Ihr habt GM Kernspecht beim neuen Blitzdefence Buch beraten, das speziell für Frauen geschrieben wurde. Seit wann beschäftigt ihr euch mit dieser Thematik?

Sabine: Ich unterrichte seit 1987 Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen. Vor zehn Jahren habe ich mich dazu entschlossen, mein Hobby zum Beruf zu machen und die erste reine WingTsun-Frauenschule zu eröffnen.

Emanuel: Bei mir ist es rund zwanzig Jahre her, dass ich mich zuerst mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Mein Interesse kam durch den Kontakt zu Opfern von Gewalttaten, mit denen ich während meiner täglichen Arbeit immer wieder zu tun hatte. Mir wurde klar: hier willst du helfen. Anfangs stand für mich die körperliche Verteidigung meiner Kursteilnehmerinnen im Vordergrund. Obwohl uns noch keine WT-Techniken zur Verfügung standen, war das Motto schon damals: Volldampf voraus! Den seinerzeit offiziellen Rat der Polizei an die Bürgerinnen, sich bei einer Bedrohung nicht zu wehren, hielt ich von Anfang an für falsch.

Leider hielt man von offizieller Seite lange daran fest.

Emanuel: Das stimmt. Umso erfreulicher für all diejenigen, die bereits zu dieser Zeit ein selbstbewusstes Auftreten empfohlen haben. Nachdem Polizeistatistiken bewiesen haben, dass Frauen mit einer möglichst aggressiven Verteidigung bei einem Angriff die besten Karten haben, wurde auch bei der Polizei umgedacht.

Neben der Arbeit an dem Buch, seid ihr seit letztem Jahr sehr aktiv und schult die Ausbilder der EWTO in Blitzdefence für Frauen. Worin liegen die Schwerpunkte bei den Seminaren?

Sabine: Der Schwerpunkt in meinen Übungsleiter-Schulungen liegt in der Sensibilisierung für die ganz alltäglichen Übergriffe und alltägliche Gewalt gegen Frauen und Kinder. Es gilt, darin eine Gefahr zu erkennen und zu handeln, bevor eine Situation eskaliert. Außerdem werden erste praktische Übungen zum Einsatz von Stimme und Körpersprache als Waffe in unangenehmen und bedrohlichen Situationen gemacht. Hier steht die Prävention im Vordergrund.

Emanuel: Ich möchte die Teilnehmer von meinem beruflichen Hintergrundwissen profitieren lassen. Sie sollen wissen, was auf der Straße und in deutschen Wohnungen abgeht. Hinzu kommen die Programminhalte, die Sabine bereits aufgezählt hat, unter anderem auch Rollenspiele mit Videoanalyse und Trainingseinheiten außerhalb der Schulen, z.B. Fahrzeugsituationen.

Ist es wirklich nötig, hierfür Seminare anzubieten? Schließlich unterrichten viele WingTsun-Lehrer seit Jahren Frauen und haben teilweise großen Erfolg mit ihren Frauenklassen.

Emanuel: Viele Schulen in der EWTO trainieren seit vielen Jahren gut und erfolgreich Frauen. Und natürlich sind die WT-Technik, die Mottos und Prinzipien genauso gültig wie vor 25 Jahren. Für den Pre-Fight gilt jedoch: Die Zeiten haben sich geändert und was vor zehn Jahren galt, ist heute lange überholt und nicht mehr anzuwenden. Die Menschen haben sich geändert. Sie sind irgendwie brutaler geworden, hemmungsloser. Gerade Frauen und Mädchen sind sehr oft die Leidtragenden. Also haben wir uns von der EWTO zusammengesetzt und ein neues Konzept ins Leben und ins Training gerufen, das heißt: Frauen und Mädchen wehrt euch! Wie sie das machen sollen, das werden wir den Lehrern/innen der EWTO vermitteln und diese wiederum den Frauen/Mädchen in den einzelnen WT-Schulen.

Sabine: Das stimmt, außerdem gibt die große Nachfrage seitens der Ausbilder uns recht und zeigt, dass es einen Bedarf gibt für diese freiwilligen Schulungen.

GM Kernspecht hat vor drei Jahren Blitzdefence für Männer eingeführt. Inwieweit ist Blitzdefence für Frauen damit vergleichbar?

Emanuel: Blitzdefence für Männer ist ein Programm, das sich speziell mit dem Macho-Ritualkampf zwischen Männern beschäftigt. Hier geht es um die kritischen Sekunden vor und während einer körperlichen Auseinandersetzung, allerdings wie beschrieben unter Männern.
Das Frauenprogramm geht von einer ganz anderen Situation aus. Hier stehen sich nicht nur zwei verschiedene Personen, sondern zwei verschiedene Geschlechter gegenüber. Damit verbunden auch automatisch ein Rollenverständnis von Frauen und Männern.

Sabine: ... das bei vielen leider noch veraltet ist. Die meisten denken, Selbstverteidigung ist ein geeignetes Mittel nicht Opfer einer Vergewaltigung zu werden, dabei kann es viel mehr sein. Wir vermitteln im Blitzdefence, dass es bereits um Kleinigkeiten geht, bei denen Frauen reagieren sollen. Das kann bei abfälligen Bemerkungen beginnen oder Mobbing im Job betreffen. Auch hier sind die WingTsun-Prinzipien gültig und können wie im Buch beschrieben eingesetzt werden.

