Interview mit Großmeister Keith R. Kernspecht zum Thema BlitzDefence
Mit seinem BlitzDefence-Programm definierte Großmeister Kernspecht Selbstverteidigungstraining neu.
Es ist Ende September 2011, als sich Großmeister Keith R. Kernspecht mit Sifu Frank Aichlseder in Kiel trifft.
Ihr Thema: BlitzDefence.
Das Ergebnis: Das nachfolgende Interview, das Hintergründe und Wissenswertes zum Thema BlitzDefence beleuchtet.
- Wie alles begann
- Grund für die Entwicklung von BlitzDefence
- Spezialisierung
- BlitzDefence ist WingTsun
- Triggerwort
- Stimme
- Basis für EWTO-Gewaltprävention und Kids-WingTsun
- Ritualkampf Männer/Frauen
- Überfall
- Anfänger
- Deeskalation
- Definition BlitzDefence
- Ideale Trainingsdauer
- Weitere Entwicklung
Wie alles begann
WTW: Als Du damals in Kiel auf dem Lehrgang das BlitzDefence-Programm zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit vorstelltest, war ich dabei. Das muss 2000 gewesen sein. Aber das war doch gewiss nicht der Anfang des BlitzDefence?
GM Kernspecht: Das Programm gibt es seit Mitte der 90er Jahre. Ich glaube, ich habe es das erste Mal im größeren Kreis in Südafrika unterrichtet. Dort haben wir zum Millennium auch die Fotos für das Buch „BlitzDefence – Angriff ist die beste Verteidigung“ geschossen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass es seit etwa fünf Jahren in der Entwicklung war, d.h. ich habe es in der Zeit mit Privatschülern hier und da gemacht – und darüber nachgedacht.
Ich weiß noch, dass – als ich das Buch herausbrachte – ich hohe Meistergrade hatte, die zu mir kamen und meinten: „SiFu, das ist totaler Unsinn. Da wird nie etwas draus. Das ist alles nicht gut.“ Nebenbei bemerkt sind wir bei der 9. Auflage – sprich mehrere zigtausend Bücher haben wir inzwischen an den Leser gebracht.
Kollegen aus anderen Kampfkünsten, hohe Dan-Träger, sagten damals ebenfalls, das sei ganz, ganz falsch und es sei ein schlechtes Buch. Einige Leute, denen ich es vor dem Druck zu lesen gab, haben der BlitzDefence-Idee keine Chance gegeben. Ex-Schüler von mir kritisierten es, als es herauskam. Interessanterweise brachten sie später ihr eigenes „Defence“ heraus. Es hieß dann nicht BlitzDefence, sondern begann mit einem anderen deutschen oder englischen Synonym für „schnell“ oder „quick“ oder „fast“. Nur hatten sie nicht wirklich verstanden, was ich wollte. Sie verstanden die Positionen, die Gebärdensprache, die Adrenalinsituation nicht. Na gut. Eigentlich war es ja ein Kompliment, dass sie später versuchten, es nachzumachen.
Also, es gibt das Programm seit mehr als 11 Jahren und das heißt, es hat sich zweifellos bewährt.
WTW: Du sagst, BlitzDefence hat sich bewährt. Ein positives Resümee nach diesen 11 Jahren …
GM Kernspecht: Sowohl bei Zivilisten, Polizisten und beim Militär, als auch bei Personenschützern und Türstehern.
WTW: Was als Qualitätsmerkmal verstanden werden kann.
GM Kernspecht: Ja. Für Realitätsnähe.
WTW: Wie wurde sichergestellt, dass alle Schüler diese Dinge lernten?
GM Kernspecht: Wir haben damals bundesweit und auch im Ausland kostenlos BlitzDefence-Kurse für die Ausbilder durchgeführt. Damit haben wir es verbreitet, und zwar genau aus dem Gedanken heraus, dass wir es möglichst schnell unter unseren Schülern verbreiten wollten.
Grund für die Entwicklung von BlitzDefence
WTW: Du hast gesagt, Du habest Mitte der 90er damit begonnen, BlitzDefence zu entwickeln. Warum? Gab es einen Anlass oder hat Dein Forschergeist Dich da getrieben?
GM Kernspecht: Wohl beides. Das hatte damals mit den Kontakten zur Universität in Bulgarien zu tun. Ich glaube, das waren die Anfänge. Ich war seit Mitte der 90er in Bulgarien an der Universität und musste dort erklären, was ich hier überhaupt mache. Ich konnte ihnen nicht nur einfach Techniken zeigen und behaupten: „Die sind super. Glaubt mir das mal.“ Das musste logisch aufgebaut werden. Ich brauchte ein „Problem“, dass ich wissenschaftlich untersuchen konnte. Die gesamte Situation Kampf war dazu viel zu komplex. Ich brauchte eine klare Situation. Etwas, das sich klar untersuchen ließ, war der Ritualkampf. Einen Überfall kann ich nicht wissenschaftlich untersuchen. Ausgeschlossen. So ähnlich wie von Clausewitz den Krieg nicht als Krieg untersuchte, obwohl sein Buch „Vom Kriege“ heißt. Er nahm – genau wie ich – eine Reduzierung vor: Er untersuchte nicht den Krieg, sondern das einzelne Gefecht. Das ging. Ein Gefecht kann man untersuchen, aber nicht den Krieg. Das ist zu komplex.
So konnte ich den Kampf auch nicht in seiner ganzen Komplexität betrachten, sondern habe mir einen Teil herausgesucht – den statistisch am häufigsten vorkommenden. Ihn habe ich unter die Lupe genommen: Ein Typ kommt gerade auf mich zu, er muss eine bestimmte Entfernung von mir haben, sonst könnte er ja nicht zuschlagen, redet erst mit mir, dann in der Abfolge Zeigen, Schubsen, Schlagen. Halt die Art von Kampf, für den ich dann den Begriff „Ritualkampf“ prägte. Der lässt sich prächtig analysieren. Und es lässt sich eine wunderbare Lösung finden: die präventive, proaktive Verteidigung, die ich BlitzDefence nannte: erstens eine Verteidigung (defence), die blitzschnell und zweitens eine Verteidigung gegen das ist, was in den USA „blitzkrieg-attack“ (Schlägerangriff oder sucker-punch) genannt wird.
Damals kam mir der Gedanke, das Ganze wissenschaftlich so vorzubereiten, dass mir die Profs folgen konnten. Ich wollte ja WingTsun nicht als Stil vorstellen. Ich sehe mich da nicht als jemand, der Techniken vorführt, sondern als einer der Lösungen bringt.
Das heißt, ich orientiere mich an der Situation und sage: „Für diese bestimmte Situation habe ich folgende Lösung aus dem WingTsun.“ Aber das darf keine Konserventechnik sein, die ich schon habe und von der ich sage: „Seht mal, die kann man auch dagegen machen.“ Sie muss speziell für diesen Fall vor Ort entwickelt sein. Und da brauchte ich eine Situation, die ich eindeutig wissenschaftlich untersuchen konnte. Das war der Ritualkampf. Und gegen den erschuf ich das BlitzDefence. Das war einfach darzustellen.
Eigentlich war der Anfang schon durch mein Buch „Vom Zweikampf“ bereitet. Nur stellte ich in diesem Buch die traditionelle chinesische Lösung vor: Wenn der andere in meinen imaginären Kreis eintritt, den ich für meine Sicherheit brauche, dann steuere ich angezogen wie ein Magnet auf ihn zu und bringe ihn mit Kettenfauststößen zur Strecke. Also ich bestrafe ihn quasi dafür, dass er einen imaginären Kreis überschreitet, von dem er nicht weiß, dass er existiert. Und hoffe dann auf Absolution vom Gericht. Das war technisch gesehen eine funktionierende Lösung und hat auch immer geklappt. Aber das Problem ist bei uns die höhere Instanz – nämlich vor Gericht. Da bekommen wir hundertprozentig kein Recht. In China mag das anders sein, aber bei uns kommt man dann aus den Problemen gar nicht mehr heraus. Deshalb fand ich dann die Lösung, dass ich den Gegner mehr als – sagen wir – zweimal gegen meine vordere Hand, die ich aufstelle, antippen lasse, bevor ich zuschlage. Dabei weiche ich mehrfach zurück – konform zur gerichtlichen Entscheidung, dass, wenn der andere so und so oft vorgeht, man beim dritten Mal zurückschlagen „darf“. Dann ist es sanktioniert, selbst wenn der andere dabei zu Schaden kommt. Das habe ich mir zu Herzen genommen und gesagt, der muss mehrmals gegen meine Hand tippen und ich weiche jedes Mal zurück. Doch dann lege ich los. Aus diesen Gedanken heraus entstand dann das BlitzDefence zusammen mit der Spezialisierung.
