Editorial

Wann Korrekturen stören

Warum es nicht gut ist, den Trainingspartner ständig zu korrigieren und warum es auch nicht gut ist, den Unterricht ständig zu kommentieren. Großmeister Kernspecht und Gastautor Sifu Lars Böckers über „schlechte Angewohnheiten“ beim WT-Training.

Zunächst soll Sifu Lars Böckers zu Wort kommen:

Es gibt viele Arten, die wertvolle Trainingszeit zu vergeuden. Aber eine der effektivsten und subtilsten Möglichkeiten ist es, seinen Trainingspartner und sich selbst durch ständige Korrekturen aufzuhalten und dabei noch das Gefühl zu haben, besonders konstruktiv zu arbeiten.
Ab und zu versuche ich über sämtliche technischen Details und Fehler hinwegzusehen und achte einmal nur darauf, wie die Trainingspartner im Unterricht miteinander umgehen. Dann nehme ich ein ständiges Herumkorrigieren, Besserwisserei und Diskutieren wahr. Oft stehen mir bei falscher oder unsachlicher Kritik die Haare zu Berge, aber selbst wenn der Besserwisser (im positiven Sinne des Wortes) Recht hat, ist das Korrigieren des Partners oft unproduktiv und macht das Training uneffektiv. Zumindest ist es ein Diebstahl wertvoller Erfahrungen.
Ein Problem ist, dass der Besserwisser oft leider keiner ist, sondern sich nur für denjenigen hält, der es besser weiß. Daraus resultieren oft kreative und spektakuläre, aber leider falsche Techniken. Wenn der Trainingspartner zudem auch noch ein Pseudo-Besserwisser ist, schaukelt sich das Ganze manches Mal so hoch, dass ich bei meinem „Rundgang“ die von mir vorgegebene Übung nicht einmal mehr erkennen kann. Noch schlimmer jedoch, wenn der Besserwisser eine solche Überzeugung und Autorität an den Tag legt, dass der arme Trainingspartner ihm seine falschen Korrekturen glaubt.
Zudem kommt die Blamage, wenn der Besserwisser nicht bemerkt, dass er tatsächlich nur ein Besser-WISSER aber kein Besser-KÖNNER ist und die gleichen Fehler macht, die er am Partner so unerträglich findet.
So manch einem würde es gut tun, sich mehr mit seinen eigenen Fehlern zu beschäftigen als mit denen des Partners. Den Partner ständig zu korrigieren führt nur zur Ablenkung von dem eigenen Körper und evtl. noch zur Erleichterung, die eigenen Fehler nicht mehr wahrnehmen zu müssen.
Aber selbst wenn der Besserwisser tatsächlich jemand ist, der es besser weiß, ist er noch lange nicht qualifiziert, die Korrekturen zum gegenseitigen Nutzen anzubringen.
Auch der Lehrer korrigiert nicht immer alle Fehler. Das liegt daran, dass der Mensch sich nur äußerst schwer auf mehrere Sachen zur gleichen Zeit konzentrieren kann. Daher ist es unmöglich, mehrere Fehler gleichzeitig zu verbessern. Wer das nicht glaubt, kann ja mal den Lehrer dazu auffordern, z.B. die Form zu korrigieren und dabei jeden und wirklich jeden Fehler anzumerken. Der Lehrer entscheidet daher, welcher Fehler im Vordergrund steht, wo er eine Korrektur anbringt, aber auch was zu dem Zeitpunkt nicht so wichtig ist und was nicht korrigiert wird. Wenn jetzt der Trainingspartner daherkommt und alles korrigiert, was ihm gerade so auffällt, was ihm in den Sinn kommt oder gar das, was der Lehrer vorher an ihm selbst korrigiert hat, so behindert er den Lernvorgang.
Zu alledem ermöglichen es Fehler auch Erfahrungen zu sammeln. Es wäre also besser, wenn der Trainierende einen Fehler machen kann, um dann selbst die Konsequenzen zu spüren. Aber leider setzt dies voraus, dass der Besserwisser vor allem ein Besserkönner ist, der den Fehler mittels seiner Fähigkeiten zu fühlen nutzen kann. Dann hätten beide etwas gelernt. Der eine, den Fehler zu fühlen und darauf zu reagieren, der andere hätte die negative Konsequenz seines Fehlers gespürt und nicht nur darüber gesprochen. Beide trainieren sich besser. Aber leider sind die meisten keine Besserkönner und so reden sie nur über die Fehler der anderen, was wenigstens darüber hinwegtröstet, es selbst nicht besser zu machen.
Also: Nutzt die Zeit, um zu trainieren und nicht, um Lehrer zu spielen. Lasst lieber Eure Taten sprechen und nutzt den Fehler auf sanfte und spielerische Weise, damit Ihr und der Trainingspartner wirklich Erfahrungen sammeln könnt. Verbessert lieber Eure Fähigkeit, den Fehler zu nutzen, als Eure Fähigkeit, andere zu kritisieren. Dann wird auch der Partner den Fehler nicht mehr machen können, ohne dazuzulernen. Wenn dann noch eine Situation entsteht, in dem ein gemeinsames Trainieren nicht möglich ist, weil der eine mit seinem Fehler so sehr aus der Übung fällt, dann ist immer ein Lehrer da, der gefragt werden kann, und der gerne den Fehler analysiert und auf konstruktive Weise korrigiert.
So wie ich bei meinem „Rundgang“ und auch jetzt beim Schreiben dieses Textes über jeden Besserwisser schmunzle, versucht doch auch einmal über Euch zu schmunzeln, wenn Ihr Euch vielleicht auch Mal beim Besserwissen erwischt und dann: trainiert!

