Editorial

Man kann nicht fühlen, dass man nicht fühlt, was man nicht fühlt.

Es ist so ähnlich wie bei dem sog. „Blinden Fleck“. Während er wohl beweisen könnte, dass wir alle einen blinden Fleck haben (was das Sehen betrifft), sucht Großmeister Kernspecht nach einem Experiment, mit dem er seinen Schülern beweisen kann, dass es noch viel mehr zu tasten gibt, als sie tasten.

Ein Schüler wollte sich mir zur Prüfung auf einen Meistergrad stellen. Leider verwechselte er grundsätzlich Reagieren per Tastsinn, also „Fühlen“, mit Reagieren auf optisches Erkennen:
Er machte Bong-Sao z.B. nicht, weil ihm die Hand heruntergedrückt wurde, sondern weil er etwas auf sich zukommen sah, dessen Angriffswinkel vielleicht zu Bong-Sao führen könnte. Immer vorausgesetzt, dass der Gegner nicht den Kurs ändert, was er pro Sekunde drei Mal bewusst oder unbewusst könnte. Kurz, von gutem Tastsinn war er weit entfernt, bildete sich aber ein, ihn zu besitzen. Ich konnte ihn nicht bestehen lassen, weil ihm alle Voraussetzungen wie Lockerheit, Sensitivität und Timing fehlten. Aber er wollte es mir nicht glauben, denn er fühlte ja „etwas“. Er wollte mir nicht glauben, dass es über das hinaus, was er fühlen konnte, noch viel mehr gab, was er nicht fühlen konnte. Von der Fühlfähigkeit, die ein Meister nach meiner heutigen Auffassung besitzen sollte, fehlten ihm mindestens 70%. Denn gerade ein Meister muss sich durch dieses besondere Können auszeichnen. Schließlich ist er ja kein „Techniker“ mehr. Als Praktiker muss er die Techniken ge-meistert haben. Er muss an dem Ziel angelangt sein, zu dem sie ihn geleiten sollten. Der „technische“ Weg ist dann zu Ende, er führt von nun an auf einem anderen Niveau weiter. Die Fähigkeit, wirklich zu fühlen, ist einer der wichtigsten Schritte vom Techniker zum Meister. Deswegen lege ich darauf besonders großen Wert.

Es ist nun einmal so: Ein Sinn – in diesem Fall der Tastsinn – kann uns immer nur mitteilen, was wir wahrnehmen, aber nicht das, was wir nicht wahrnehmen. Oder noch schärfer formuliert: Der Schüler fühlt nicht, dass er nicht fühlt, was er nicht fühlt.

Es ist so ähnlich wie bei dem sog. „Blinden Fleck“. Während ich wohl beweisen könnte, dass wir alle einen blinden Fleck haben (was das Sehen betrifft), suche ich immer noch nach einem Experiment, mit dem ich meinen Schülern beweisen kann, dass es noch viel mehr zu tasten gibt, als sie tasten.

Aber die Wissenschaftler schaffen es ja auch nicht, zu erklären, weshalb wir uns nicht bewusst sind, dass wir nicht sehen. Das Verblüffende ist weniger, dass wir nicht sehen, sondern dass wir nicht sehen, dass wir nicht sehen.

Nun beschäftige ich mich fast ein Leben lang mit lebendigem Erfühlen und seit einigen Jahren habe ich mich (mit dem Körper und dem Langstock) auf tastendes Erfühlen spezialisiert. Meinem Prüfling selbst waren Tastübungen zu beschwerlich oder langweilig, selbst nachdem ich ihm die Wichtigkeit erklärte. Er wollte lieber sein Gedächtnis durch Reihenfolgen üben oder prestigeträchtige Formen vor dem Spiegel oder an Geräten tanzen.
Eine Stunde lang bewies ich ihm unter Ausschluss der Öffentlichkeit (um sein zartes Ego zu schützen), dass er wirklich nichts zwischen seinen Hals und meine Hände bringen, geschweige denn mich irgendwie in auch nur die leichtesten Probleme bringen konnte.
Danach dachte ich, er habe es verstanden. Aber am nächsten Tag verrieten mir seine Kollegen, dass er seine Privataudienz triumphierend verlassen hatte: „Ich konnte alle Angriffe von Si-Gung abwehren. Er war schwer beeindruckt.“

Man sollte seinem Meister vertrauen, wenn der sagt, dass man noch nicht genug fühlt. Man sollte nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass er nur teure Privatstunden verkaufen will.

