Editorial

Kein Mensch muss müssen, wenn er nicht wollte

Kein Mensch muß müssen, und ein Derwisch müßte?
Was müßt' er denn?
Lessing (Nathan der Weise)

Ich bin mit über 30 Studenten und Professoren unseres WingTsun/Sportpädagogik-Studiums in Obertauern. Aus meinem Hotelzimmer habe ich einen herrlichen Panoramablick auf die Pracht der österreichischen Winterlandschaft. Zweibeinige Ameisen schießen weiße Hänge herab und krabbeln auf der anderen Seite wieder rauf. Ob unsere WT-Studis auch darunter sind?
Gerade als ich mich ins Schneevergnügen stürzen will, piept es: „lieber si-fu, hast du das editorial schon fertig zum übersetzen?
Mist, ich kann doch nicht raus, ich muss mein monatliches Editorial absondern. Dabei hab ich mir noch nicht einmal ein Thema einfallen lassen. Aber die Termine drängen, ich muss meine Pflicht erfüllen und meinen Text absenden.

Aber „muss“ ich denn wirklich? „Kein Mensch muss müssen“, sagt des Volkes Mund. Wie oft habe ich diesen Spruch gehört und selbst abgelassen!
Freilich ohne mir darüber im Klaren zu sein, wie Recht der weise Nathan damit hat. Tatsächlich müssen nicht nur Sufis (bzw. Derwische bei Lessing) nicht „müssen“, wir müssten es auch nicht!
Aber „muss“ ich denn meine monatliche Hausaufgabe nicht pünktlich abliefern?
Das Editorial „muss“ doch rechtzeitig auf unsere Seite!

So wie ich fragen sich viele:
- „Muss“ ich denn nicht die Erwartungen der Eltern erfüllen und z.B. auf den Umzug verzichten?
- „Muss“ ich denn nicht freundlich sein zu anderen und gute Miene zu bösem Spiel machen?
- „Muss“ ich denn nicht pünktlich meinen Platz am Schreibtisch beziehen?

Nein, ich „muss“ nicht, es steht kein wirklicher Zwang dahinter, den Druck mache ich mir nur selbst!
Denn ohne mir darüber klar zu werden, habe ich unbewusst eine Rechnung für mich aufgemacht: wie bei einem Schulaufsatz, mit Vor- und Nachteilen „fein säuberlich“ gegeneinander abgewogen. Dabei bin ich, natürlich unbewusst, zu einem Ergebnis gekommen. Nämlich, dass es nach Abwägung aller Fakten für mich zu teuer wird, wenn ich z.B. dem Wunsch meiner Eltern, in ihrer Nähe zu wohnen, nicht nachkomme. Die Vorteile eines Umzuges (bessere Berufschancen, Nähe zur Freundin, mehr Lebensqualität) wiegen nicht die Nachteile auf (Gewissensbisse: wer kümmert sich um sie; oder auch ganz egoistisch: wird mein Bruder dann der Liebling usw.).
Auch gute Miene zum bösen Spiel anderer zu machen und so zu tun, als merkte ich es nicht, ist keine unumstößliche Verpflichtung.
Ich habe u.a. die Alternative, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Allerdings hätte ich dadurch Nachteile, die ich nicht in Kauf nehmen möchte, weil mir das zu teuer kommt. Also nehme ich die Option, Luft abzulassen und meine Meinung zu Gehör zu bringen, nicht wahr. Aber ich hätte die Möglichkeit dazu gehabt! Ich hatte diese Handlungsfreiheit, habe mich aber, so wie ich bin, nicht für diese teurere Lösung entscheiden können.
Aber der Zwang, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, der besteht doch, oder vielleicht auch nicht? Auch hier hätte ich die Wahl, länger zu schlafen. Nur war mir der Preis zu hoch, denn mein Schönheitsschlummer hätte mich auf Dauer das Wohlwollen meines Chefs gekostet, also springe ich aus den warmen Kissen. „Müssen“ muss ich auch hier nicht!
Es besteht auch kein Muss, was das pünktliche Abliefern meines Editorials betrifft. Eine Verspätung wäre unangenehm und peinlich, aber würde nicht mein Ende bedeuten! Jedoch es würde liebe und treue Leser enttäuschen. Und es ist mir wichtig, dass man mich für zuverlässig hält. Wichtiger, als den Schnee zu genießen. Ein bisschen Winterspass um den Preis, Ansehen einzubüßen und meine Prinzipien zu opfern, ist mir zu teuer bezahlt. Also tue ich meine selbstauferlegte Pflicht. Und da ich sie schon einmal tue, will ich sie auch tun wollen, tue sie so gut ich kann und habe meine Freude daran!  