Spezialisierung
WTW: Was meinst Du mit Spezialisierung?
GM Kernspecht: Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Ich habe ja eine Spezialisierung festgelegt zwischen der linken Hand und der rechten Hand, die schlagen soll. Dies gilt in diesem Fall für Rechtshänder, und zwar liegt dem der gleiche Gedanke zugrunde, wie bei den Doppelmessern oder dem Langstock. Das sind Spezialisierungen. Oder auch eine Einseitigkeit. WingTsun ist normalerweise nicht einseitig, sondern wir trainieren alles auf beiden Seiten. Hier habe ich extra dem Hick‘schen Gesetz folgend für dieses Programm die Einseitigkeit gewählt; denn durch die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten und das Nachdenken über eine Entscheidung verliert man viel Zeit. Dadurch ist dann so viel Zeit vergeudet worden, dass der andere mich wahrscheinlich schon k.o. geschlagen hat. Wenn ich eine Technik auf zwei Seiten kann, muss ich darüber nachdenken, mit welcher Seite ich sie mache.
WTW: Und du musst wahrscheinlich doppelt so lang trainieren.
GM Kernspecht: Fast. Durch die Spezialisierung spare ich auf jeden Fall zweimal Zeit: Trainingszeit und Entscheidungszeit. Natürlich bin ich dann ungleich entwickelt. Ich habe eben eine große dicke rechte Schulter und eine linke schwache dünne. Das geht mir aber, wenn es um Selbstverteidigung oder Notwehr geht, am A… vorbei. Ich will kein komplett ausgebildeter Athlet werden. Ich will ja auch nur vier Sekunden zuschlagen müssen.
WTW: Ich erinnere mich allerdings noch, dass gerade das ein Kritikpunkt von alteingesessenen Kettenfauststoß-Ultras war, die dann fragten, wieso sie nur noch mit einer Hand schlagen dürften. Ich beobachte auch bei Anfängern, dass, wenn man ihnen den ersten Blitz beibringt, sie sofort erkennen, dass das eine coole Methode und einfach ist. Was sie dann automatisch machen, wenn das Gegenüber die Auslage wechselt, ist, dass sie die Bewegung spiegeln, und sie fühlen sich sogar um diese selbst erarbeitete Vorgehensweise betrogen oder beschnitten. Auch wenn man ihnen sagt, dass sie als Rechtshänder wahrscheinlich mit ihrer linken Hand nicht so gut zuschlagen. Sie entgegnen, dass das aber einfacher sei. Doch unser Ziel soll ja sein, hart zuzuschlagen. Dafür muss man bei unterschiedlicher Auslage unterschiedlich arbeiten. Aber der Mensch scheint da so gebaut zu sein, dass er lieber entsprechend spiegeln möchte.
GM Kernspecht: Genau richtig. Das ist ja auch eine Idee aus dem Waffentraining. Da habe ich in der rechten Hand meine Waffe. Ich würde niemals auf die Idee kommen, mit der Faust zuzuschlagen, wenn ich in der rechten Hand ein Schwert habe oder ein Messer. Darum habe ich auch damals angeraten: „Nehmt irgendetwas in die rechte Hand bei diesen Übungen. Und sei es ein zusammengerolltes Taschentuch, damit ihr genau wisst: mit dem Ding soll ich zuschlagen.“ Eigentlich sind meine BlitzDefence-Ideen – genau wie damals mein PakSao/Fauststoß-Spiel – immer Ideen aus dem Waffenkampf. Auch bei den Waffen bin ich hochspezialisiert. Ich habe die acht Sätze Doppelmesser, die ich tatsächlich auf beiden Seiten übe, d.h. jeden Satz mache ich auf links und rechts. Aber nur, wenn ich ihn erlerne oder unterrichte. Ich gebe es meinen Schülern so weiter. Wenn ich allein im stillen Kämmerlein für mich diese Form übe, würde ich viele Sätze nur auf einer Seite machen. Und zwar nur dort, wo ich meine rechte Hand hauptsächlich einsetze, damit ich im Ernstfall nicht irgendwie in Versuchung käme, darüber nachzudenken, mit welcher Hand ich nun arbeite. Ich habe ja in jeder Hand ein Messer. Ich will es völlig eindeutig nur auf einer Seite können. Diese Spezialisierung der Seite ist eine Idee aus der Messerarbeit, der Waffenarbeit.
BlitzDefence ist WingTsun
WTW: Vielfach wird BlitzDefence nicht als WingTsun erkannt …
GM Kernspecht: BlitzDefence ist die eine Seite der WingTsun-Medaille, die eine Hälfte der WingTsun-Formel. Diese Seite besagt: angreifen, bevor der andere angreifen kann oder in seinen Angriff hinein starten. Das ist eigentlich das, was man weltweit im WingTsun, egal in welcher Schreibweise, immer sieht und für WingTsun hält. Die ganze Formel heißt aber: „Nimm auf, was kommt, begleite nach Hause, was geht, und ist der Weg frei, stoße vor.“ Dabei steht BlitzDefence für: „Ist der Weg frei, stoße vor.“ Es ist eine völlig einseitige Angelegenheit, bei der ich allein tätig werde, ein Monolog. Der andere macht noch nichts. Er will vielleicht etwas machen. Und ich richte mich überhaupt nicht nach dem, was er tut oder besser noch nicht tut. Der Weg ist (noch) frei, weil er nichts macht. Ich bringe das Ganze schnell zu Ende. Aus mir, dem auserkorenen Opfer, wird der Täter, aus dem Wild der Jäger. Das ist die eine Seite des WingTsun. Die gab es vor der Erfindung des BlitzDefence ja auch: in Form von Kettenfauststößen. Eigentlich hat BlitzDefence die gleiche Idee wie die Kettenfauststöße – nur dass ich beim BlitzDefence meine Kettenfauststöße als allerletztes Mittel, als ultima ratio einsetze, weil ich vor Gericht damit große Schwierigkeiten bekommen würde. Darum benutze ich beim BlitzDefence statt der Faust die Handfläche oder den Ellbogen und versuche nur einmal zuzuschlagen. Wenn das nicht fruchtet, schlage ich natürlich mehrmals zu; denn die eigene Sicherheit sollte mir wichtiger sein als juristische Bedenken.
Und die andere Seite der Medaille ist: „Nimm auf, was kommt …“ Das ist die Seite, für die man dann das ReakTsun braucht, wo man reagieren, Tastsinn haben, auch Intuition haben muss. Ein Programm, für das man bestimmt 5 bis 10 Jahre braucht, bis die Fähigkeiten da sind. Oder länger. Aber das Programm muss ich können gegen einen Überfall, auf den man nicht vorbereitet ist. Als sehr Fortgeschrittene können wir das mittlerweile lösen.
WTW: Dann ist es also eine Frage des Niveaus?
GM Kernspecht: Ja. Ich glaube, dass man wirklich zehn Jahre oder mehr üben muss, um mit dieser zweiten Seite Erfolg zu haben. Allerdings glaube ich auch, dass es bei jemandem, der nur der Seite „Ist der Weg frei, stoße vor“ folgt, nach einiger Zeit stagniert: weil man nur bis zu einem gewissen Grad seine Geschwindigkeit, Kampfkraft, Schlagkraft, Aggression steigern kann. Irgendwann ist damit Schluss. Es geht nicht mehr weiter. Im Gegenteil, mit dem Älterwerden kommt dann eher ein Rückschritt. Die Kraft, auch die Hormone lassen nach. Wenn man also ausschließlich diese proaktive WingTsun-Seite übt, glaube ich nicht, dass es langfristig weitergeht.
