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„Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Thorsten de Vries“

Sifu Thorsten de Vries, 3.TG, zur von Großmeister Kernspecht angestoßenen Diskussion zum Stellenwert des Chi-Sao innerhalb des WingTsun ...

Beim Chi-Sao mit Dir fühle ich kaum was – außer den Treffern

Lieber Si-Gung,
schade, dass der letzte Privatunterrichtstermin ausfallen musste. Ich hoffe, Du hast bald einen Ersatztermin.
Aber auch an den Termin davor kann ich mich noch sehr gut erinnern. Abgesehen mal davon, dass das Chi-Sao Training mit Dir jedes Mal erneut frustrierend ist, so ist es auch jedes Mal eine Bereicherung und Inspiration. Ich habe das Gefühl, dass mich der Privatunterricht bei Dir schneller voran bringt, aber nicht nur durch das Üben mit Dir, sondern auch durch den Versuch, zu verstehen, warum Deine Bewegungen so unendlich viel schneller als meine zu sein scheinen.
Mein Ziel ist es, das WingTsun auch irgendwann so zu beherrschen wie Du. Je näher ich diesem Ziel jedoch komme, desto mehr habe ich das Gefühl, dass die Schritte und damit der Fortschritt immer kleiner werden. Dabei stelle ich mir immer wieder die Frage, ob das, was wir beide Chi-Sao nennen, überhaupt das Gleiche ist. Ich meine, eine für mich neuartige Form von Chi-Sao zu erkennen. Mir fällt es mir schwer, zu verstehen, was ich können sollte und was nicht zu meinem Programm gehört. Wenn ich denke, dass ich 90 % meines Programmes beherrsche, können das 20 % von Deinem Können sein, aber es könnten auch nur 2 % sein. Am meisten daran frustriert die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob der Weg auf dem ich mich befinde, auch der richtige Weg ist.
Auf dem Lehrgang in Kiel war mein Erlebnis mit Dir tiefgreifend, da ich der Meinung war, richtig reagiert zu haben. Aber was bedeutet schon richtig oder falsch. Das war für mich der Punkt, an dem ich anfing, mich noch intensiver mit der Übung auseinander zu setzen. Ich hätte auf den Druck elastisch reagieren müssen, weil es die Übung war. Stattdessen hatte ich aber die Arme starr gehalten und mit der Gewichtsverlagerung gearbeitet. Oder ich hatte den Angriff antizipiert und nicht mit Chi-Sao-Reflexen, sondern über die Augen reagiert.
Seitdem habe ich viel über diese Erlebnisse nachgedacht und die Übungen mit meinen Ausbildern ausprobiert. Dabei sind mir viele Dinge durch den Kopf gegangen. Einen Teil davon habe ich mal versucht nachfolgend näher darzustellen.
Während wir im BlitzDefence über die Augen die Entscheidung des Angreifers, sich zu bewegen erkennen lernen, verlassen wir uns beim Chi-Sao auf das, was wir taktil wahrnehmen. Doch beim Chi-Sao mit Dir fühle ich kaum etwas, außer den Treffern.
Würde ich einen Druck fühlen, wäre es mein eigener und damit kann ich nicht auf Deinen Druck reagieren, der mir entgegen kommt. Ich erinnere mich, als Du mir Dein Stop-Chi-Sao unterrichtet hattest. Das Thema hat mich nachhaltig beschäftigt. Sollte es tatsächlich so sein, dass an jedem Punkt eines Bewegungsablaufes die Richtung einer Bewegung geändert werden kann, bedeutet dies einen überlegenen Vorteil demjenigen gegenüber, der diese Punkte nicht kennt. In meiner Dimension bedeutet dies, dass ich statt mit Bong-Wu wie im Schülerprogramm mit einer Gewichtsverlagerung und Jam-Sao aus dem Holzpuppenprogramm reagieren kann. Für mich ist dies nur ein Punkt. Aber wie viele dieser Punkte kennst Du? Und wie viele Variationen davon mit deren Abwehren gibt es zusätzlich noch?
