ausgeführt:
Da sehe ich ja nicht nur wohl im Nachhinein, wer seinen Weg machen wird und wer nicht. Der zukünftige „Leader“ zeichnet sich in seinem Habitus und in seiner Positionierung (nicht zu übersehen, na klar!) schon deutlich ab, während die Loser, „Schmuddelkinder“ (Franz Josef Degenhardt: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“) oder Straßenkinder – kaum zu glauben, aber wahr, damals schickten uns die Eltern zum Spielen noch „auf die Strasse“ –
mit der letzten Reihe (ganz links bin ich) vorlieb nehmen mussten. Klassengesellschaft und Klassenfoto, wie schön doch hier das eine zum anderen passt!

Abschließend will ich nur noch sagen, dass Keith uns allen in der Klasse gezeigt hat, was eine Harke ist! Aber vom Sport hält er ja lt. Interview immer noch nicht viel. Möchte wissen, ob er es noch erlernt hat, ein Klettertau zu erklimmen?

Reinhard Winkler

 

Lieber Reinhard,
auch wenn mir Dein Text jetzt 54 Jahre später einen gewaltigen Imageschaden einbringt, ich bringe ihn, denn er ist so köstlich! Und zudem ist er wahr und beweist meine Behauptungen im Editorial, dass man mit Willenskraft alles aus sich machen kann, selbst unsportliche Bücherwürmer, wie ich einer war ...
Dein Freund
Keith

 

Lieber Keith,
Muss gestehen, dass ich mit etwas bangem Gefühl Deine E-Mail öffnete, könnte es doch sein, dass Dir meine drastische Beschreibung von Dir am Klettertau – „nasser Sack“ – doch mächtig auf den Sack geschlagen wäre. Aber ich lag denn doch richtig mit meiner Vermutung, dass Du meine Kindheitserinnerungen mit Dir, so wie ich sie nun mal gesehen habe, von der humoristischen Seite nehmen würdest.
Aber Deine Karriere vom „nassen Sack“ zum ultimativen Kampfsportler ist doch zum einen ein toller Beweis für Deinen eisernen Willen, etwas aus Dir zu machen und zum anderen für Deine Schüler ein Ansporn ohne gleichen.
In diesem Sinne sei gegrüßt – Erinnerst Du Dich übrigens noch an Deine Bemerkung zu mir beim Gewichtestemmen, um die Sache für mich mehr schmackhaft zu machen: „Reinhard, wir müssen uns körperlich auf die Ehe vorbereiten. Die Frauen fordern viel von uns Männern!“ Ist doch so köstlich, dass es schade wäre, wenn sie nicht mal schriftlich festgehalten werden würde.
In alter Freundschaft
Reinhard

 

Lieber Reinhard,

tatsächlich bist Du mein allererster Freund aus frühester Kindheit und kennst besonders die allerersten Anfänge meiner Entwicklung. Dass ich damals wirklich so eine sportliche Flasche gewesen war, witzig, ich muss es wohl verdrängt haben. Unsere Grundschulzeit ist ja auch schon 54 Jahre her.
Wie ich in der Klasse vom Loser zum Winner wurde, von Zero zum Hero? Mein Vater, das hast Du richtig geschrieben, war tatsächlich ein Hobby-Bühnenmagier bzw. -Illusionist, und zwar ein ziemlich guter, denn mindestens einer seiner Schüler wurde später sowas wie Weltmeister der Magie, auch der berühmte Marvelli hatte bei ihm gelernt und den Titel „Marvelli“ durch Vaters Fürsprache vom Altmeister erhalten.
Mein Vater übte sich aber nicht nur in Illusionen, sondern interessierte sich auch für Suggestionen, Hypnose und Gedächtniskunststücke und Selbstvervollkommnungsmethoden. So nahm er an einschlägigen Lehrgängen eines Herrn G. in München und Dresden teil. Wenn er zurückkam, brachte er mir aber auch Selbstverteidigungs-„Tricks und -Kniffe“ bei, die er dort außerdem gelernt hatte. Mein gelerntes Repertoir überschritt also den „Opferwurf mit Würger“, mit dem ich in unserer Klasse brillierte und mein schicksalsveränderndes Coming out hatte.