Zum Erlernen des WT gehört eine gute Portion Vertrauen. Das Vertrauen, dass es erlernbar ist, und das Vertrauen, dass der Partner meine ersten zarten Versuche des Nachgebens nicht enttäuscht und ausnutzt; denn es dauert eine ziemlich lange Zeit, bevor sich das Investieren in Schwäche zur Stärke auswirkt. Am Anfang steht der Frust, auf etwas verzichten zu müssen, mit dem man sich bisher behaupten könnte: Kraft und Widerstand.
Am Anfang wird man von der primitiven Kraft der anderen herumgeschubst. Erst nach langer Zeit innerer Entwicklung wird Schwäche zur wahren Kraft, gegen die Widerstand dann zwecklos ist.

Ich spreche von einem Prozess, der Jahre dauert. Viele machen hier den Fehler, sich drillmäßig etwas Nachgeben anzueignen, wie einen Trick. Dieses kombinieren sie dann mit persönlicher Schnelligkeit, im Fitnessstudio trainierten Muskeln und einer aus Angst geborenen Aggressivität.
Und fertig ist der Albtraumpartner jeder Chi-Sao-Stunde, der sich und dem anderen nur beweisen will, dass er überlegen ist. Er glaubt, dass er besser ist als der andere, weil er sich durch Aktivität (!) vor dem Getroffenwerden schützen bzw. den anderen treffen kann.
Leider wird er diese scheinbare Überlegenheit auch etliche Jahre bewahren können, indem er sich auf Sperren, Festhalten, Wegdrücken und Finten verlegt.
Ich sage „leider“, weil er seinen eigenen Fortschritt damit beendet hat. Er versteht die „Absichtslosigkeit“ nicht, er hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert, aus der ihn sein Ego nicht mehr herauslässt.

Tatsächlich geht es beim Chi-Sao gar nicht um Abwehren oder um Mit-Absicht-Angreifen, „Es“ wird das alles für uns tun. Wir müssen „Es“ nur geschehen lassen, entspannen halt. Aufgrund unserer Vorbereitung brauchen wir nur die Möglichkeiten zu nutzen, die sich aufgrund des Potentials, der Neigung einer Situation von selbst anbieten.

Ich habe leider Schüler mit höchsten Lehrergraduierungen, die in obiger Falle sitzen und sich unerreichbar für Rettungsversuche gemacht haben. Wenn ich ihnen ihren Irrtum zeigen will, werden sie schneller, strampeln sich ab, um zu versuchen, mich zu sperren, oder springen zurück, um etwas zu verhindern, was sie zulassen müssten, um weiter wachsen zu können.
Gefangen von Stolz und Angst und ohne Besinnung darauf, was WT eigentlich bedeuten könnte, werden sie nie weiterkommen, wenn sie weiter auf Widerstand setzen, um ihre Essenz durch einen Panzer zu schützen. Sie müssten ihr ganzes Denken verändern, statt nach der unbekannten Kombination oder dem nächsten geheimen Kampf-Tanz zu fragen.

„Wer glaubt, er sei schon am Ziel angekommen, ist unklug. Wer mit festgefahrenen Ansichten zufrieden ist, weil er sie durch große Anstrengungen gewann, ist schon in die Falle gegangen.“
Tsunemoto, Hagakure, Der Weg des Samurai

Aus gutem Grunde hatte ich vor etlichen Jahren mein Gewicht und damit meine Muskelmasse um fast 30 kg reduziert, bis ich Anfang 2007 unter 69 kg wog (inzwischen wiege ich wieder 80 kg). Dieser Verzicht auf Kraft hat mein WingTsun völlig verändert und damit meine Wirksamkeit. Der Verzicht auf Körperkraft erwies sich als die beste Investition meines Lebens!

Erst muss man die Kraft aufgeben und darauf vertrauen, dass die WT-Prinzipien auf Dauer ihre Wirkung tun. Zeigen sich – nach langer Zeit und Frustration – die ersten Erfolge (und die bleiben nie aus!), dann kann man noch weicher werden, weil man weniger Angst hat. Wenn man noch weicher wird, wird man noch erfolgreicher. Ein positiver Kreislauf, der größte Befriedigung bringt.