Wenn man aber die zweite Seite übt, wird es sehr viel länger dauern, bis das Üben Wirkung zeigt, aber damit wird der Fortschritt auch bis ins hohe Alter andauern.
WTW: Hat das auch etwas mit mentalem Fortschritt zu tun?
GM Kernspecht: Bestimmt. Wenn man das überhaupt trennen kann. Ist das nicht alles eins?
WTW: Man kann Leute beobachten, die sich teilweise schon sehr lange mit welcher Art von WingTsun auch immer beschäftigen und sehr herablassend auf das nachgebende WingTsun schauen und …
GM Kernspecht: Ich habe ja immer gesagt: „Die Leute machen nicht WingTsun wie WingTsun ist, sondern sie machen WingTsun, wie sie sind.“ Und Beifall möchte ich auch nicht von allen ernten. Es sollte uns zu denken geben, wenn unsere Sachen allen gefallen. Das wäre ein Zeichen, dass sie nichts taugen: denn das Vortreffliche ist nur für wenige.
Da gibt es eben bestimmte Bewusstseinsstufen und Menschen, die in bestimmten Bewusstseinsstufen sind, die können nur dieses ganz einfache Hau-Ruck-WingTsun machen. Für das andere sind sie – noch – nicht reif, oder werden es vielleicht auch nie.
WTW: Also, ich mache jetzt fast 20 Jahre WingTsun und ich weiß genau, dass wenn eine komische Situation passiert, ich auf BlitzDefence zurückgreifen werde und mich nicht da hinstelle und sage: „Mach mal, was du willst. Ich werde da schon irgendwie nachgeben.“
GM Kernspecht: Ja, richtig. Ich denke, dass das für die meisten richtig ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass die zweite Seite des WingTsun besonders bei Überfällen wichtig wird; denn bei ihnen kann ich nicht vorher reagieren, weil ich ja nicht weiß, dass ich gleich überfallen werde. Ich hantiere im Kofferraum meines Autos und kann mich nicht umdrehen und alle, die in meiner Nähe stehen, auf Verdacht mit Kettenfauststößen k.o. schlagen. Ich weiß ja nicht, ob sie mich tatsächlich angreifen wollen.
Also, es kommt etwas Überraschendes. Ich fühle plötzlich, dass jemand in meine Gesäßtasche greift, um mir etwas wegzunehmen. Oder ich fühle, dass mich einer schubsen will. Oder ich fühle, dass mich jemand ziehen will. Irgendwie merke ich etwas. Intuitiv vielleicht. Und da muss ich halt reagieren. Das heißt, gerade für solche Situationen, für Überfallsituationen, für solche Fälle ist die zweite Seite der WingTsun-Formel fast das Wichtigste; denn dort kann man nicht präventiv tätig werden.
WTW: Gleiches würde im Prinzip auch gegen mehrere Angreifer gelten?
GM Kernspecht: Ja. Auch das. Korrekt.
WTW: Obwohl, wenn sie der Reihe nach kämen, ginge es ja noch präventiv. Wenn mehrere gleichzeitig kämen, wäre es wieder ein Überfall.
GM Kernspecht: Irgendwann wird auch einer versuchen, uns festzuhalten oder zu ziehen oder abzulenken. Gerade gegen mehrere brauche ich unglaublich viel Tastsinn. Außerdem Geschmeidigkeit, Balance, Timing und all diese Fähigkeiten, die ich beim BlitzDefence noch nicht brauche. Die ich nur dann dort brauchen würde, wenn in der Ritualkampfsituation etwas schiefgeht. Wenn zum Beispiel mein Blitz – also der Einzelangriff – nicht erfolgreich war. Wenn ich nicht hart genug traf, weil ich irgendwelche Schlaghemmungen in mir habe oder der andere sich gerade irgendwie bewegte. Dann kann daraus etwas entstehen, wo es gut wäre, wenn ich ChiSao- bzw. ReakTsun-Fähigkeiten hätte.
Alle erzählen mir immer, wir müssen Sparring üben. Sparring, Sparring, Sparring. Sie haben so ihr Verständnis davon, was Sparring ist: Sparring ist für sie ein Abtausch von Schlägen. Ich will ja gar keine Schläge tauschen. Nur ich will schlagen. Ich will der Einzige sein – nach dem Motto „Geben ist seliger denn nehmen“. Ich tausche nicht meinen rechten Fauststoß gegen seinen. Da habe ich überhaupt keine Lust drauf. Ich möchte ihn hart an der richtigen Stelle, mit der richtigen Kraft treffen. Vielleicht noch einmal mit links und noch einmal mit rechts zuschlagen. Maximal drei Mal vielleicht. Dann will ich nach Hause gehen. Ich habe den Streit nicht gesucht. Ich habe niemand herausgefordert oder provoziert.
Statistisch gesehen ist ein Ritualkampf in vier Sekunden vorbei. Entweder liege ich nach den vier Sekunden am Boden oder der andere. So etwas dauert selten lange. Sparring bereitet auf diese Situation nicht vor. Überhaupt nicht! Kein bisschen. Sparring fördert alles Mögliche, aber nicht das, was für diese Situation nötig wäre. Nur, wenn mein Blitz-Angriff misslingt, würde ich mir als Back-up ein paar Sparringsfähigkeiten wünschen. Dazu gehört zum Beispiel, dass man auch etwas einstecken kann. Meinem BlitzDefence-Mann habe ich ja nicht beigebracht, etwas einzustecken. Der kann nur austeilen. Also für den Fall, dass etwas misslingt, wäre es okay, auch einige Nehmerqualitäten, ein bisschen Kondition zu haben – völlig klar. Aber davon gehe ich erst einmal nicht aus. Ich gehe davon aus, dass mein Schlag Erfolg hat. Wenn ich drei oder vier Mal zuschlage oder gar Kettenfauststöße mache, dann gehe ich davon aus, dass das reicht. Und es in kürzester Zeit vorbei ist.
Wenn wir uns den Schläger auf der Straße, der einen Budo-Kampfsportler – und zwar mit ziemlicher Regelmäßigkeit – zusammenschlägt, anschauen, dann ist das nicht der durchtrainierte Schläger. Es sind teilweise verfettete Schläger auf der Straße, die völlig unsportlich sind – man kann gar nicht verstehen, wie sie aus dem Sessel gekommen sind – und die knocken trotzdem den Schwarzgurt mit einem Schlag aus. Mit einem einzigen Schlag. Sie hätten im Ring oder auf den Tatamis nicht die geringste Chance gegen diesen Kampfsportler, der hin und her hüpfen würde. Sie würden ihn gar nicht zu fassen bekommen. Sie würden asthmatisch zusammenfallen, bevor sie ihn erreichen. Aber hier in dieser Situation, in dieser Nähe, in dieser Enge wird der Kampfsportler mit einem einzigen K.-o.-Schlag zu Boden gebracht. In vier Sekunden ist es inklusive Ansprache vorbei. Und das ist die Situation, auf die wir uns vorbereiten müssen, die Ritualkampfsituation.
