EWTO

40 Jahre EWTO oder WingTsun-Potenzial steigt stetig nur an …

Wir werden zum Jubiläumslehrgang einen Teil des offiziellen Showprogramms gestalten.“ Diese Ankündigung unseres SiFus Cosimo My hat gesessen – wie ein gut ausgeführter Schlag. Und schon fließt das Adrenalin durch unsere Adern, denn jedem von uns ist sofort klar, was für eine ehrenvolle Aufgabe das ist.
Einige von uns haben noch nie am Internationalen Lehrgang in Hockenheim teilgenommen und kennen lediglich die Berichterstattung dazu aus der WingTsun-Welt. Eines ist jedoch gewiss: Das wird  g r o ß!

Im Oktober 2015. SiFu Cosimo, Sifu Mark, Sifu Hakan und Sifu Sven setzen sich zusammen und entwerfen ein erstes Konzept für unsere 20-minütige Show, die in mehrere Teile gegliedert wird. Sie wollen eine Show kreieren, die sowohl die traditionellen, die technisch anspruchsvollen als auch die unterhaltsamen Eigenschaften unseres WingTsuns repräsentiert.

Eine kleine Entstehungsgeschichte …

Im November 2015. Die einzelnen Gruppen der Showacts treffen sich zum individuellen Training und choreografieren ihre Darstellung. Am Anfang wirkt vieles etwas holprig und so werden die Abläufe auch ständig hinterfragt und angepasst. „Macht man das so?“ „Sieht das gut aus?“ Die Anfangsphasen sind geprägt von viel Selbstreflektion, wobei jede Übungseinheit von entsprechender Nervosität begleitet wird. Zum Glück behalten die Sifus den Gesamtüberblick der Show und stehen den einzelnen Gruppen jederzeit beratend zur Seite. Wir nutzen jede freie Minute vor, nach und teilweise auch während des normalen WT-Unterrichts für das gemeinsame Üben. Schnell wird uns allen bewusst, dass diese Herausforderung uns ein ganzes Stück Selbstdisziplin abverlangt. Obwohl wir gedanklich seitdem Spätherbst immer beim großen Event sind, dürfen wir unser reguläres Training nicht vernachlässigen und so arbeiten wir nicht nur an einer einstudierten Choreographie, sondern auch an der Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten.

Im Dezember 2015. Die Weihnachtszeit steht vor der Tür und trotz aller Verlockungen, die der Dezember so mit sich bringt, konzentrieren wir uns weiterhin auf unsere Aufgaben und treffen uns an den Wochenenden und nach dem Unterricht zum Üben. Kurz vor Weihnachten gönnen wir uns jedoch eine Atempause und verabschieden uns in die Ferien, um gut erholt und gestärkt im neuen Jahr weiterzumachen.

Januar bis März 2016. Die Choreographien stehen und die Abläufe haben sich schon gut eingeschliffen. So langsam beginnt das große Bild, seine richtigen Farben und Formen anzunehmen. Die begleitende Musik wird zurechtgeschnitten und dazu geübt. Schnell wird klar, dass dies die nächste Herausforderung ist; denn was in Gedanken so einfach erscheint – die eingeübten Bewegungen passend zur Musik auszuführen – ist in der Realität dann doch etwas schwieriger. Es werden regelmäßig Einsätze verpasst, das Timing zur Musik stimmt nicht und bei so manchen Übermut geht auch schon mal das Equipment kaputt oder der Partner wird versehentlich verletzt.
So durfte sich zum Beispiel der ETWO-Shop am Jahresanfang über mehrere Bestellungen von Langstöcken von SiFu Cosimo gefreut haben, denn diese waren besonders anfällig. Es entstehen hitzige Diskussionen um die richtige Kostümwahl. So glühen an manchen Abenden unsere Handys vor lauter WhatsApp-Nachrichten, wenn jemand ein „schickes“ Teil in einem Internetshop gefunden hat, was doch hervorragend passen würde. Würde, ist das Stichwort: auch hier stellen wir fest, dass nicht jedes Kleidungsstück an jedem Teammitglied ideal aussieht. So viel Eitelkeit darf dann doch sein.