Liebe Grüße
Euer Lars Böckers

 

Der störende Kritiker im Kopf

Großmeister Kernspecht über das schädliche „Selbstkritisieren“

Auch mich hat das eifernde „Lehrerspielen“ unter Schülern schon oft gestört, aber mit der Idee, diesem Verhalten ein Editorial zu widmen, kam mir Lars zuvor.
Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, zusätzlich ein ähnliches Verhalten ansprechen, das mindestens ebenso schädlich ist, allerdings nur für den Täter selbst, nicht für andere.
Beim Privatunterricht erlebe ich es immer wieder, dass der Schüler alles, was geschieht, kommentiert. Fast unablässig ärgert er sich laut über Fehler, die er meint begangen zu haben. („Verdammt, nun hab ich schon wieder den Bong-Sao hochgehoben“)
Unbarmherzig kritisiert und verbalisiert seine linke Gehirnhälfte all sein Tun wie ein fremder und unbestechlicher Prüfer („Jetzt hätte ich Kao-Sao machen müssen. Scheiße, zu lange gewartet“). Nichts lässt er sich durchgehen, nichts kann er sich rechtmachen.
Mir, dem eigentlichen Lehrer, pfuscht er dabei ins Handwerk und macht mir die Arbeit sauer. Ich ertappe mich dabei, ihn vor sich selbst zu verteidigen („So schlecht war es doch gar nicht“ oder „Dir fehlt nur die Übung“)
Er wird von mir irgendwo leicht getroffen und hebt auf der Stelle an, sich zu erklären, welche Fehlerkette, welches Missverhalten seinerseits die Ursache für diesen Treffer war. Während ich vieles nur auf mangelndes Training zurückführen und keiner Erwähnung für wert halten würde, weiß er es besser als ich: unablässig geht sein Mund.
Fehler sieht er sogar, wo keine sind. Er meckert an sich herum und wird immer verbissener, immer steifer und verkrampfter. Kein Wunder, denn er versucht, etwas bewusst zu machen, was „von selbst“ geschehen soll. Aber sobald das Bewusstsein sich einmischt, wo es nichts zu schaffen hat, sondern nur stört, werden wir zum hoffnungslosen Stümper.
Gerade beim Chi-Sao geht es darum, das Bewusstsein völlig auszuschalten, und die „fühlenden“ Arme nicht bei ihrer autonomen Tätigkeit zu behindern. Selbst der erfahrene Autofahrer würde im normalen Stadtverkehr gehemmt und deshalb fehlerhaft wie ein Anfänger fahren, wenn er sich unter den beobachtenden Blicken eines Fahrlehrers wähnte. Wer sich beim Chi-Sao kritisch beobachtet, kann sein Denken nicht aufgeben und  sabotiert seinen Lernerfolg. Und falls er ihn nicht ganz unmöglich macht, dann verzögert er ihn ...
