Editorial

Nachruf auf DaiSifu Andreas Gross von GM K. R. Kernspecht

Als ich am 23.4. die Nachricht erhielt, dass mein Meisterschüler und Geschäftspartner Andreas Gross einen Schlaganfall erlitten hatte, war ich schockiert und sprachlos. Erleichtert erfuhr ich am nächsten Tag, dass ihm die Ärzte eine positive Prognose ausstellten. In den darauffolgenden Wochen schien es, als würde Andreas gute Fortschritte in Richtung Genesung machen und insgeheim planten wir in der Geschäftsführung der EWTO schon mit seiner Rückkehr. Das mag im Nachhinein naiv erscheinen, aber trotz aller Lebenserfahrung hofft man doch meist auf einen guten Ausgang. Umso härter traf uns die Nachricht, dass sich Andreas' Gesundheitszustand plötzlich rapide verschlechterte. Wir konnten und wollten es nicht glauben, als seine Frau Ina uns mitteilte, dass er wohl nur noch wenige Tage zu leben haben würde. Am 26.6.2020, drei Tage nach seinem 59. Geburtstag verstarb Andreas Gross. Mit ihm verliere ich einen meiner höchstgraduierten und treuesten Schüler, der sich wie kaum ein zweiter um die Geschicke unseres Verbandes verdient gemacht hat.
Andreas Gross begann 1984 WingTsun im Saarland zu trainieren. Nachdem er als Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr gedient hatte, entschloss er sich 1987 für eine Berufsausbildung zum WingTsun-Lehrer an der EWTO-Trainerakademie auf Schloss Langenzell, die ich zu der Zeit teilweise noch selbst leitete. 1988 bestand er die Prüfung zum 1. Lehrergrad. Andreas fiel mir besonders durch seinen großen Fleiß, seine Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft auf. Mir gefiel auch seine Geradlinigkeit und Disziplin. Deswegen setzte ich ihn ab 1989 als Ausbilder in der EWTO-Trainerakademie ein. Weil er sich als sehr guter Lehrer erwies, ernannte ich Andreas 1990 zum Sifu, woraufhin er 1991 seine erste eigene WingTsun Schule eröffnete.

Ausbilder an der Trainerakademie Schloss Langenzell

Diese leitete er neben seiner Tätigkeit als Ausbilder an der Trainerakademie und den Verwaltungsaufgaben, die ich ihm anvertraut hatte. Simo und ich konnten diese aufgrund unserer zunehmenden Lehrgangsreisen nicht mehr alleine bewältigen. Schon bald richteten wir Andreas ein kleines Büro ein, von dem aus er mehr und mehr organisatorische Verantwortung übernahm. Die EWTO wuchs in jener Zeit sehr schnell und damit vergrößerte sich auch der Aufgabenbereich für Andreas. Es dauerte nicht lange und wir mussten weitere Mitarbeiter einstellen. Um Platz für größere Büroräume zu schaffen, traten Simo und ich einen Teil unserer Privatwohnung ab, die sich damals noch auf Schloss Langenzell befand. Kurz darauf konnte Andreas seine damalige Freundin und spätere Frau Ina als Mitarbeiterin gewinnen. Nach und nach bauten die beiden gemeinsam das „Headoffice“.

Die Anfänge des Headoffice

Andreas erfüllte diese Aufgabe mit so viel Weitblick und Verantwortungsbewusstsein, dass ich ihm 1999 den Aufbau der neuen EWTO Mitgliedsverwaltung übertrug. Er konzipierte und verwirklichte die Verwaltungsstruktur für Zehntausende von EWTO-Mitgliedern, wie wir sie heute kennen.Wer anderes als Andreas sollte also in Frage kommen, um 2001 die große „25-Jahresfeier der EWTO“ in Hockenheim zu planen und zu organisieren? Es wurde die bis dahin mit Abstand größte und beeindruckendste Veranstaltung der EWTO. Alle, die dabei waren, werden wohl für den Rest ihres Lebens davon erzählen. Andreas bewies sein großes Organisationstalent in den unterschiedlichsten Bereichen. Wen wundert es also, dass er es war, der 2005 den Aufbau des neuen EWTO-Artikelversandes leitete, zwei Jahre später den WuShu-Verlag in denselben integrierte und noch im gleichen Jahr den allerersten „Internationalen Lehrgang“ der EWTO ins Leben rief?