Dann habe ich aber auch Leute, die erzählen mir, wie wichtig der Bodenkampf sei. Dabei bin ich eigentlich der gewesen, der vor 40 Jahren als erster, als alle darüber lachten, erzählt habe, wie viel wirkungsvoller der Ringer gegenüber dem Boxer ist. Ich erinnere mich, als ich mein Buch „Vom Zweikampf“ schrieb, ging ein Schrei der Empörung durch die Budo-Landschaft. Wie konnte es sein, dass der Kernspecht behauptet, ein Ringer könne einen Karate-Mann oder einen Boxer fast immer besiegen: beispielsweise, indem er sie schnappt und auf den Boden wirft oder so. Hat mir kein einziger geglaubt, obwohl ich alle möglichen historischen Beweise hinzufügte. Ich schrieb, der amtierende englische Meister im Boxen trat über viele Jahre regelmäßig gegen den jeweils amtierenden Meister im Ringen an. Die haben sich richtig geledert und es hat immer der Ringer gewonnen. Dann nach den Gracie-Vorfällen glaubte man mir anscheinend. Aber jetzt ist ein Hype, eine Hysterie daraus geworden. Heutzutage wollen sich die Leute, schon bevor der Kampf losgeht, am liebsten zu Boden werfen. Es mag sein, dass, wenn man nicht hart trifft, ein Kampf am Boden endet. Aber das ist selten. Ich persönlich habe es so noch nicht erlebt. Es mag Fälle geben, wo es wirklich am Boden endet. Die Advokaten des Bodenkampfes sagen ja, dass so und so viel Prozent der Kämpfe mit beiden am Boden enden. Konnte ich so nicht beobachten. Ich kann dazu nur eines sagen: „Ich kann 100 % sicher sein, dass alle Ritualkämpfe im Stehen anfangen.“ Davon können wir ausgehen. Deshalb sollten wir im Stehen das Kämpfen üben. Wir sollten uns nicht erst einmal auf den Boden legen, nur weil das ein eventuelles Ende eines Kampfes ist. Es fängt im Stand an und, wenn ich das Problem dort beseitigen kann, geht es nicht bis zum Boden. Womit ich jetzt nicht ausschließen will, dass wir nicht auch Fähigkeiten am Boden haben sollten. Selbstverständlich sollten wir sie haben, aber nicht von fremden Stilen, so wie Rosinen, geklaut. Nichts, das gar nicht dazu passt, bei dem wir uns vergewaltigen müssen, um es zu tun,. so dass wir es im Ernstfall sowieso nicht parat haben. Sondern es müsste etwas sein, das im WingTsun sowieso schon drinsteckt. WingTsun hatte in Hongkong keine Bodenkampftechniken für alle, obwohl Verteidigung am Boden für Frauen und die leichteren und schwächeren Männer immer unterrichtet wurde – auch in Hongkong. Weil man davon ausging, dass sie doch auf dem Boden landen könnten. Aber es wurden immer Bewegungen unterrichtet, die konform gingen mit den WingTsun-Prinzipien – sprich keine speziellen Ringertechniken. Auch am Boden haben wir geschlagen, Ellbogen und Knie eingesetzt, nachgegeben. Mussten uns anders verhalten, weil die Balance am Boden eine völlig andere ist. Die Art und Weise, wie wir vom Boden hochkommen oder wie wir uns am Boden drehen, ist nicht die gleiche wie im Stand. Solche Dinge muss der Schüler natürlich lernen. Aber es gab nie ein spezielles Bodenkampfprogramm, das sich von dem Programm unterschieden hätte, das wir im Stand machen würden. Und genau das finde ich auch gut so.
Jetzt sind wir mittlerweile in der glücklichen Lage, dass wir Leute mit Erfahrung in der EWTO haben, die durch Deutschland und Europa reisen und ein Anti-Bodenkampfprogramm unterrichten, das WingTsun-Prinzipien und WingTsun-Bewegungen benutzt und sie nicht aus dem Ju-Jutsu oder anderswo entlehnt. Also, zur Selbstverteidigung – einmal zurück zum Thema – muss selbstverständlich eine Verteidigung am Boden gehören. Es muss aber kein Bodenkampf dazugehören. Deswegen nenne ich es auch Anti-Bodenkampf; denn das Ziel ist, schnellstmöglich vom Boden hochzukommen. Das Ziel ist nicht, sich möglichst lang am Boden herum zu suhlen, so dass sich alle Umstehenden einmischen und mir an den Kopf treten können. Noch einmal:
Das Ziel ist
- nicht auf den Boden zu gelangen und
- wenn ich am Boden bin, ganz schnell wieder hochzukommen.
Das muss immer im Vordergrund stehen. Und nie vergessen: Es fängt im Stand an. Und wenn wir unser Ding gut machen, endet es auch da – für uns!
WTW: Das heißt, lieber die Zeit, die man trainiert, um sich am Boden zurechtzufinden, dafür aufwenden, um zu verhindern, auf den Boden zu kommen?
GM Kernspecht: Richtig! Wir werden es sowieso nicht erreichen, dass wir im spezifischen Bodenkampf so gut sind wie beispielsweise ein Ringer. Dafür müsste ich genauso viel Zeit investieren wie ein Ringer. Außerdem müsste ich auch die Kondition und Konstitution eines Ringers haben. Wer ist denn von Natur aus geeignet zu ringen? Okay, für mich war Ringen der erste Kampfsport, den ich machte. Ich habe sogar als Student nebenberuflich als Catcher (Wrestler) gearbeitet. Hat mir viel Spaß gebracht. Besonders Bodenkampf. Aber wenn ich mir meine Schüler anschaue? Die meisten sind nicht so gebaut wie jemand, der ringen könnte. Und selbst die, die so gebaut sind, stellten immer wieder fest, dass sie sich irgendwann die Schultern brechen, wenn sie zu viel am Boden ringen. Viele meiner besten Schüler – auch Ex-Schüler –, die sich besonders mit dem Bodenkampf beschäftigten, brachen sich die Schultern. Und wir wissen, wie wichtig es ist, gesunde Schultern im WingTsun zu haben. Außerdem: Gebrochene Schultern kosten uns Monate und Jahre unserer Ausbildungszeit.
Selbstverteidigung/Konsequenzen
WTW: Ist BlitzDefence eigentlich Kampfkunst oder Selbstverteidigung?
GM Kernspecht: (überlegt) BlitzDefence ist ganz sicherlich Selbstverteidigung. Eigentlich sogar noch mehr: Angreifen, um sich zu verteidigen. Es ist ja ein Ergreifen der Initiative.
Wir haben realisiert, dass der Anfänger nicht wirklich eine Chance hat, wenn er sich verteidigt. Der Anfänger hat nur eine Chance, wenn er die Initiative ergreift.
Als Verteidiger muss er sich irgendwie dem Angriff anpassen. Er muss reagieren, sich anpassen, den Schlag weich abfangen, muss zurückschlagen. Das kann er ja alles noch nicht. Er hat noch nicht gelernt, die Entfernung richtig einzuschätzen. Er hat keinen Tastsinn, kein Timing. Ihm fehlt all das, was es bräuchte, um zu bestehen. Wir sehen das bei jeder Prügelei oder Schlägerei auf der Straße: Es gewinnt der, der zuerst zuschlägt. Das bedeutet, wir müssen unserem Anfänger beibringen, dass er die Initiative ergreift und angreift. Er muss sich irgendwoher ein Herz nehmen und es wagen, zuzuschlagen – mit allen ethischen und juristischen Konsequenzen. Tut er es nicht tut: Gnade ihm Gott. Tut er es aber, wird ihn der Richter beuteln.
Denk einmal an den Fall Dominik Brunner in München. Was wäre gewesen, wenn er gewonnen hätte? Angenommen, er hätte mit zwei oder drei K.-o.-Schlägen – er hat schließlich geboxt – diese Leute niedergestreckt. Die wären zurückgetaumelt, mit dem Kopf vielleicht irgendwo gegengeschlagen und wären lebenslang geschädigt gewesen. Dann hätte man Brunner wohl in den Knast gesteckt, ihm allenfalls Bewährung zugestanden. Du siehst, es ist ein zweischneidiges Schwert, was wir da haben.
WTW: Wenn man einige Jahre WingTsun trainiert, ist einem das ja vielleicht klar. Man hat für sich eine Entscheidung getroffen, dass, wenn eine solche Situation auftaucht, ich ab einem bestimmten Punkt, wenn eine Grenze überschritten ist, handle.