Emanuel: Genau. Frauen kennen ihren Gegner zumeist, denn er ist zu 75 Prozent ein Bekannter. Bei Schlägereien zwischen Männern ist das eher die Ausnahme.

Wie wirkt sich das im Training aus?

Sabine: Frauen müssen sich anders als Männer vor der Auseinandersetzung besonders stark und selbstsicher geben, auch wenn sie es vielleicht gar nicht sind. Vergewaltiger suchen keine Gegner, sie suchen Opfer.

Emanuel: Und hier setzt Blitzdefence an. Es gilt eine selbstbewusste Körpersprache zu entwickeln und bei einer Bedrohung entschieden zu reagieren. Heißt es bei Blitzdefence für Männer: Der Angreifer muss den WT-ler unterschätzen, muss die WT-Frau dem Angreifer unmissverständlich klar machen: Bis hier und nicht weiter, sonst knallt's!

Diese Idee liegt auch anderen Selbstverteidigungskursen zugrunde.

Emanuel: Richtig, aber im Blitzdefence geht es um die Gesamtheit aller Techniken. Wir bieten ein schlüssiges Konzept. Abgesehen von den effektiven Techniken, werden in unseren qualifizierten Schulen auch Rollenspiele, Kommunikationstrainings und situationsangepasste Übungen durchgeführt und zwar in den Schulen und außerhalb in Tiefgaragen, dunklen Straßen, Parkplätzen, usw. Dieses geschieht, um wirklichkeitsgetreuer trainieren zu können. Frauen und Mädchen müssen das Gefühl kennenlernen, sich überall behaupten zu können und nicht nur in einer sicheren Umgebung.

Das stellt zwar einen sehr viel größeren Arbeitsaufwand im logistischen Bereich dar, ist aber in der heutigen Zeit unabdingbar für ein solides und ehrliches Frauentraining.

Sabine: Hinzu kommt der entscheidende Unterschied: unser WingTsun. Die Anwendbarkeit der WT-Technik ist einfach nicht zu toppen. Manche Kurse leisten ja in der Prävention eine gute Arbeit und lassen dann bei den körperlichen Techniken stark nach. Oft folgen einer guten, offensiven Kommunikation Befreiungs-, also passive Techniken. Das ist ein Widerspruch.
In Blitzdefence ist alles offensiv ausgerichtet: Körpersprache, Rhetorik und natürlich WT!

Hört sich brutal an. Schreckt das nicht viele Frauen ab?

Emanuel: Natürlich muss man zuerst herausstellen, warum eine Verteidigung offensiv ausgerichtet sein soll. Den meisten Frauen, insbesondere denen, die noch gar keinen Kontakt mit Kampfkunst oder Selbstverteidigung hatten, fehlt hierzu das Hintergrundwissen. Erfahren Sie, dass Frauen, die sich energisch zur Wehr setzten, dieses zu 90 % mit Erfolg taten und damit eine Vergewaltigung oder ein ähnliches Delikt verhindern konnten, sind die meisten bereits überzeugt.

Wurde aus diesem Grund "Verteidige Dich³" geschrieben?

Sabine: Das Buch klärt auf und macht Frauen Mut, die bisher vielleicht noch nicht daran gedacht haben, sich aktv zu wehren. Außerdem soll es WingTsun-Schülerinnen als Begleitwerk zum Unterricht dienen, genau wie "Blitzdefence - Angriff ist die beste Verteidigung" dies für Männer tut.

Emanuel: "Verteidige Dich³" ist für die Frauen geschrieben, denen es schon lange "stinkt" wie respektlos mit ihnen umgegangen wird und auch für die, die vielleicht schon etwas Schlimmes mitgemacht haben.

Warum heißt das Buch Verteidige Dich hoch 3?

Sabine: Die 3 steht für die drei Schritte des Blitzdefence-Systems für Frauen: Grenzen ziehen, Grenzen bewachen und Grenzen verteidigen. Alles andere macht keinen Sinn. Selbstverteidigung beginnt damit, eigene Grenzen bewusst zu ziehen und eine Gefahr frühzeitig zu erkennen. Erst dann kann ich mich mit der Verteidigung durch Rhetorik oder gar Kampftechniken beschäftigen. Genauso ist das Buch aufgeteilt.

Welche Rolle spielen die WingTsun-Techniken innerhalb des Blitzdefence für Frauen?

Emanuel: Die WT-Techniken bilden den Kern der dritten Phase. Sie dienen dazu, einen Grenzüberschritt durch einen Mann in letzter, nämlich körperlicher Konsequenz zu ahnden.

Im Buch wird dies mittels Bilderserien und den Lehrvideos auf der CD verdeutlicht. Dadurch, dass WT von einer Frau für Frauen erfunden wurde, brauchen wir an deren Ausführung nichts zu ändern - es war bereits immer ein "Frauensystem".

Das neue, aufwendig gestaltete Buch und die Ausbilderschulungen zeigen, dass die EWTO das Thema Frauenselbstverteidigung sehr ernst nimmt. Was sind hierzu eure Wünsche und Pläne für die Zukunft?

Sabine: Ich hoffe sehr, dass die weibliche Seite der Selbstverteidigung nicht mehr Randthema, sondern gleichberechtigt neben der männlichen Sicht der Realität steht. Außerdem hoffe ich auf einen höheren Frauenanteil unter den AusbilderInnen und SchülerInnen in der EWTO.

Emanuel: Da schließ ich mich gerne an.