Sifu Bernd Wagner – „an integrate Martial Artist
Sifu Bernd Wagner gehört zu den Kampfkunstmeistern, die sich neben der körperlich-technischen Seite des WingTsun intensiv mit den geistigen Aspekten beschäftigen. So können Körper und Seele vereint werden, denn wenn es darauf ankommt, ist die Intuition wichtiger als bloße Technik. Sifu Bernd weiß, was er möchte. Wichtig während des Unterrichtes ist ihm die Tatsache, dass der Lehrer und der Schüler gemeinsam die Lehre erschaffen. Ohne Schüler gibt es keine Lehrer und ohne Lehrer keine Schüler.
WTW: Wie kamst du überhaupt dazu WT zu erlernen?
Sifu Bernd: Angefangen habe ich ganz klassisch, ich trainierte ein paar Jahre Kick- und Thaiboxen. Damals hatte ich aber schon Ambitionen bzw. den Wunsch, eine eigene Kampfsportschule zu eröffnen. Hatte ich zwar Erfolg bei Wettkämpfen, spürte ich doch, dass mir irgendetwas fehlt. Aber es war nicht so einfach, das berühmte i-Tüpfelchen zu finden. Deshalb absolvierte ich zunächst eine solide Ausbildung zum Industriemechaniker. Durch eine Urlaubsbekanntschaft in Spanien wurde ich auf das Leung Ting-WingTsun aufmerksam. Ich wurde eingeladen, an einem WT-Training teilzunehmen. Neugierig beschloss ich dieses Angebot anzunehmen. Das alles war im Sommer 1986. Das Training war für mich so prägend, dass ich mich entschloss, nach meiner Bundeswehrzeit eine zweite Berufsausbildung als WT-Lehrer zu absolvieren, die ich auf Schloss Langenzell bei Großmeister Kernspecht begann.
WTW: Was ist für dich so faszinierend am WT?
Sifu Bernd: Es handelt sich um intelligente und effiziente Bewegungen, die hart und weich sein können. Spannung oder Entspannung, langsam oder schnell – alles verbunden mit der richtigen Atmung. Woran viele Kampfkünstler nicht denken ist: Wenn man mit dem Körper nachgeben kann, ist dies auch im Geist möglich. Nachgeben bedeutet nicht immer Schwäche. Durch dieses Körper- und Geist-Bewusstsein werden ganz neue eigene Potentiale erschlossen. Wer WingTsun richtig betreibt, kann sich als Mensch weiterentwickeln. Letztlich sollte ein Kampfkünstler „ganzheitlich" und „vielseitig" sein!
WTW: Wie kamst du dazu, Assistenz-Ausbilder auf dem Schloss zu werden?
Sifu Bernd: Durch meine Berufsausbildung auf dem Schloss und meine dortige Anwesenheit wurde ich 1995 von Sifu Kernspecht angesprochen, mögliche Assistenzaufgaben zu übernehmen. Seitdem habe ich keinen Lehrgang und kein Tutorial auf Schloss Langenzell verpasst.
WTW: Während des Trainings sagtest du, auch mit weniger Training sei WT zu meistern. Du hast in diesem Zusammenhang den Begriff „Bewusstsein" benutzt. Wie meintest du das?
Sifu Bernd: Man muss weniger trainieren, wenn man immer gegenwärtig ist, nämlich JETZT im Moment lebt und alles „bewusst" erlebt. Das sollte das Ziel eines jeden sein. WT ist auch ein Konzentrationstraining, mit dieser Methode kann ich auch mit weniger Training trotzdem effizient arbeiten. Früher habe ich viele Stunden am Tag trainiert. Das war vom Grundsatz her nicht verkehrt, nur habe ich das nicht „bewusst" genug getan.
Heute agiere ich bewusst. Ich konzentriere mich auf den Moment, auf die Gegenwart. Denn das ist , was zählt. Man sollte die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und nicht krampfhaft versuchen, in die Zukunft zu schauen. Man kann zwar planen, aber der Ausgang ist völlig offen und kann in eine ganz andere Richtung gehen als gedacht. So belaste ich mich nicht mit unnötigen Gedankenspielen, sondern bin offen für das „Jetzt und Hier".
WTW: Du hast eine enorme Kraftübertragung, wie kommt diese zustande?