GM Kernspecht: Absolut. Das muss zu Hause erfolgt sein – am besten mit Hilfe des WingTsun-Lehrers. Jeder muss sich total im Klaren darüber sein, wann seine Grenze erreicht ist, ab wann er zuschlagen muss. Dann muss er es aber auch tun. Und dafür haben wir schließlich unser Trigger-, unser Ankerwort.
WTW: Nun ist es doch so, dass von außen betrachtet, die Anforderungen für den Anfänger, der zu uns kommt und nichts kann, sehr hoch sind. Wir stoßen ihn eigentlich in eine Situation, die ihn an allen Ecken überfordert. Da frage ich mich, ist es überhaupt möglich, diese Person, die sich zum einen, was ihre Bewegungsmöglichkeiten, aber zum anderen auch, was ihr Bewusstsein angeht, noch gar nicht mit der Situation beschäftigt hat, in einem adäquaten Zeitraum selbstverteidigungsfähig zu machen? Wir sprechen ja gerne von 6 bis 12 Monaten.
GM Kernspecht: Wir haben Erfolgsberichte von Schülern, die in solchen Situationen waren und die genau das angewendet haben. Sie waren überrascht, wie einfach es war. Und rein technisch gesehen ist es auch einfach; denn im BlitzDefence-Programm haben wir es wirklich mit „Techniken“ zu tun. Während man im höheren WingTsun gar nicht mehr von Techniken sprechen darf, kann man das im BlitzDefence noch tun. Hier kann sich jemand zu Hause genau zurechtlegen, wie er sich bewegen wird, denn er geht nur von der Position, die der andere einnehmen wird, aus. Er muss sich nicht auf irgendetwas einstellen, was sich ständig verändert. Er geht von der Bedrohungssituation aus: Steht der andere links oder rechts vor oder frontal? Sehr einfache Dinge eigentlich. Außerdem weiß er auch genau, mit welcher Hand er zuschlägt – nämlich mit seiner stärksten. Er weiß, mit welcher Hand er greift – nämlich mit der schwächeren. Er weiß, welchen Fuß er wohin stellt. Er hat diesen Schlag und auch den Griff immer wieder geübt. Er hat das Ganze mit seinem Triggerwort verbunden, das ihn ja nahezu dazu konditioniert hat, gleichzeitig mit der Aussprache dieses Wortes zuzuschlagen. Das wird leider in unseren Schulen viel zu selten geübt. Deshalb habe ich meine Zweifel, ob es wirklich jeder kann. Sie üben oft nur die Techniken. Aber gerade das Triggerwort ist ein absolut wichtiger Bestandteil; denn es zwingt den Anwender, dann auch zuzuschlagen, wenn er es ausspricht. Das muss tief verankert werden. Die Schüler müssen wirklich gegen Sandsäcke, Wandsäcke, Polster schlagen und immer gleichzeitig das Wort aussprechen. Das muss wieder und wieder geübt werden.
Triggerwort
WTW: Das Triggerwort ist also individuell. Jeder muss für sich eins finden. Im Idealfall etwas, das er in seinem normalen Sprachgebrauch, auch in seiner deeskalierenden Sprachweise nicht verwendet? Nicht, dass er plötzlich an der falschen Stelle zuschlägt.
GM Kernspecht: Obwohl das so noch nicht passiert ist. Ich sage mein Triggerwort auch ständig und muss deshalb nicht zuschlagen. Es ist so: Das Triggerwort soll zwei Absichten erfüllen. Zum einen soll es mich konditionieren, dass ich, wenn ich es ausspreche, auch zuschlage. Zum anderen soll es den anderen ablenken, dass er für einen Augenblick lauscht, für einen Augenblick nicht nach vorn schaut, sondern möglichst nach oben, links oder rechts. Es muss irgendetwas sein, das seine Aufmerksamkeit fesselt, so dass er zuhört. Und in dem Augenblick muss der Schlag erfolgen. Man kann also auch nicht nur das Triggerwort sagen und sofort zuschlagen. Im Grunde muss es ein Satz oder besser eine Frage sein, auf die der andere lauscht und die er beantworten will und somit seine Aufmerksamkeit abgelenkt wird. Spätestens die letzte Silbe müsste mit dem Schlag verbunden sein.
WTW: Also eine Triggerphrase, die im ersten Schritt die Aufmerksamkeit unseres Gegenübers bindet und im zweiten Schritt durch das darin eingebundene Triggerwort bzw. eine möglichst starke Triggersilbe den Schlag auslöst, mit dem getroffen werden soll?
GM Kernspecht: Korrekt. Das ist die Idee dabei. Und das ist nicht meine Idee gewesen, sondern die meines Freundes Geoff Thompson, dem berühmtesten europäischen Rausschmeißer, der mittlerweile erfolgreich als Buch- und Drehbuchautor arbeitet und sich auf anderen Gebieten tummelt. Er hatte ursprünglich die Idee dazu.
Stimme
WTW: Mit dem Triggerwort allein ist es aber doch noch nicht getan. Es nützt schließlich nichts, wenn ich es flüstere.
GM Kernspecht: Es ist immer das Problem mit der Stimme. Auch das muss man üben. Selbstbehauptung! Wir müssen ab und zu in den Wald gehen und herumschreien – oder beim Autofahren. Man muss verdammt laut schreien können. Unsere Expertin für Frauenselbstbehauptung Sabine Mackrodt hat da einige Techniken drauf, wie man so etwas lernen kann. Das Problem mit der Stimme ist ja wahrscheinlich bei Frauen noch ein bisschen größer.
Basis für EWTO-Gewaltprävention und Kids-WingTsun
WTW: Dass wir heutzutage im WingTsun kommunizieren, haben wir also im Grunde deinem wissenschaftlichen Interesse zu verdanken?
GM Kernspecht: Korrekt.
WTW: Das ist eine recht einschneidende Veränderung, weil – konsequent weitergedacht – wir erst dadurch in der Lage sind, Gewaltprävention oder Kids-WingTsun zu unterrichten. Das ist doch eine direkte Folge davon. Rückblickend wurde vor BlitzDefence einer gleich umgehauen, wenn er komisch schaute oder verdächtig einatmete. Seit BlitzDefence wird gesprochen.
GM Kernspecht: Kampf oder Schlagen sind die Fortsetzung der Kommunikation mit anderen Mitteln, schreibt von Clausewitz. Und wenn dieses Schlagen Erfolg hat, muss man sofort – kann man bei v. Clausewitz nachlesen – wieder zur Kommunikation zurückkehren. Oder zur Politik, wie es bei ihm heißt. Und zum Mitleid, Mitgefühl, zur Empathie, zur Kompassion.
WTW: Was bedeutet, dass Schlagen nur das letzte Mittel ist.
GM Kernspecht: Ja.
WTW: Viele ergehen sich ja in diesem letzten Mittel. Du würdest also sagen, dass sie sich dabei dann definitiv zu lange aufhalten?
GM Kernspecht: Ja. Und ich weiß auch nicht, ob es gut ist, sich zu lange bei demjenigen aufzuhalten, den man gerade niedergeschlagen hat. Vielleicht geht man besser zur Telefonzelle, ruft die Feuerwehr an und sagt: „Da liegt einer.“
Ritualkampf Männer/Frauen
WTW: Stichwort: Frauen. Wenn wir uns Deine Bücher anschauen, drängt sich der Eindruck auf, dass Du das Thema Ritualkampf auf Männer beschränkst. Ist das so?