Wenn sich jemand „in meine Hände“ begibt, um sich von mir Semi-Reflexe einpflanzen zu lassen, so geschieht das wie eine Art Massage. Der „Patient“, das Wort erinnert schon an „Passiv“, an Warten, Leiden, Hinnehmen, also an das Gegenteil von Aktivwerden, muss Geduld mit sich haben und mir alles überlassen. Es ist meine Aufgabe, ihn gut zu „machen“, er muss es mir nur „erlauben“, indem er mir seinen Körper für 90 Minuten überlässt. Diagnosen stellen ist mein Ding, darin habe ich über 45 Jahre Erfahrung und ich werde dafür bezahlt. So gut, dass er darüber nachdenken sollte, ob er in das gesetzte Trainingsziel z.B. nur 2 Stunden oder gar 20 Stunden investieren will. Denn wenn aufgrund unablässigen Sprechens und Denkens, wo nur Fühlen angebracht ist, die linke Gehirnhälfte beteiligt ist, kann sich die benötigte Zeit leicht verzehnfachen. Reden hat beim Einpflanzen von „Reflexen“ nichts zu suchen, es ist lästig und kontraproduktiv, es erlaubt mir nicht, die beste Leistung zu geben, die ich liefern könnte. Ich möchte stolz auf meine Arbeit sein können, möchte was schaffen und mir wäre deshalb am liebsten, mein „Patient“ würde ganz darauf verzichten.
Ebenso störend und überhaupt nicht „zielführend“ sind übrigens Fragen wie: „Si-Fu, diese Technik, die du gerade gemacht hast, stammt doch aus der 4. Ableitung der dritten Schicht der 5. Sektion Holzpuppenchi-Sao, so wie Sigung sie uns 2005 in Italien gezeigt hat, oder?“
Glaubt denn irgendjemand, dass ich so ein kissenpupender Theoretiker bin, der vorher darüber nachdenkt, aus welcher Sektion er eine Technik macht? Ich „mache“ überhaupt keine Technik. Die Bewegung, der Treffer (nicht wirklich „Technik“) wird vom anderen provoziert und „gepowert“ , ich gehe nur nicht dagegen an. Nur wenn ich hinterher ein Video von dem sehen würde, was „passiert“ ist, könnte ich sagen, in welcher Form oder Sektion so etwas „vorkommt“. Aber ich habe es nicht „gemacht“, weil es irgendwo „vorkommt“, sondern weil sich mir diese Bewegung „aufdrängte“.
Deshalb mein Rat, macht mir die Arbeit leichter und Euch schneller besser, indem Ihr Eurem Denkzentrum verbietet, sich bei meiner „Chi-Sao-Massage“ einzumischen. Entspannt und genießt!

Euer Si-Fu/Si-Gung
Keith R. Kernspecht

PS: Jetzt wird ein gutes Dutzend meiner Privatschüler denken: „Si-Fu meint mich, weil ich letztes Mal ...“ Aber tatsächlich ist niemand speziell gemeint, oder es sind alle gemeint.
Und damit nicht der falsche Eindruck entsteht: Ich bin glücklich über meine Privatschüler und genieße die Arbeit mit ihnen.