Editorial

Meister unterrichtet Anfänger – Zeitverschwendung oder Bereicherung?

Immer wieder höre ich von höher graduierten Lehrern die Aussage: „Ich unterrichte keine Schülergrade. Das finde ich nicht interessant.“ Diese Ansicht ist nachvollziehbar. Es kann durchaus anstrengend sein, immer wieder die gleichen Dinge zu erklären – quasi ständig bei Null anfangen zu müssen.

Abholen und Motivieren

Mir persönlich macht genau das sehr viel Spaß. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich bei einem Anfänger das Feuer für WingTsun anfachen kann:

  • Schüler/innen sind am Anfang sehr begeisterungsfähig. Diese Begeisterung steckt auch mich als Lehrer immer wieder an. Ich freue mich, dass der Schüler sich freut.
     
  • Beim Unterrichten sieht man den Fortschritt in diesem Stadium des Lernens noch sehr direkt. Die Schritte sind groß und offensichtlich, die Lernenden fleißig.
     
  • Anfänger stellen immer wieder herausfordernde Fragen: Warum wird die Bewegung genau so ausgeführt? Wie kriege ich es hin, dass…? Dies bringt mich als Unterrichtenden dazu, sehr genau über das Wie nachdenken zu müssen. Dadurch lerne ich automatisch selbst sehr viel hinzu.

Einige wichtige Punkte gilt es beim Einsteiger-Unterricht zu beachten, damit sich Lehrende und Lernende freuen:

  • Wichtig ist, Schüler/innen dort abzuholen, wo sie tatsächlich stehen
    Erwartet man als Lehrer mehr, als vorhanden ist, überfordert dies. Das kann dazu führen, dass jemand in diesem frühen Stadium des Lernens denkt, WingTsun sei zu schwierig. Die Lust am Lernen verfliegt und möglicherweise wird der WingTsun-Unterricht direkt wieder aufgegeben.
     
  • Das Ziel sollte erkennbar sein
    Die Zusammenhänge müssen direkt für die Lernenden verständlich sein: Wieso übe ich dies? Wohin führt es mich? Welches ist das mittelfristige Ziel, auf das ich hinarbeite?
     
  • Kleine erreichbare Teilziele setzen
    Ein häufig gemachter Fehler ist, zu viel auf einmal zu zeigen. Dies führt nur zu Enttäuschung – bei den Übenden, weil sie es nicht umsetzen können und beim Lehrer, weil die Schüler es scheinbar „nicht begreifen“. Hingegen immer wieder kleine Ziele zu erreichen, motiviert enorm.
     
  • Loben ist wichtig
    Das Erreichen von Teilzielen darf und soll bestätigt werden. So erkennt der Lehrer den Fortschritt des Übenden an und dies macht es die Mühe wert – zusätzlich zum schlichten Lernfortschritt.
     
  • Bitte nicht „kaputt korrigieren“
    Klar, gerade bei einem Anfänger können wir vieles sehen, was noch besser gemacht werden könnte. Trotzdem ist es wichtig, mit der Korrektur bei dem Teil zu bleiben, auf den sich die Übung bezieht.
    Zum Beispiel: Wird der Fauststoß geübt, sollten die Bewegungen des Arms und der Faust und nicht etwas anderes korrigiert werden. „Der Fauststoß ist jetzt besser, aber deine Füße stehen falsch“, ist schlicht ein Abtörner.
     
  • Keine vorzeitige Korrektur
    Sie darf erst erfolgen, nachdem der Lernende einige Zeit üben konnte. Nichts ist frustrierender, als korrigiert zu werden, bevor man die Gelegenheit zum Ausprobieren hatte.
     
  • Erklärung und Lösungsvorschlag geben
    Nur ein „Das ist falsch!“ ohne weitere Erklärung verunsichert und demotiviert. Entsprechend sucht sich unser neuer Schüler sich eine andere Freizeitbeschäftigung. Gibst du eine Erklärung und zusätzlich möglichst eine Anleitung, wie es besser zu machen ist, geht es wieder vorwärts.
     

Ausprobieren, experimentieren, erfahren

Bewegungslernen ist ausprobieren, experimentieren und erfahren, was nicht geht – bis es geht. Kurz: Es braucht seine Zeit. Erinnere dich an deine Anfänge im WingTsun: Wie erging es dir, als du in dieser Phase des Lernens stecktest? Sicherlich gibst du dann auch bereitwillig anderen die Chance, zu lernen und Fehler zu machen.

Gerade bei Menschen, die langsam oder schwierig lernen, braucht es viel Geduld, damit sie das Vertrauen in den Gedanken fassen:„Auch ich kann das schaffen!“ Druck wäre hier fehl am Platze.

Obwohl wir Selbstverteidigung unterrichten, geht es im Unterricht nicht um eine akute Bedrohung. Der Schüler ist in seiner Freizeit bei uns, will etwas Vernünftiges in einer angenehmen Atmosphäre lernen und nette Leute treffen.
 