GM Kernspecht: Ja, den Ritualkampf gibt es ganz sicher so gut wie nur zwischen Männern. Ich hatte das Thema ja gewählt, weil ich glaube, dass er gerade für Jugendliche die größte Gefahr ist. Da müssen sie ihre Selbstverteidigungskenntnisse anbringen: wo man ihnen einen Kampf aufzwingt, wo sie gar nicht anders können, weil zum Beispiel ihre Freunde und Kollegen dabei sind oder die Freundin. Sie können nicht kneifen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man als Mann in einem bestimmten Alter in solch einen Kampf verwickelt wird, ist verdammt groß. Größer wahrscheinlich als in einen Überfall. Wir müssen ja immer zwei Dinge unterscheiden: einerseits, ob wir in der Gefahr sind, in einen machoartigen oder auch Territorialkampf – sprich Ritualkampf – zu geraten oder andererseits, ob uns einer überfallen, austricksen will. Zum Beispiel von der Seite angreift oder einen Ritualkampf mit uns nur vortäuscht. Das ist ein Fall, der durchaus passiert. Da will uns einer von unserer Gruppe trennen, lädt uns vor die Tür ein, um mit uns zu kämpfen. In Wirklichkeit will er uns beim Hinausgehen eins über den Kopf hauen und uns ausrauben. Oder einer fordert uns heraus und wir gehen vor die Tür. Dort haben wir aber plötzlich vier vor uns. Das artet garantiert aus – mit Tritten zum Kopf, was sehr häufig tödlich endet. Also muss man ganz scharf aufpassen, ob es eine Einladung zum Tanz mit einem oder mit mehreren ist. Das alles ist sehr schwierig.
Wir müssen immer feststellen, was will der andere eigentlich von uns? Geht es darum, uns zu erniedrigen, um sich vor seinen Kollegen zu produzieren. Will er sein Mütchen an uns kühlen? Will er uns vorführen? Dann war das früher in der guten alten Zeit, die in den 1980er Jahren vorbei war, eigentlich eine relativ harmlose Angelegenheit. Das einzige, was uns passieren konnte war, dass wir eine an den Kopf bekamen. Aber heute ist Tottreten an der Tagesordnung, sogar bei sich einmischenden Frauen!
Sehr ernst wird es, wenn es darum geht, dass uns einer überfallen will. Für unsere BlitzDefence-Situation gehen wir davon aber nicht aus.
WTW: Das zu unterscheiden setzt aber Erfahrung voraus, die der Anfänger nicht hat. Deshalb sollte doch der BlitzDefence geschulte Anfänger die Rituale soweit verstehen, dass er sich gar nicht darauf einlässt. Dass er sofort erkennt: „Moment, hier laufe ich Gefahr. Also halte ich mich da heraus, gehe nicht mit vor die Tür.“
GM Kernspecht (nickt): Es hat sogar Fälle gegeben, wo ein Mann eine Frau zu einer Art Ritualkampf herausforderte, als ob sie ein Mann wäre. Fällt sie darauf herein, endet es mit einem Sexualverbrechen. Man muss also aufpassen, ob das „Ding“, zu dem ich eingeladen werde, überhaupt wahrscheinlich ist. Also angenommen, ein 60- oder 70-Jähriger wird von einem 18-Jährigen zum Ritualkampf herausgefordert. Dann muss sich der Ältere doch etwas dabei denken. Er muss merken, dass das kein Ritualkampf wird, sondern eine Falle. Der Jugendliche hat noch zwei oder drei Leute vor der Tür und einer von denen haut dem auserkorenen Opfer mit einem Totschläger auf den Kopf. Anderes Beispiel: Wenn ich im Anzug durch die Gegend laufe und passe gar nicht zu diesen jungen Leuten. Geschieht jetzt trotzdem eine Herausforderung zum Ritualkampf, dann ist das keine echte. Solche Dinge muss man im Hinterkopf haben, wenn man streetsmart sein will.
Bei den Frauen gibt es mittlerweile etwas Ähnliches. Es gibt zwar nicht den Ritualkampf zwischen Mann und Frau, aber zwischen Frauen. Vielleicht kann man dazu noch gar nicht Ritualkampf sagen, weil es zu modern ist. Wir sprechen über den Zeitraum der letzten 10 bis 15 Jahre. Aber es gibt die Entwicklung, dass Frauen Frauen verprügeln. Sie haben diese Muster von den Männern übernommen. Es läuft ähnlich ab – nur viel, viel schneller. Während es beim Mann darum geht, dass er den anderen erniedrigen will, geht es bei Frauen eher darum, der anderen richtig schöne Schmerzen zuzufügen.
WTW: Weshalb das Ganze meist brutaler abläuft?
GM Kernspecht: Das erzählen mir alle Polizisten, die so etwas beobachtet haben. Das Geschehen läuft verdammt brutal ab. Es passiert auch häufig, dass eine herausgefordert wird und sieht sich plötzlich drei, vier, fünf Frauen gegenüber.
Die Techniken in unserem BlitzDefence-Programm ändern sich prinzipiell nicht. Man kann sich halt nur links oder rechts oder frontal vor einem aufbauen. Nur die Kommunikation ist bei Frauen eine andere. Das Gleiche gilt, wenn ein Mann eine Frau angreift: Die Techniken bleiben die gleichen, nur die Kommunikation verläuft völlig anders.
WTW: Aber im Prinzip folgt der Übergriff eines Mannes auf eine Frau doch auch einem bestimmten Ritual. Die Ansprache funktioniert auf eine bestimmte Art und Weise. Auch in diesem Falle ist es eher der möglichst unauffällige Versuch, die Distanz zu überbrücken, den zu erwartenden Widerstand im „Interview“ zu testen und dann loszulegen.
Überfall
GM Kernspecht: Und das ist dann fast schon ein Überfall.
WTW: Ich möchte behaupten, dass es für einen Mann, der einem Mann gegenübersteht, einfacher zu erkennen ist, dass er sich in einem Ritualkampf befindet, als für eine Frau, die von einem Mann bedrängt wird.
GM Kernspecht: Ja. Da müssen wir wirklich unterscheiden. Zwischen einem Ritualkampf, der einer gewissen Ordnung folgt, und einem Überfall. Beim Ritualkampf gibt es eine Reihenfolge, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Seit Mitte der 80er Jahre entstand eine neue Phase mit Tritten zum Kopf, wenn einer umgefallen ist. Diese Phase gab es vorher nicht. Das heißt, wir lernen dazu. Diese Ordnung bietet trotzallem eine gewisse Sicherheit, wenn man von den Fußtritten zum Kopf einmal absieht.
Die Frau hat aber meistens mit einem Überfall zu rechnen, was viel, viel schwieriger zu behandeln ist. Der Ritualkampf ist die häufigste Art von Angriffen, die uns als Mann passieren kann und eigentlich auch die – abgesehen von den Fußtritten – ungefährlichste. Auf diesen Ritualkampf kann man sich am allerbesten vorbereiten, indem man einige wenige Techniken erlernt, sich mit der Adrenalinsituation anfreundet und sich selbst ein wenig besser kennen lernt. Relativ einfach, da über die Runden zu kommen. Beim Ritualkampf kann ich mir vorher zu Hause einen Plan machen. Ich kann genau sagen: „Der steht links vor, also mache ich das. Der steht rechts vor, dann mache ich das. Hat er seine Hand oben, dann mache ich das, hat er seine Hand unten, mache ich das.“
Ein Überfall ist ein völlig anderes Gebiet. Das darf man nicht verwechseln. In meinem übernächsten Band von „Kampflogik“ werde ich auch auf das Thema Überfall eingehen. Beim Überfall ist es völlig anders. Ich kann mir vorher keinen Plan machen: Da kommt der andere nicht von vorn. Er kommt von der Seite oder von hinten. Es ist Ablenkung im Spiel. Da kommt er nicht allein. Er hat Waffen dabei. Alles kommt unvorbereitet. In diesem anderen Spiel brauche ich Reaktionen, brauche ich Tastsinn und Intuition. Da brauche ich einen 6. Sinn.
WTW: Demnach müsste das Thema Überfall etwas für den Fortgeschrittenen sein?
GM Kernspecht: Das muss für den Fortgeschrittenen sein. Er braucht dann die Fähigkeiten des ChiSao – und nicht nur nach vorn, nicht nur an den Armen, sondern auch an der Schulter oder am Rücken. Er muss überall Tastsinn haben, weil das vielleicht das Letzte ist, was er noch fühlt, bevor es einschlägt.
WTW: Viel verlangt.