Recht hast Du darin, dass ich damals noch kein bisschen sportlicher oder kräftiger wurde, denn meine Überlegenheit beruhte ausschließlich auf Technik und der schieren Willenskraft, nie wieder zu unterliegen. Ich war ein leptosomer Hungerhaken und Bücherwurm.
Erst viel später, nachdem ich längst auf die Gelehrtenschule gewechselt war, erwachte mein Interesse daran, einen starken Körper zu besitzen (mens sana in corpore sano, Du weißt schon ...). Ich startete ca. 1958 mit dem systematischen Krafttraining, nachdem ich vorher schon mit den anderen Kampfsportarten begonnen hatte. Schließlich war auch mein Onkel Albert aus Ellerbek ein Ringer und Turner, der hat mir dann später an der Teppichstange in seinem Hinterhof die Tricks an der Reckstange beigebracht. Aber Geräteturnen habe ich (mit Ausnahme der Übungen Klimmzüge und Barrenpumpen) trotzdem nie wirklich geliebt.

Da ich über jede meiner Trainingsstunden seit 1958 genau Buch führe, habe ich eben etwas geblättert und stieß in meinem Trainingstagebuch Nr. 5 auf eine Eintragung vom 11.Januar 1964, in der ich eine Trainingsstunde bei mir zu Hause in der Langen Reihe, Kiel, vermerke, an der neben mir ein gewisser Joachim (A.) und Du, lieber Reinhard, teilnahmst.
Wie Du aus meinem handschriftlichen Tagebuchauszug vor über 40 Jahren ersehen kannst, begannen wir drei mit einarmigem „militärischen“ Kurzhanteldrücken im Stand. Rechts schafftest Du den respektablen Wert von 60 und ich 84 Pfd. Im einarmigen Stoßen mit leichtem Beineinsatz brachtest Du 71 und ich 101 Pfund hoch. Im liegenden Drücken mit einem Arm schafftest Du wiederum 71 und ich abermals 101 Pfund.
Danach forderte ich Euch in meinem Zimmer beide gleichzeitig zum Ringkampf heraus. Wenn ich nicht gewonnen hätte, würde ich es hier natürlich nicht erwähnen. So vermerkte ich am 11.1.1964 in meinem Tagebuch: „Reinhard und Achim beide zugleich im Ringen besiegt. Achim mit Würger zur Aufgabe gezwungen, Reinhard solange in Beinschere gehalten und dann auch durch Würger besiegt.“

Bei meiner Aufnahmeprüfung zur Polizei, ich glaube, es war 1965, musste ich beweisen, dass ich schwimmen und das Seil hochkommen konnte. Wochenlang trainierte ich im sog. „Vossenpott“ bei Kiel das Schwimmen und in einer Turnhalle in Kiel (in der Nähe des jetzigen ADAC) das Seilhochklettern, bis ich es allein mit Armeskraft und ohne Zuhilfenahme der Beine schaffte. Sehr viel später wurden dann Klimmzüge (ganz WingTsun untypisch und als Ausnahme dazu, dass wir hauptsächlich die Strecker üben, zu einer meiner Lieblingsübungen, die ich auch noch heute fast täglich betreibe.
Aber „sportlich“ im üblichen Sinne bin ich dadurch immer noch nicht geworden, meine Sache ist die Konzentration aller Kräfte auf ein Ziel, beim Sport geht es (schon etymologisch gesehen: lat. deportare, altfr. desport) um deren Zerstreuung.

Mein lieber Freund, ich danke Dir für Deinen Brief, er unterstützt meine These, dass es auch eine unsportliche Flasche und Witzfigur zu quasi „sportlichen“ Ehren bringen kann. Wenn man es denn mit brennendem Ehrgeiz will – und wenn man sich selbst in einem erfolgreichen Augenblick ertappt und diesen verewigt und unumkehrbar macht!

Dein alter Freund aus Kindertagen
Keith