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Was ist Aufmerksamkeit? – Teil 1

Wir schenken Aufmerksamkeit, wir bekommen Aufmerksamkeit geschenkt, unsere Aufmerksamkeit wird gefesselt oder gefangen genommen usw. Eigenes Verständnis über Aufmerksamkeit halte ich für das innere Gleichgewicht und die psychische Gesundheit eines Menschen für notwendig.

Eine einfache Übung

Mit deinen Ohren nimmst du die ganze Zeit über Geräusche wahr. Aber was ist dir davon in den – sagen wir – letzten fünf Minuten bewusst geworden?
Halte hier bitte beim Lesen inne. Und lese nun den nachfolgend noch einmal wiederholten Satz ganz langsam und in Ruhe laut durch. Lasse dir dabei viel Zeit:

Mit deinen Ohren nimmst du die ganze Zeit Geräusche wahr. Aber was ist dir davon in den – sagen wir – letzten fünf Minuten bewusst geworden?

Du wirst feststellen, dass du allmählich stärker auf die Höreindrücke zu achten beginnst.

Eine intensivierende Übung

Achte ganz scharf und aufmerksam auf das, was du jetzt in diesem Moment gerade hörst.
Nein, nicht die Luft anhalten! Ganz locker und entspannt bleiben und lasse die Geräusche frei in dich eindringen. Bleibe ganz Ohr!
Eindeutig gibt es einen Unterschied zu vorher. Worin besteht er? Die Ohren sind unverändert, im Gegensatz zu den Augen können wir sie nicht fokussieren. Aber mit der Aufmerksamkeit können wir etwas tun.

Ich schlage zwei Möglichkeiten vor:

   1. Wir können bestimmte Höreindrücke selektieren, z.B. das Summen des Lüfters, die Geräusche von der
       Straße. Wir können speziell hinhören.
   2. Wir können uns für die Gesamtheit aller akustischen Eindrücke empfänglich machen.

Im ersten Fall ist unsere Aufmerksamkeit wie ein Richtstrahl. Unser Zustand ist aktiv, konzentriert, wir spannen uns geistig (und vielleicht auch körperlich) an. Im zweiten Fall sind wir weicher, offener und eher passiv gestimmt, aber dennoch wachsam.
Bleiben wir bei diesen Beobachtungen. Ob erster oder zweiter Modus der Aufmerksamkeit – es ist erkennbar, dass da etwas geschieht und dass eine Art von Umschalten stattfindet. Am besten machst du deine eigenen Versuche: Probiere und spiele damit, zwinge dir nichts auf, sondern experimentiere mit dem, was im Feld der Aufmerksamkeit geschieht.

Grundbegriff Aufmerksamkeit

In der Physik gibt es Grundbegriffe und abgeleitete Begriffe. Es gibt Zusammenhänge, die auf Grundannahmen zurückgeführt werden können, und es gibt Dinge (Ideen, Axiome, Kategorien), die nicht weiter zu reduzieren sind. Je klarer eine Theorie auf wenige Grundannahmen zurückzuführen ist, desto zutreffender ist sie – desto wahrer, schlüssiger und schöner wird sie empfunden.

Aufmerksamkeit kann auf nichts anderes mehr zurückgeführt werden – sie ist der Grundbegriff. So wie Raum und Zeit nicht weiter definierbar sind, sondern mit etwas übereinstimmen, das wir mit allen anderen Menschen in unserem Leben, in unserer Welt, in unserer Wirklichkeit als existent erfahren, so erleben wir auch die Aufmerksamkeit als existent.
Doch wir können sie nicht definieren; denn wenn wir sie (biologisch, psychologisch) als Prozess im Gehirn erklären wollten, würde sich folgende Frage stellen: Woher, ohne Aufmerksamkeit, wissen wir, was ein „Prozess im Gehirn“ ist? Aufmerksamkeit ist das Licht, das eine Sache erst aus dem Dunkeln hervorhebt und erkennbar macht. Durch die Aufmerksamkeit wird alles erst durch Wahrnehmung existent. Ohne Aufmerksamkeit wären wir quasi besinnungslos oder schlafend. Doch selbst im Schlaf ist Aufmerksamkeit aktiv. Die Aufmerksamkeit ist es also wert, dass man sich näher mit ihr beschäftigt.
Es gibt genau genommen zwei verschiedene Arten von Aufmerksamkeit:

   1. die fremdbestimmte Aufmerksamkeit und
   2. die selbstbestimmte Aufmerksamkeit

Die selbstbestimmte Aufmerksamkeit führt ein Schattendasein. Mit deiner eigenen bestimmten Aufmerksamkeit bist du ganz allein. Das ist etwas wie dein Appetit, dein eigener Geschmack, deine eigenen Wünsche. Und da jeder anders ist, verfolgt jeder seine eigene Intention.
Und über die fremdbestimmte Aufmerksamkeit sollte man sich seine eigenen Gedanken machen. Die fremdbestimmte Aufmerksamkeit wird mit dem Ausdruck Identifizierung treffend benannt. Wir identifizieren uns mit dem Gegenstand unserer Wahrnehmung.

Zwei Arten der Identifizierung

1. Die Identifizierung mit Dingen außerhalb unserer selbst: beim Fernsehen, beim Blick in ein Schaufenster
    usw. Wir gehen völlig in der Sache auf, wir vergessen uns selbst, wir verschwinden in Hinblick auf das
    Bewusstsein. Man kann das am besten bei anderen Menschen beobachten.

2. Die Identifizierung mit Dingen in uns selbst: Das ist der innere Monolog, der Verstandesassoziationen
    aneinanderreiht. Menschen in diesem Zustand bekommen oft einen geistesabwesenden Blick und
    sehen nicht, was sich vor ihren Augen abspielt. Diese Form der Geistesabwesenheit ist Tagträumerei –
    wir lenken nicht mehr unsere Gedanken, wir werden von ihnen fortgetragen. Zumeist pendelt die
    Gedankentätigkeit zwischen Zukunft und Gegenwart hin und her. Sie vermischt sich je nach Charakter
    mit Emotionen des Sich-Bedauerns, mit Jammern, Sich-Beschweren oder optimistischen Hoffnungen.

Ein Mensch im Zustand der Identifizierung ist nicht nur unbewusst, er ist zudem eine Marionette äußerer Kräfte und Umstände. Er lebt nicht sich selbst – er wird gelebt.
Es liegt nun nahe, sich eigene Gedanken zu machen, ob man Identifizierung vermeiden will, ob man hier etwas tun kann und wie?

Text: Alfred-Johannes Neudorfer
Fotos: hm