GM Kernspecht: Ja. Das ist schwierig. Da kann man nicht von Sicherheit reden und dass man vorher weiß, wie es abläuft. Beim Ritualkampf denke ich schon, dass er planbar ist, solange er nicht außer Kontrolle gerät: Wenn der andere zum Beispiel zurückspringt und ein Messer zieht oder so, entwickelt sich etwas anderes. Aber grundsätzlich ist ein Ritualkampf planbar und deshalb kann ich auch mit Techniken herangehen.
Anfänger
WTW: Aufgrund dieser Unwägbarkeiten muss der Schüler von Anfang an lernen, konsequent und rigoros zu arbeiten.
GM Kernspecht: Ja. Korrekt.
WTW: Es muss ihm immer bewusst sein, dass mit jeder Sekunde, die verstreicht, die Wahrscheinlichkeit größer wird, dass er doch den Kampf verlieren kann.
GM Kernspecht: Absolut wahr. Das ist so. Man muss konsequent zuschlagen. Wir sagen immer: Wir fordern keinen heraus. Es muss unter unseren Schülern völlig klar sein, dass sie niemals selbst jemanden herausfordern. Niemals! Und wenn es sie noch so juckt. Sie dürfen keinen herausfordern. Aber wenn sie die Situation nicht mehr deeskalieren können, wenn es los geht, müssen sie mit aller Härte zuschlagen.
Deeskalation
WTW: Deeskalation ist unser oberstes Ziel.
GM Kernspecht: Das ist aber sauschwer für den Anfänger; denn der andere sieht das immer als Schwäche an. Je mehr du deeskalierst, umso mutiger wird der andere.
Es gibt noch eine probate Möglichkeit dagegen vorzugehen. Darüber sollte ich gar nicht sprechen, aber ich spreche ja zu Mitgliedern, denen ich charakterlich etwas zutrauen kann.
Es geht immer um das Thema „Wann schlägt der Aggressor zu?“. Ich weiß es nicht. Entweder nimmt er eine Drohhaltung an und ich habe als Anfänger jetzt nicht die Erfahrung zu sehen, wann er überkocht und zuschlägt. Ich denke: „Jetzt müsste es soweit sein“, und schlage zu – vielleicht zu früh. Natürlich möchte ich aus ethischen Gründen nicht unbedingt zuschlagen, wenn der andere nur droht. Deshalb wäre es doch schön zu wissen, ob der andere wirklich zuschlagen möchte. Und jetzt gibt es also ein ganz tolles Mittel, um das herauszufinden. Wenn er anfängt, mich zu beleidigen, beleidige ich kräftig dagegen. Und weiß so genau, jetzt wird gleich in ihm die Wut hochkommen. Damit weiß ich, wann er zuschlägt. Also juristisch gesehen fällt das sicher unter provozieren. Ich gieße Benzin ins Feuer. Aber zumindest weiß ich genau, wann er kommt und kann mich genau darauf vorbereiten. Ich weiß genau, was ich mache. Ich kann fast hundertprozentig davon ausgehen, ab einer bestimmten Entfernung wird er mit rechts einen Schwinger machen. Darauf stelle ich mich wunderbar ein und schieße ihn ab, wenn er den Schwinger macht. So habe ich dieses schöne ethische Empfinden, dass ich wirklich einen gehauen habe, der mich hauen wollte. Mit der Ausnahme, dass ich ihn ein klein wenig provoziert habe. Aber er hätte es später ja sowieso getan, denn das Ganze ging ja von ihm aus. Er ist es ja gewesen, der auf mich zugekommen ist, der Schaum vor dem Mund hatte, mich beschimpfte. Er hat sich aufgebaut. Das einzige, was noch fehlte, war der Zeitpunkt seines Schlages. (schweigt einige Zeit) Ist vielleicht ein kleines Bisschen besser als sofort zuzuschlagen, wenn ich Lust dazu habe oder wenn ich das Gefühl habe, jetzt müsste ich mal schlagen. Aber wenn ich ihm noch einen kleinen Brocken zu werfe, dann weiß ich genau, dass er schlagen wollte. So ist es immer noch eine Abwehrtechnik. Aber das sind kleine Nuancen. Vielleicht etwas sehr am Rande des Legalen.
WTW: Und setzt ja auch voraus, dass ich in der Lage bin, diese Provokation zielgerichtet stattfinden zu lassen. Wenn ich sehe, dass so mancher Schüler bereits die Contenance verliert, wenn man ihm gegenüber einmal ein Schimpfwort benutzt, da frage ich mich, wie bekomme ich ihn dazu, so zu handeln?
GM Kernspecht: Das Üben des Umgangs mit dieser Aggressivität ist total schwierig. Dem Schüler beizubringen, das aggressive Sprechen und dass sich vor ihm jemand aggressiv gebärdet, auszuhalten, ist keine leichte Aufgabe für den Lehrer. Eine ausgesprochen schwierige Situation. Einerseits muss der Schüler ja fühlen, wie das Adrenalin hochkommt. Viele Lehrer haben es unglaublich gut drauf, den harten Typen zu spielen, so dass der Schüler sich fast in die Hose macht. Andererseits vergessen sie dabei immer wieder, dass es am Ende der Übung der Schüler sein muss, der gewinnt. Wenn wir zu hart ran gehen, trainieren wir unseren Schüler automatisch zum Loser. Sagen wir einmal als Warnung für unsere Ausbilder: Je besser der Ausbilder die Rolle des Schlägers, des harten Typs spielen kann, umso größer ist die Gefahr, dass er seinen Schüler zum Verlierer konditioniert. Der wird auf diese Weise eingeschüchtert und kann nachher hundertprozentig nicht mehr zuschlagen. Der Ausbilder muss sein Rollenspiel also so gestalten, dass der Schüler am Ende Erfolg hat. Er kann ihm Angst einjagen, aber am Schluss muss er zum Beispiel weniger aggressiv sprechen oder sich ein wenig zurückziehen, wenn der Schüler Versuche unternimmt, sich zu wehren. Und wenn der Schüler zuschlägt, muss er sich auch treffen lassen oder Wirkung zeigen und nicht cool weiterschlagen, denn sonst erzieht er seinen Schüler zum Opfer. Keine einfache Aufgabe. Eigentlich muss dieser Ausbilder so etwas Ähnliches wie ein Psychologe sein.
WTW: Oder wenigstens Schauspieler?
GM Kernspecht: Oder wenigstens Schauspieler. Am Schluss dieser kleinen Rollenspiele muss immer der Schüler gewinnen. Ich glaube, dass das noch nicht genug im Bewusstsein der Ausbilder verankert ist.
WTW: Es gibt ja Ausbilder, die lassen sich per definitionem nicht vom Schüler schlagen.
GM Kernspecht: Die müssen daran arbeiten oder sie müssen jemanden hinstellen, der es kann. Das ist keineswegs einfach. Technisch gesehen ist das BlitzDefence-Programm unglaublich einfach, aber von der psychologischen Seite her ist es sehr, sehr schwierig.
Definition BlitzDefence
WTW: Jetzt kommt der Schüler in die Schule und fragt: Was ist denn dieses BlitzDefence? Hast du für dich eine kurze, prägnante Definition?
GM Kernspecht: Wie ich vorhin schon sagte – es ist die eine Seite des WingTsun: „Ist der Weg frei, stoße vor“, verbunden mit Rollenspielen, mit getarnten Vorkampfpositionen, sehr viel Psychologie und der Fähigkeit, mit dem auftretenden Adrenalincocktail richtig umzugehen. Auch wichtig: das Triggerwort.
WTW: Ich habe mir die Frage auch gestellt und für mich folgende Antwort gefunden: BlitzDefence ist eine Übungsmethode des WingTsun.
GM Kernspecht: Ja, genau. Eine Übungsmethode des WingTsun. Wir müssen ganz klar sagen, dass es kein eigener Stil ist. Viele haben mich immer verdächtigt – inklusive unserer chinesischen Freunde – dass ich da einen eigenen Stil entwickeln wollte. Keinesfalls! Ich bin nur ganz praktisch auf diese Situation eingegangen und habe dann versucht, eine Methode zu finden, um sie mit WingTsun-Antworten zu lösen. – Was unsere asiatischen Lehrer überhaupt nie beachtet haben, ist die Sache mit dem Adrenalin. Das Wort Adrenalin habe ich von Asiaten noch nie gehört. Sie haben auch über die juristischen Begleiterscheinungen nicht ein einziges Mal nachgedacht. Nicht eine Sekunde, dass es da mit den Kettenfauststößen eventuell Probleme geben könnte.