Bei aller Ernsthaftigkeit und Disziplin bleibt der Spaß nicht auf der Strecke. Während der Übungseinheiten wird viel gelacht und wir entdecken eine spielerische Seite des WingTsun, die allen große Freude bereitet. Wenn man so viel Zeit miteinander verbringt und gemeinsam an der Erreichung eines Ziels arbeitet, entsteht eine enge Verbindung. Wir lernen unsere Trainingspartner von einer anderen Seite kennen. Wir nehmen Rücksicht aufeinander und wenn eines der Teammitglieder etwas niedergeschlagen zu sein scheint, wird es mit der Kraft von allen wieder aufgebaut.
Eines ist klar: Niemand steht allein im Vordergrund, um sich dort zu produzieren, sondern wir arbeiten an einer Teamleistung, bei der jedes Mitglied eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat.

Im April 2016. Das große Event rückt mit großen Schritten näher. Wo ist nur die Zeit geblieben? Weiterhin wird fleißig geübt und wir tauschen uns regelmäßig mit den anderen Gruppen der Showacts aus. Die Aufregung steigt und spornt uns gleichzeitig an.

Im Mai 2016. Erst eine Woche vor dem Internationalen Lehrgang, als wir uns mit allen Teilnehmern zu einem gemeinsamen Trainingstag in der WT-Akademie von Sifu Cosimo in Bad Wildungen treffen, wird uns das Ausmaß dieser Show tatsächlich bewusst. Endlich lernen wir alle Mitglieder persönlich kennen und die dargebotenen Einzelteile ergeben nun ein vollständiges Gesamtbild. Die Monate zuvor waren wir größtenteils in unseren Einzelgruppen beschäftigt und konzentrierten uns maßgeblich auf „unsere“ Darbietung. Doch jetzt wird uns klar: „Wir sind ein TEAM!“ Vierzehn WT-ler vereint durch eine gemeinsame Aufgabe, vereint durch vier Sifus.

Hockenheim, 12. bis 16. Mai 2016. Am Donnerstagabend treffen wir alle zur ersten Probe auf der Bühne in Hockenheim ein. Und wieder steigt die Nervosität. „Man, was bin ich froh, wenn der Sonntagabend vorbei ist!“ Diesen Satz hört man mit einer beängstigenden Regelmäßigkeit von jedem aus dem Team. Irgendwann kommt einfach der Zeitpunkt, an dem man sein Ziel erreichen möchte. Jeder Durchlauf der Show wird zwar konzentriert ausgeführt – hier und da geht auch einmal etwas daneben, so wie es sich für eine anständige Probe gehört – aber wir sind uns alle einig, dass das Ende der Proben herbeigesehnt wird.

Der erste Tag des Lehrgangs versetzt uns schnell in Erstaunen bis hin zur Fassungslosigkeit. Natürlich war uns von Anfang an klar, dass es  g r o ß  werden würde. Aber alle Lehrgangsteilnehmer plötzlich auf einen Haufen versammelt zu sehen, die Meister, die Großmeister, SiGung Kernspecht, lässt uns buchstäblich den Atem stocken. Von nun an ist an einer lockeren Teilnahme am Lehrgang nicht mehr zu denken. Wir nehmen zwar an einigen Seminaren teil, aber im Grunde sind wir nur von dem Gedanken beherrscht, was wohl passiert, wenn wir am Sonntagabend gemeinsam auf der Bühne stehen. Wird etwas schiefgehen? Was werden die Zuschauer über uns denken? Haben wir doch so viel Herzblut in diese Show gesteckt. In diesem Moment kann jeder von uns nachvollziehen, was für Seelenqualen ein darstellender Künstler vor seinem großen Auftritt durchmachen muss. Oder gar ein Krieger, der mit seiner Truppe in die Schlacht zieht.

Sonntag, 15. Mai 2016. Nun ist der Moment, auf den wir so viele Monate gemeinsam hingearbeitet haben, da. Während das Abendprogramm auf der Bühne weiterläuft, verziehen wir uns in einen Trainingsraum, um unsere Kostüme anzuziehen und uns warm zu machen. Schnell werden noch ein paar Abläufe geprobt und wird sich gegenseitig Mut zugesprochen. Dieses Gefühl einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, von Weggefährten mit einem gemeinsamen Ziel ist auf seinem Höhepunkt, als wir hinter der Bühne stehen und die letzten Minuten abwarten, bis es endlich losgeht. Jedem von uns ist bewusst: Es gibt nur eine Chance, alles richtig zu machen. Nicht wie bei den Proben, in denen man abbrechen und rufen konnte: „Noch mal von vorn, bitte!“. Was uns bei den Proben als fast unendlich erschien, ist blitzschnell vorbei.