Sifu Bernd: Das eigentliche Geheimnis, ist das „bewusste" Kennen lernen seines Körpers. Kampfkunst heißt, ein Leben lang an sich zu arbeiten. Darin gibt es keine Grenzen. Regelmäßiges Üben, die Verbindung deines täglichen Lebens mit der Kampfkunst. Dadurch wird man geistige Reife erlangen. Die Schnelligkeit und Explosivität kommt durch völlige Entspannung, Ruhe und Eintracht. Der Einsatz der sieben Kraftquellen des menschlichen Körpers bewirkt die besondere Power.
WTW: Welche Schwerpunkte bzw. Prioritäten hast du dir persönlich gesetzt?
Sifu Bernd: In einem Satz ausgedrückt: Ich strebe an, ein „spiritueller, erleuchteter und ganzheitlicher Kampfkünstler" zu sein. Mein Tagesablauf hat mehrere einzelne Schwerpunkte, die mich meinem Ziel näher bringen. Ich stehe gewöhnlich morgens um 5 Uhr auf, beginne den Tag mit einigen „Yoga-Übungen". Danach beschäftige ich mich intensiv mit dem „Pranayama", einer Form von Atemübungen. Zur Entspannung und Energiegewinnung bevorzuge ich dann die Meditation. Dann erst beginne und befasse ich mich mit dem WingTsun. Nach meinem eigenen Training folgt meist das Gruppentraining oder Privattraining. Auch mein Trainingsaustausch mit Sifu Hans-Peter Edel formt meine Schwerpunkte. Wir treffen uns alle 2 bis 3 Wochen, um gemeinsam unsere Programme – das waffenlosse WT, sowie auch die Waffenprogamme zu verinnerlichen. Das Privattraining mit meinem Si-Fu ist aber der Höhepunkt, hier werden alle Facetten abgedeckt, alle Bereiche behandelt, die einen zu einem wahren Meister machen. Es sollte eine Meisterschaft auf vielen Ebenen sein, die es zu erreichen gilt. Denn der Meistergrad bedeutet viel mehr, als man sich zunächst vorstellt – eine stetige Anpassungsfähigkeit im Training wie im Leben allgemein. Das Leben ist lebendig, ständig im Fluss. Du musst in die Kampfkunst hereinwachsen, kleine Schritte machen. Die machen es letztendlich aus. Wenn du zu schnell voran schreitest, übersiehst du zu viel. Das ist wie beim zu schnellen Autofahren, man verpasst rechts und links alles mögliche. Es sind doch die Kleinigkeiten, die zählen. Sie machen die wahre Meisterschaft aus, die wir alle anstreben sollten.
WTW: Du meditierst, was hat es damit auf sich?
Sifu Bernd: Die wahren Antworten kann man nicht im Äußeren finden, sondern nur in sich selbst. Die Kunst dabei ist, an diese heran zu kommen. Die Welt wird einem immer begegnen, wie man diese sieht. Viele haben Streit mit anderen, schlagen sich (verbal) täglich mit anderen herum. Dabei übersehen sie, dass sie selbst eher das Problem sind und nicht die anderen. Ein zu kleiner Horizont, der von Natur aus wenig Toleranz zulässt, wird einem hinderlich – ebenso wie ein verkehrtes Rechtsempfinden oder falsche Fairnessgedanken. Auch ich ärgere mich selbst ab und zu darüber, wenn auf einer kurzen Fahrstrecke alle Ampeln auf „rot" geschaltet sind. Da spüre ich gelegentlich die Ansätze von Wut in mir. Diese neutralisiere ich durch meine Meditation, weil Meditation, egal aus welcher Richtung sie kommt, eine Reinigung des Geistes ist. Wir putzen tagtäglich unsere Zähne, wir waschen unsere Hände und duschen uns. Auf die äußerliche Säuberung wird großen Wert gelegt, jedoch wenig auf die Innere. Deshalb ist innere Säuberung so wichtig und die Meditation hilft uns dabei.
WTW: Du zeigst viele schnelle explosive Bewegungen, bist du privat ebenso?