Und sie haben nicht darüber nachgedacht, dass der Kampf in der Nahdistanz beginnt. Viele der WingTsun-Prinzipien lassen sich in Wirklichkeit in der Nahdistanz so nicht durchführen. Zum Beispiel, wenn ich an den WingTsun-Spruch denke: „Verfolge nicht die Arme, sondern die Umrisse des Gegners.“ Ich muss in der Nähe dieser Vorkampfsituation, wo noch gar nicht feststeht, ob der andere zuschlagen will, seine Hände verfolgen. Wenn ich nicht der Erste sein will, der zuschlägt, sondern Notwehrrechte für mich in Anspruch nehmen möchte, weil Zeugen dabei sind, muss ich seine Arme verfolgen, damit er mich nicht schlagen kann. Ich kann nicht, wenn er die Arme hebt, ihm gleich ins Gesicht schlagen – besonders nicht unter Zeugen.
Also, viele dieser Mottos sind in der Nahdistanz, wenn man berücksichtigt, dass ich nicht sofort zuschlagen darf, juristisch nicht vertretbar. Der Ritualkampf lief zu Zeiten von Ng Mui in China anders ab. Für unsere Freunde drüben beginnt der Kampf noch immer in einer gewissen Entfernung und dann stürmt der eine auf den anderen zu – so, wie sie es in ihren Filmen darstellen und aus ihnen gelernt haben.
Deshalb greifen einige der alten Lösungen bei uns im Westen heute nicht mehr! Was früher half, kann heute der Nagel in unserem Sarg sein. Technisch mag das meiste, das wir gelernt und weitergegeben haben, noch richtig sein – nur juristisch ist es oft nicht haltbar.
Weiterhin müssen wir berücksichtigen, dass uns in solcher Situation aufgrund des Hormoncocktails die Knie zittern und unsere Arme steif sind. Davon sprechen die Chinesen nie. Angst ist das Tabuwort. Dabei ist das psychologische Problem bedeutender als das rein kampftechnische.
WTW: Noch einmal zur Definition von BlitzDefence. Ich fand es wichtig, dass es sich um eine Übungsmethode handelt, die neben den körperlichen auch die psychologischen Aspekte wie zum Beispiel den deeskalierenden Einsatz von Gestik, Mimik und Stimme sowie den Umgang mit Stress, Angst und Adrenalin lehrt.
GM Kernspecht: Ja. Sehr schön. Das ist alles richtig. Und ruhig dazu sagen, dass die technische Seite die geringste Rolle spielt, weil sie nur aus vier Bewegungen besteht. Vier Bewegungen plus Kettenfauststöße – wenn nötig.
WTW: Könnte man sagen, dass die Entwicklung des BlitzDefence unser WingTsun hier in Europa nachhaltig veränderte oder, sagen wir, erweiterte?
GM Kernspecht: Der Blickwinkel wurde anders. Und wir mussten feststellen, dass Techniken die geringste Rolle spielen. Techniken haben eigentlich für die Selbstverteidigung kaum Bedeutung.
Ideale Trainingsdauer
WTW: Etwas ganz anderes. Wie sieht deiner Meinung nach die ideale Trainingseinheit BlitzDefence aus? Angenommen wir haben eine Stunde Zeit.
GM Kernspecht: Die ist nicht durchführbar.
WTW: Wie?
GM Kernspecht: Ich fürchte, die ist gar nicht durchführbar. Also, ich kann das machen. Ich habe es ja früher mit Einzelnen oder in Kleingruppen auch geübt. Aber ich glaube, in einer normalen Klasse geht es überhaupt nicht, weil sie die Ernsthaftigkeit der Lage nicht einsehen. Dort wollen sie verspielte Sachen machen. Sie wollen Abwechslung. Ich glaube nicht, dass du in einer Stunde mehr als 20 Minuten BlitzDefence unterrichten kannst. Hochgegriffen. Ich bin der Meinung, dass man einen Schüler, wenn man konzentriert übt, in einem halben Jahr selbstverteidigungsfähig machen könnte für diese Situation. Aber das scheitert ganz sicherlich daran, dass der normale Schüler das nicht durchhält. Erst einmal ständig diese Aggression, dieses Adrenalin in der Luft. Und dann immer die gleichen Bewegungen – mit links greifen, mit rechts schlagen. Ohne Abwechslung. Ich glaube nicht, dass er das länger als 20 Minuten durchhält und dann muss man ihn schnell etwas anderes üben lassen, damit er wieder herunterkommt.
WTW: Der durchschnittliche Unterricht dauert ja 90 Minuten. Das ist wohl in den meisten Schulen so.
GM Kernspecht: 20 Minuten davon konsequentes BlitzDefence.
WTW: Okay, das würde auch die Frage beantworten, welche Gewichtung BlitzDefence innerhalb des Trainings haben sollte.
GM Kernspecht: Anders geht es leider nicht. Es wäre schön, wenn sie es die ganze Zeit machen würden. Dann wären sie in kürzester Zeit im Ritualkampf verteidigungsfähig. Aber es ist, glaube ich, nicht durchführbar.
WTW: Und in den verschiedenen Stufen? Sollte sich da die Gewichtung ändern?
GM Kernspecht: Ich glaube nicht, dass man es anders machen kann. Ich habe ja keine Erfahrung auf dem Gebiet einer normalen Klasse. Auf einem Lehrgang kann ich es natürlich durchaus durchziehen. Dort sieht der Schüler mich zweimal im Jahr und es ist irgendwie ein Novum. Wenn ich jetzt in Kiel eine Klasse hätte, die ich zwei oder drei Mal die Woche unterrichte, dann glaube ich nicht, dass ich länger als 20 Minuten BlitzDefence machen würde – auch wenn es eigentlich das Thema ist. Ich würde schon andere Übungen einführen, damit er einfach entspannen kann. Wieder herunterkommt. Deshalb habe ich ja auch meine Schubsübungen. Wie wir schon feststellten, selbstverständlich können sie das nicht sofort, aber jedes Mal ein wenig Schubsen und sie werden sich gegen Schubsen und Ziehen besser behaupten können, als wenn sie es nie gemacht haben. Wenn du einen Menschen drei Mal die Woche zehn Minuten schubst, wird er natürlich nicht so leicht auf den Rücken fallen, wie einer, mit dem du das nicht übst. Deswegen haben wir einen Vorteil. Wir können schlagen, schubsen, ziehen, Fingerzeigen üben.
WTW: Der normale Schüler soll im Unterricht außerdem noch Teile des traditionellen Programms lernen.
GM Kernspecht: Klar. Er übt SiuNimTau, so dass er wieder herunterkommt. Und dann ist die Zeit auch ganz gut herum.
Weitere Entwicklung
WTW: Vielleicht abschließend: Wir haben jetzt festgestellt, dass BlitzDefence mehr als 11 Jahre alt ist. In den letzten Jahren hast Du Dich extrem der Entwicklung der Tast-Programme gewidmet wie zum Beispiel dem ReakTsun. Außerdem hast Du dieses unglaubliche Buchprojekt. Wirst Du Dich irgendwann noch einmal dem BlitzDefence im Sinne einer Weiterentwicklung widmen oder hältst Du es für fertig?
GM Kernspecht: Eigentlich ist die Weiterentwicklung schon geschehen. Dadurch zum Beispiel, dass ich die Fauststöße mehr oder weniger durch Handflächenstöße und Handkantenschläge ersetzt habe. Da ist also schon etwas passiert.
WTW: Das heißt, auch wenn es nach außen vielleicht nicht so aussieht, ist BlitzDefence für Dich etwas, das ständig präsent ist.
GM Kernspecht: So ist es.