Allerdings haben wir in solchen Fällen meist das subjektive Gefühl, einem fremden Zwang ausgesetzt zu sein, und fühlen uns ohnmächtig und willenlos ausgeliefert. Das Gefühl täuscht aber, und wir wollen uns aus psychohygienischen Gründen bitte immer wieder deutlich machen, dass wir nicht der willenlose Spielball einer höheren Macht sind, sondern dass intern bei uns ein Entscheidungsprozess stattgefunden hat, auf Grund dessen wir auf durchaus vorhandene, aber teurere Alternativen verzichtet haben.
Wir sind nicht einer fremden Macht ausgeliefert, sondern unserer eigenen, allerdings unbewussten. Wir sind nicht machtlos, jedenfalls nicht der unbewusste Teil von uns!
Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns immer dann (fälschlicherweise) machtlos vorkommen, wenn wir uns scheinbar in unser Schicksal fügen, nachdem wir aber in Wirklichkeit vorher die Alternativen geprüft und dann verworfen haben, ein Vorgang, der unbewusst, d.h. vor uns verborgen, abgelaufen ist. Da wir hinterher z.B. weiter in derselben Stadt wohnen bleiben, also nicht tätig werden, sondern „passiv“ bleiben, erleben wir uns als jemand, der fremdbestimmt sein aufgezwungenes Schicksal geduldig wie ein Opferlamm hinnimmt.

Hier hilft es, sich klarzumachen, dass wir, indem wir die Option nicht wahrnahmen, Nichthandeln „gewählt“ haben, dass also auch ein Nichtändern, ein Beibehalten des Kurses eine Art „Wahl“ ist, die wie alles Konsequenzen hat.
Wenn wir uns beispielsweise nicht von unserem Partner trennen, obwohl der so und so ist und dieses und jenes Unerfreuliche tut, dann bleiben wir bei ihm aufgrund unserer (unbewusst abgelaufenen) „Entscheidung“, dass es uns mehr Vorteile bringt. Aber wir müssen nicht!

Die Worte, die wir benutzen, bestimmen unser Denken und Handeln. Irgendwann sind wir die unentschlossenen fremdbestimmten Feiglinge, deren Sprache wir benutzen. Deshalb habe ich für mich persönlich den Vorsatz gefasst, die Wörtchen „muss“ oder „sollte“ nur noch sehr sparsam zu gebrauchen und jedes Mal zu hinterfragen, ob sie nötig waren.
Und dies auf die Gefahr, schroff und unhöflich zu wirken. Es ist nämlich bequemer, mit der Ausrede abzusagen: „Leider geht der Termin nicht, da MUSS ich nach X.“, wenn es in Wahrheit lauten müsste: „Ich würde gerne kommen, aber noch wichtiger ist mir der Termin in Z. Denn dort nicht zu erscheinen käme mich teurer zu stehen.“

Wir wollen immer öfter von der Möglichkeit der Handlungsfreiheit Gebrauch machen und die volle Verantwortung für all unser Tun und Nichttun (Unterlassungen) stolz übernehmen. Wobei wir nie vergessen, dass alles im Leben einen Preis hat, auch das Nichthandeln. Denn in einem gewissen Sinne wählen wir diese Option auch selbst. Allerdings meist unbewusst.

Aber heißt das denn, dass wir immer die Wahl hätten? Natürlich nicht: Wir können nicht wählen, ob wir geboren werden wollen, und unser Tod ist ebenso unvermeidbar. Und ich spreche hier auch nicht von uneingeschränkter Willensfreiheit, dass ich an diese nicht glaube, hat sich seit meinem Buch „Der Letzte wird der Erste sein“ herumgesprochen.
Aber was wir haben ist eine gewisse Freiheit zu handeln. Leider wird sie begrenzt durch unseren eigenen (!) unbewussten Widerstand, dadurch wie wir sind.
Unser Wesen macht uns berechenbar wie ein Schienenfahrzeug. Dennoch könnten wir ausbrechen, wenn wir wollten, wenn wir es nur stark genug wollten und bereit wären, den Preis dafür zu zahlen. Aber dazu müssten wir glauben, dass wir eine Wahl haben und uns ändern.
Die Änderung kann schon mit der Sprache beginnen, ein Anfang wäre der bewusste Verzicht auf das Passiv und das unpersönliche, keine Verantwortung übernehmende „man“, auf „müssen“ und „sollen“.

In festgefahrenen Situationen die Alternativen zu sehen und zu wagen, dazu soll dieser Artikel aufrufen.
„Mache Dich frei von Deiner eigenen Kraft!“ meint genau das: Der Widerstand, den Du spürst, kommt von Dir selbst. Spring über Deinen eigenen Schatten!
Lass los! Mach Dir nicht selbst Druck, empfinde Dich nicht länger als
ohnmächtiges Opfer sogenannter „Sachzwänge“. Es gibt keine!
Mach „Sachzwang“ zu Deinem persönlichen Unwort des Jahres 2006!