Unvergessen - die großen Internationalen Lehrgänge

Als ich mich 2008 dazu entschloss, der EWTO eine zukunftsfähige Unternehmensform zu geben und dafür die WingTsun GmbH & Co. KG gründete, berief ich Andreas Gross, der gerade sein Studium der Sportpädagogik an der Paisii Hilendarksi Universität mit dem Titel eines Bachelors abgeschlossen hatte (ein Jahr später bestand er auch die Prüfung zum Magister), zu einem der Geschäftsführer.

Nach 27 Jahren mussten wir 2009 leider unseren Hauptsitz auf Schloss Langenzell verlassen. Der neue Besitzer hatte allen Mietern wegen Eigenbedarf gekündigt. Natürlich zeichnete Andreas verantwortlich für den Aufbau der neuen EWTO-Zentrale in Heidelberg, wo wir Anfang 2010 einziehen konnten.

Planung des Umbaus der neuen Trainerakademie in Heidelberg

Es war mir eine besondere Freude, dass ich Andreas 2015 den 8. Meistergrad im WingTsun verleihen konnte, hatte er sich doch trotz seiner vielfältigen organisatorischen Aufgaben stets auch in unserer Kampfkunst weitergebildet.
Das letzte ganz große Highlight seiner langen und überaus fruchtbaren Karriere in der EWTO sollte 2016 Planung und Organisation der „40 Jahresfeier der EWTO“ in Hockenheim werden. Es gelang Andreas das Kunststück, das keiner für möglich gehalten hätte: unser 40-jähriges Jubiläum übertraf sogar die legendäre 25-Jahr-Feier!

Auf großer Bühne beim 40-Jahre-Jubiläumslehrgang

Andreas war ein Mann, der seinen Nachnamen zu Recht trug: Gross. Große, weitreichende Projekte schreckten ihn nicht ab, im Gegenteil – sie spornten ihn zu Höchstleistungen an. Dabei fühlte er sich stets der Sache verpflichtet und drängte sich nie in den Vordergrund. Das Arbeiten im Team stand für ihn immer an erster Stelle.
Die oben genannten Beispiele sind nur ein Ausschnitt seiner vielen Verdienste, die er sich um die EWTO erworben hat. Andreas Gross hat in seinem über 30-jährigen Schaffen die EWTO geprägt wie nur wenige.
Er wird eine große Lücke hinterlassen – als Geschäftsführer, als Organisator, als Visionär. In erster Linie aber als Mensch.

Andreas war ein zu 100% loyaler und integrer Partner und Freund, der stets ein offenes Ohr für die Probleme anderer hatte. Man konnte zu ihm mit jedem Anliegen kommen, stets war er bereit, sein Möglichstes zu tun, um zu helfen. Er war ein Mann mit klaren moralischen Vorstellungen, der das offene Wort nie scheute. Weil es nicht möglich ist, alle Facetten seiner Persönlichkeit in diesem Nachruf zu beleuchten, sollen an dieser Stelle einige kleine ganz persönliche Anekdoten seiner Freunde und Kollegen aus dem EWTO-Führungsteam folgen:

Giuseppe Schembri:
Andreas zeigte schon in alltäglichen Situationen eine beeindruckende Präsenz. Dass er diese noch um ein Vielfaches steigern konnte, erlebte ich zwar nie „in der Realität“, weil Andreas sich stets sehr besonnen und ruhig verhielt. Aber durch die Rollenspiele in den BlitzDefence-Programmen habe ich doch eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie das wohl ist, wenn er mal richtig „loslegt“. Ich kann mich an einen der ersten großen BlitzDefence-Lehrgänge erinnern. Die große Turnhalle war sehr voll, vielleicht trainierten 200 oder mehr Personen gleichzeitig. Ich unterrichtete am einen Ende der Halle, Andreas am anderen. Im Raum war es so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte, denn das verbale Verteidigen sollte geübt werden und alle gaben ihr Bestes. Plötzlich erdonnerte ein gewaltiges „Stopp!“. Alle – inklusive mir selbst – erstarrten für einen kurzen Moment. Alle Blicke gingen in die Ecke, aus der dieser Urschrei gedröhnt hatte. Dort stand Andreas, die Augen furchterregend aufgerissen, die Hände abwehrend nach vorne gestreckt. Die armen Schüler vor ihm standen wie versteinert und alle Farbe war aus ihren Gesichtern gewichen. Ich kenne niemanden, der Stimme, Gestik und Mimik so nachdrücklich einsetzen konnte wie Andreas. Ab jenem Moment war er für mich das Parade-Beispiel dafür, wie wichtig und wirksam diese Präsenz für den Verlauf eines Kampfes ist, bevor die körperliche Auseinandersetzung überhaupt begonnen hat.

Meister des BlitzDefence

Oliver König:
Ich war immer wieder verblüfft, wie gut sich Andreas auf verschiedenste Situationen vorbereitete. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass wir einmal einen Lehrgang auf Teneriffa hatten bei dem alle Geschäftsführer anwesend waren. Wir nutzen solche Gelegenheiten stets, um neben dem Unterrichten gemeinsam an aktuellen Projekten zu arbeiten. Während eines solchen Meetings hatten wir mehrere Dokumente erarbeitet, die wir gleich in ausgedruckter Form an die Lehrgangsteilnehmer austeilen wollten. Aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, war es nicht möglich, diese Seiten an der Hotel-Rezeption ausdrucken zu lassen. „Macht nichts!“, meinte daraufhin Andreas schmunzelnd, „ich habe einen Drucker und genügend Papier dabei!“. Wir dachten zuerst, er wolle uns auf den Arm nehmen. Doch Andreas ging auf sein Zimmer und kam 15 Minuten später mit den ausgedruckten Seiten zurück. Er war sichtlich amüsiert über unsere ungläubig staunenden Gesichter. Geschichten wie diese gibt es unzählige. Andreas war immer bestens vorbereitet im Kleinen wie im Großen. Wir wussten immer: Wenn Andreas das organisiert, dann fehlt es an nichts!

Team-Meeting

Thomas Schrön:
„Freunde werden nie verloren geh’n, wenn sie fest im Herzen steh’n.“
Wenn ich an Andreas denke, überkommt mich eine tiefe Dankbarkeit, dass ich diesen Menschen kennen durfte. Er war nicht immer einfach, aber er war immer da wenn man ihn brauchte. Wenn ich z.B. durch das Training mal wieder Schmerzen hatte, bot er mir immer an, mir die Schmerzen durch Akupressur zu behandeln. Die beherrschte er sehr gut. Die Behandlung selbst war stets sehr schmerzhaft. Jedes Mal sagte ich ihm, dass ich gleich ausflippen würde, wenn er weiter so festen Druck ausüben würde. Und was machte er jedes Mal: Er drückte noch fester und sprach auf seine ganz besondere Weise beruhigend auf mich ein. So lange, bis die Schmerzen weg waren. Und das hat er jedes Mal geschafft.
Freunde sind schwer zu finden und unmöglich zu vergessen.