Abwechslungsreiches Unterrichten

Ich selbst unterrichte seit dem 3. SG und habe durchs Unterrichten sehr viel gelernt – auf allen Stufen. Mir ist aufgefallen, dass gerade in den unteren Schülergraden sehr viel Wissen steckt. Dass ich sie mir immer wieder genau anschaue und mit Schülern durchgehe, hat mir vieles klargemacht. Ich habe erkannt, dass Unscheinbares, Unspektakuläres sehr viel Wesentliches in sich bergen.

Wir haben sehr unterschiedliche Teilnehmer in unseren Kursen. Jeder lernt anders oder hat andere körperliche Voraussetzungen. Unsere Aufgabe ist, dass jeder an sein Ziel kommt und WingTsun immer etwas besser versteht. Darum sollten die Unterrichtsmethoden abwechslungsreich sein, so dass jeder eine Chance bekommt. Je besser Schüler/innen verstehen, worum es geht, desto motivierter werden sie.

In der Schweiz haben wir seit gut einem Jahr die Lehrmittel esa für den Erwachsenensport vom Bundesamt für Sport (eidgenössische Ausbildung für Trainer/innen verschiedener Sportarten) im WingTsun übernehmen können. Hier geht man genau davon aus, dass Erwachsene mit Freude, Spaß und Abwechslung unterrichtet werden wollen. Um ein effizientes Lernen zu erreichen, gilt als Devise „beraten“ statt „korrigieren“, d.h. Unterricht als beratender Austausch auf gleicher Höhe und nicht „von oben herab“. Dies ist zwar keine traditionell-chinesische Unterrichtsart, doch für Europäer funktioniert sie viel besser.
 

Unterrichtsmethoden

1. Zeigen und Nachmachen

Die Ausbildende zeigt die Bewegung und gibt mündliche Anweisungen. Dies ist die häufigste Unterrichtsart bei uns.
Die Menschen sind es gewohnt, etwas nachzuahmen, etwas so gut wie möglich wiederzugeben, das sie sehen.

Hier ist es natürlich wichtig, dass der Ausbilder die Bewegung korrekt zeigt und genau weiß, wie ihr Ablauf ist. Schüler kopieren sehr genau – auch die nicht korrekten Bewegungen. Regelmäßige Selbstkontrolle mit Spiegel, Video oder über den eigenen Lehrer ist deshalb wichtig.

Achte darauf, dass

  • die Schüler dich gut sehen können (kleinere nach vorn).
     
  • du je nach Stufe nur die wichtigsten Schwerpunkte benennst.
     
  • du einzelne Teile vorzeigst, damit der Schüler sie besser aufnehmen kann.
     
  • du zeigst (optisch), erklärst (akustisch) und die Bewegung körperlich führst (sensorisch); denn jeder Schüler lernt anders.
     
  • du Zusatzwissen vermittelst.
    Zum Beispiel: Wie die Atmung sein soll, wo dein Schwerpunkt ist, wie du das Gleichgewicht halten kannst, wie du die großen sieben Fähigkeiten verbessern kannst oder welches die biomechanischen Abläufe sind?

 

2. Sich gemeinsam mit einem Thema auseinandersetzen

Gruppenarbeiten funktionieren auch für unseren Unterricht gut. Hier gibt es verschiedene Ideen und Möglichkeiten:

  • Gemeinsame Aufgabe
    Schüler erhalten die Aufgabe, zu zweit oder als kleine Gruppe eine bestimmte Übung zu machen und sich gegenseitig zu helfen. Es empfiehlt sich, wenn die Partner wechselnd die Aufgabe erhalten, dem andern die Übung zu erklären. Dazu braucht es schon einiges an Denkarbeit und man ist viel konzentrierter bei der Sache.
     
  • Rollenwechsel
    Einer soll den Ausbilder spielen und einen Teil der Form begutachten. Anschließend werden die Rollen getauscht. Der Lehrer beobachtet das Ganze und holt abschließend das Feedback dazu ein, was erkannt und gelernt wurde.
     
  • Individuelle Aufgabenstellung
    Eine gestellte Aufgabe gemeinsam erarbeiten. Der Lehrer gibt z.B. eine bestimmte Selbstverteidigungssituation vor. Die Schüler sollen alle gemeinsam oder in mehreren kleinen Gruppen eine Lösung mit ihrem momentanen Wissen erarbeiten. Der Lehrer ist immer dabei und hilft, falls erwünscht. Zum Schluss tauscht man sich über die gefundenen Strategien aus und diskutiert deren Vor- und Nachteile.
     

„Erzähle es mir – und ich werde es vergessen.
Zeige es mir – und ich werde mich erinnern.
Lass es mich tun – und ich werde es behalten.

                                                                                                                                                        Konfuzius

In diesem Sinne viel Spaß beim Ausprobieren! Ich bin gern für euch da, wenn es Fragen gibt.
 

Euer Giuseppe Schembri
 

Fotos: hm