Sifu Bernd: Mein Motto ist: „Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort". Das, was ich mache, ist alles „kontrolliert offensiv" und so wird es auch umgesetzt. Man muss im Leben einmal Hass gespürt haben, um Liebe einschätzen zu können. Ich kann nicht wissen, was ein Berg ist, wenn ich nicht schon mal in einem Tal gewesen bin. Eben im richtigen Moment einfach „da" zu sein. Privat bin ich durch meine Vorkenntnisse ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Ich weiß einzuschätzen, wann ich was brauche, um das Feuer in mir warm zu halten. Die Techniken bzw. Anwendungen sollten „nüchtern" aber präsent ausgeführt werden, so behält man seine Lockerheit bzw. Weichheit.
WTW: Du studierst Sportpädagogik mit der Spezialisierung WingTsun, wie läuft so ein Studium ab?
Sifu Bernd: Ich studiere an der staatlichen Fern-Universität Plovdiv. Eines vorweg: die Gesamtleistung aller Beteiligten, die im Hintergrund agieren, die den organisatorische Teil und das operative Geschäft leiten sowie das Planungswesen – all denen gilt meine allergrößte Hochachtung. Dass sie das alles in dieser Art möglich gemacht haben, ständig präsent sind, auf alle Fragen eine Antwort haben – vielen Dank!
Das Verhältnis zwischen den Kommilitonen ist hervorragend, jeder hilft dem Anderen so gut es geht und man es zeitlich einrichten kann. Das Fernstudium hat einen wirklich großen Vorteil dem klassischen Studium gegenüber – eben „die Zeit"! Mehr oder weniger hat man es selbst in der Hand, sich auf den Unterrichtsstoff einzulassen. Die „Praxiswochen" sind aber das Zünglein an der Waage, diese runden das Studium ab und geben dem ganzen seinen Charakter. Ich bin froh, dabei sein zu dürfen. Es macht mir wirklich sehr großen Spaß.
WTW: Was wirst du anlässlich deines 15. Schul-Jubiläums alles auf die Beine stellen?
Sifu Bernd: Wir haben mehrere Projekte geplant. Zum einen werden wir das 1. WingTsun-Camp in der „Toskana der Pfalz" vom 16. Juni bis zum 19. Juni 2005 in Pleisweiler-Oberhofen veranstalten. Alle, die daran Interesse haben, können sich diesbezüglich bei mir melden oder auf meine website www.wt-akademie.com gehen. Das wird bestimmt ein riesiger Spaß und ermöglicht jedem Teilnehmer, seine WingTsun-Kenntnisse zu verfeinern. Dort werden auch verschiedene Aktivitäten im Bereich WingTsun-ChiKung, Meditation und Yoga geboten. Während der Pausen sind wir unterwegs zu einer Weinprobe und planen einen Fackel-Lauf in den Weinbergen. Diese Aktivitäten runden das Angebot in der Camp-Woche ab. Zum anderen sind wir Mit-Sponsor eines großangelegten Music-Events im Bereich Hip-Hop. Ebenfalls ist geplant, auf regionalen Stadtfesten Demonstrationen des Leung Ting-WingTsun vorzuführen. Alles in allem werden wir präsent sein, um diesen Anlass gebührend zu feiern.
WTW: Was sind deine persönlichen WT-Highlights?
Sifu Bernd: Auf diese Frage angesprochen, erwarten viele die Antwort, es sei bestimmt meine Ernennung zum Sifu auf der Geburtstagsfeier von Großmeister Leung Ting in Hongkong 1997. Ein anderer meinte, es sei sicherlich die Budo-Gala 2000, wo ich das Leung Ting-WingTsun vertreten durfte. Ein Dritter sagte, es könne nur meine Ernennung zum 5. Praktiker-Grad am 07.06.2001 gewesen sein. Sie alle haben recht und auch wieder nicht. In Wirklichkeit ist jeder einzelne Tag, mit dem ich mich mit dem WingTsun beschäftigen bzw. LEBEN kann, ein „Highlight" für mich. Da ich, wie schon eingangs erwähnt, nicht in der Vergangenheit lebe, sondern in der Gegenwart, zählt wirklich nur das „Jetzt und Hier"! Was wäre schlimmer, als sich auf seinen erworbenen Lorbeeren auszuruhen und nicht gegenwärtig an sich persönlich zu arbeiten. Es wäre genau das Gegenteil von dem, was WingTsun uns lehrt, nämlich starr und tot.
WTW: Vielen Dank für das ausführliche Interview.
Textzusammenfassung und Bilder: Mirko Kannenwischer