KungFu-Brüder und Freunde

Natalie:
Ich lernte Andreas zu der Zeit kennen, als 2007 mit der Gründung der WingTsun GmbH & Co.KG ein neues Kapitel in der Geschichte der EWTO aufgeschlagen wurde. Es gab derzeit unglaublich viele Meetings und Besprechungen, während der ich ihn als einen sehr strukturiert arbeitenden Menschen kennenlernte. Dabei machte er auf mich immer einen sehr konzentrierten und eher strengen Eindruck.
Umso erstaunter war ich von einer ganz anderen, sehr entspannten und lustigen Seite an ihm.
Auf die stieß ich zum ersten Mal, als ich damals in lockerer, geselliger Runde von meiner neuesten Erfindung, dem „Fischkuss“ erzählte. Natürlich wusste keiner, was das sein sollte und deswegen bot ich an, alle Unklarheiten durch eine praktische Demonstration eines ebensolchen auf die Wange zu beseitigen. Ich rechnete fest damit, dass sich keiner dafür bereit erklären würde. Doch da hatte ich die Rechnung ohne Andreas gemacht! Ohne Umschweife sagte er: „Einen Kuss – ja, warum nicht!“. Jetzt war ich wirklich überrascht! Aber gut, wer A sagt muss auch B sagen und so gab ich Andreas einen Fischkuss auf die Backe. Wir konnten uns alle vor Lachen kaum mehr halten, als Andreas mein Speichel von der Wange rann. Am herzlichsten und lautesten lachte Andreas selbst (übrigens war er der Erste und der Letzte, an dem ich meinen Fischkuss ausprobierte).
Jedenfalls hatten wir uns von da an ins Herz geschlossen und immer wenn wir uns trafen, herrschte zwischen uns eine nette und fröhliche Atmosphäre. Ganz egal, ob wir beim Essen waren, gemeinsam trainierten oder in Meetings über Projekte diskutierten.
Unsere Zusammentreffen begannen immer mit unserer eigenen (dem Hamburgischen entlehnten) Begrüßungsformel. Einer von uns beiden grüßte mit „Hummel-Hummel“ und der andere antworte: „Brumm-Brumm“.
Ich bin sehr froh darüber, dass ich auch diese ungezwungene, gelassene Art Andreas‘ kennenlernen durfte und ich werde sie ganz besonders vermissen.

Abendgala Internationaler Lehrgang 2009

Markus Senft:
Man konnte jederzeit mit jedem Problem zu Andreas kommen und ihn um Rat und Hilfe bitten. Zum ersten Mal erlebte ich das in beeindruckender Weise bei einer meiner allerersten WT-Welt Produktionen. Die Nr. 21 aus dem Jahr 1998 um genau zu sein. Die frischgedruckten Exemplare wurden damals noch komplett nach Schloss Langenzell geliefert, um von dort aus an die Mitglieder verschickt zu werden. Ich hielt also das erste Exemplar in den Händen und blätterte gespannt Seite für Seite durch das Heft. Alles in Ordnung! Eher beiläufig warf ich noch einen Blick auf die hintere Umschlagseite. NEIN! Da stand in übergroßen Buchstaben „1998-Lehrgänge“. Doch es war der Kalender für das kommende Jahr 1999! Heutzutage ist kaum mehr nachvollziehbar, welche Bedeutung der gedruckte Kalender damals hatte. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, deswegen war der Lehrgangs-Kalender in der WT-Welt der Terminplaner für alle EWTO-Mitglieder für ein ganzes Jahr! Was tun? Andreas überlegte nicht lange und hatte binnen kürzester Zeit nicht nur eine Lösung erdacht, sondern begann sogleich mit der Umsetzung. Klebeetiketten in der passenden Größe wurden besorgt, alle vorhandenen Drucker des Büros mit denselben bestückt und tausende Etiketten mit dem richtigen Datum ausgedruckt. Im Nu hatte er ein halbes Dutzend Helfer rekrutiert und in wenigen Stunden wurden das falsche Kalenderdatum aller (= zehntausende!) WT-Welt-Magazine mit dem richtigen Datum überklebt. „Gemeinsam sind wir stark“ und „We are family“ waren für Andreas Gross keine leeren Worte, diese Mottos spiegelten für ihn eine Lebenshaltung wieder!

Andreas Gross auf dem Cover der WT-Welt 35

Wir möchten uns – auch im Namen von Andreas Frau Ina – für die überwältigende Anteilnahme bedanken, die uns von überall her erreichte. Tief bewegt waren wir, wie viele zur Bestattung nach Niedersaubach anreisten, um DaiSifu Andreas Gross die letzte Ehre zu erweisen.

Andreas und Ina Gross

GM K. R. Kernspecht, Gründer und Leiter der EWTO