Hinter der Bühne fiebert jede Gruppe bei den Auftritten der anderen mit und ehe man sich versieht, ist man selber dran und steht im gleißend hellen Scheinwerferlicht auf der Bühne vor über tausend Zuschauern. Kleinere Pannen werden so gekonnt überspielt, dass nur wir es bemerken und jede Gruppe verlässt die Bühne mit dem Gefühl: „Das haben wir gerockt!“. Das Adrenalin schießt uns wieder durch die Adern und vor unserem inneren Auge spielen sich in Sekundenschnelle die Erlebnisse und Eindrücke der vergangenen Monate ab. Überwältigt von unseren Emotionen stehen wir nun alle gemeinsam als Team auf der Bühne und verbeugen uns vor dem Applaus der Zuschauer. Die Musik setzt ein und MaxZ wird zum Abschluss die Geschichte vom WingTsun in seinem eigens für diesen Moment komponierten Song rappen. Da betritt SiGung Kernspecht die Bühne und wieder stockt uns der Atem, als er zu jedem Einzelnen von uns kommt und sich bedankt. Auch wenn es nur Sekunden sind, scheint dieser Moment eine Ewigkeit zu dauern und erst jetzt werden wir uns wieder bewusst, was wir in den vergangenen Monaten geleistet haben. Und MaxZ rappt seinen EWTO-Song, nachdem wir unsere Überraschung bewältigt haben.

Die After-Show-Party. Etwas Erstaunliches passiert, denn trotz aller Ausgelassenheit und Freude über die gelungene Darbietung kommt eine neue Stimmung in unserem Team namens „Wehmut“ auf. Haben wir gerade so sehr diesen Moment, dass es endlich vorbei ist, herbeigesehnt, so wünschen wir uns auf einmal, dass es eben noch nicht vorbei sei. Wir sind zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, die „Schlacht“ ist geschlagen und nun sollen sich unsere Wege wieder trennen. Ein schmerzlicher Gedanken, den wir alle ein Stück weit bedauern. Also nutzen wir die Zeit und feiern ausgelassen bis spät in die Nacht, lachen, tanzen und genießen die verbleibende Zeit in diesem vertrauten Bund. Nach und nach nehmen wir Abschied voneinander und werden uns bewusst, was mit einer Aufgabe vor rund acht Monaten begann, hat seinen gebührenden Abschluss gefunden: Brüder und Schwestern im Geiste – auch das würden wir in Zukunft bleiben.

The Aftermath. Keine zwölf Stunden später sind wir wieder zuhause bei unseren Familien und dürfen uns als „siegreiche Krieger“ feiern lassen. Wir berichten von unseren Eindrücken und Erlebnissen, zeigen Fotos und stellen fest, dass es schwer begreiflich zu machen ist, was wir erlebt haben. Diese überschwänglichen Gefühle, der Stolz auf die erbrachte Leistung lässt sich doch am besten mit den Menschen teilen, die unmittelbar dabei waren: unsere Showgruppe von SiFu Cosimo My, Sifu Mark Tietz, Sifu Hakan Aslan und Sifu Sven Weipert.

Es brauchte noch einen weiteren Tag, bis wir das Erlebte sozusagen verdaut hatten. Am Dienstagabend traf die Gruppe um SiFu My wieder zum regulären Training zusammen. Sichtlich angeschlagen von den intensiven Proben, dem Auftritt, den vielen unbeschreiblichen Eindrücken und dem Mangel an Schlaf der vergangenen Tage war dieses Band der Verbundenheit wieder da. Mit dem Wissen, das dieses Erlebnis für immer in unserer Geschichte verankert sein wird, widmeten wir uns wieder unserem WingTsun.

Text: Alicia Glatzeder
Fotos: mg/EWTO-Schule Bad Wildungen