Ich frage mich, ob Chi-Sao gar nicht das Kleben der Arme ist, sondern eher das sich wieder lösen können? Mich dann zu lösen, wenn ich es möchte, an einem x-beliebigen Punkt. Es gibt viel mehr offene Fragen als Antworten. Vielleicht ist auch die Reaktion auf den Druck schon zu spät, die Reaktion auf den Kontakt noch nicht früh genug? Ist davor schon die Kontraktion der Muskulatur zu spüren, wäre das eine taktile Wahrnehmung eines Reizes, auf den ich nicht direkt reagiere, sondern diesen stattdessen antizipiere und eine ganz andere Aktion folgen lasse. Sozusagen also eine taktile Antizipation.
Wenn Du mich unterrichtest, bin ich nur damit beschäftigt zu reagieren. Wer agiert, braucht nicht zu reagieren.
Beim Unterrichten der neuen Programme, gerade der vom letzten Lehrgang, haben viele Schüler und auch Ausbilder ein Verständnisproblem mit der Positionierung der Arme. Sie sehen weder, dass die Position mit beiden Armen vorne eigentlich nichts anderes ist als Man-Sao Wu-Sao mit doppeltem Man-Sao. Der für den Angreifer vermeintlich ungeschützte Bereich im Zentrum wird ihn verleiten, dort anzugreifen. Aber noch weniger verstehen Sie die Art der Gewichtsverlagerung, wie auch, wenn diese aus dem LDBK-Programm stammt.
Trotz umfangreicher Versuche, meinen Ausbildern das zu erläutern und zu demonstrieren scheint es für diese, als wäre es nicht mehr das WT, wie es vorher war. Sie scheuen sich, den breiteren Keil mit Tan oder Fook zu benutzen. Aber wie kann man auch was erklären, von dem man selbst nur eine kleine Idee hat. Für mich selbst jedoch wird das Programm immer deutlicher.
Wenn der optische Reiz, also die Antizipation der Entscheidung anzugreifen ist, dann ist die nächste darauf folgende Stufe die taktile Antizipation oder sogar Intuition. Du sagtest mal, allein schon der Gedanke ist strafbar. Erst danach erfolgt die herkömmliche Chi-Sao-Reaktion auf den Druck.
Da der Übergang von der freien Phase in die Kontaktphase so etwas wie einen Schock erzeugt, ist es sehr schwierig, darauf spontan elastisch zu reagieren. Das ist so ähnlich wie mit dem Wasser, aus nächster Nähe gibt es nach und bei starker Beschleunigung kann es hart wie Beton sein. So ähnlich reagieren unsere Arme beim Auftreffen des gegnerischen Armes. Dazu kommen natürlich noch die Auswirkungen des Adrenalins, also Anspannung der Muskulatur und der Tunnelblick.
Für mich dürfte hierin ein Schlüssel für das Verständnis des Holzpuppenprogrammes liegen. Denn dieser ermöglicht mir trotz erstarrter Arme, um die gegnerischen Arme herumzugehen, um so dem Angriff aus dem Weg zu gehen, bzw. selbst anzugreifen. So hattest Du es zumindest auf einem der TR4-Seminare erklärt, zumindest habe ich es so verstanden.
Ich persönlich finde die Chi-Sao Sektionen nach wie vor sehr wichtig, weil diese für mich immer der rote Faden sind, an dem ich mich beim Unterrichten orientieren kann. Ich denke, wenn man die Reflexe isoliert unterrichten würde, die Selbstverteidigungsfähigkeit sich sicherlich teilweise verbessern würde. Ich bin jedoch der Meinung, dass ohne diese Zweimannspiele das WingTsun darunter leiden würde. Musik oder Sprache sind halt auch nicht auf wenige oft geübte Phrasen oder Melodien begrenzt.
Ich hoffe, dass Du meinen Gedanken ein wenig folgen konntest. Ich hätte sicherlich einiges noch ausführlicher schreiben können, jedoch ist bis zum Monatsanfang nicht mehr soviel Zeit.
Vielleicht hast Du ja beim nächsten Unterricht ein paar Antworten für mich oder korrigierst die eine oder andere falsche Idee.


Sifu Thorsten de Vries, 3.Lehrergrad

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