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Sneak Preview: Sifu Kernspecht’s Buch

Welche Rolle spielt ChiSao in der Selbstverteidigung tatsächlich? Welche Funktion die klebenden Hände im WingTsun erfüllen, verrät dir Großmeister Prof. Dr. Keith Kernspecht in einem exklusiven Auszug seines kommenden Buches, das Mitte des Jahres erhältlich sein wird.

Exklusiver Auszug:

Einige Gründe für das Entstehen der Klebenden Hände

Wie lang es schon so etwas wie ChiSao als Trainingsmittel gibt, kann niemand sicher sagen, ebenso wenig, welchem spezifischen Kampfstil wir dafür dankbar sein können.

Man kann wohl davon ausgehen, dass diese Methode den Nahkampf zu üben, ihren Ursprung in China genommen hat und von dort in andere Teile Asiens gelangte. Über Okinawa kamen die „Klebenden Hände“ dann nach Japan und auch nach Korea. Vermutlich gab es mehrere Gründe für die Erschaffung dieser Trainingsmethode:

  • Sicheres Training von Kampfbewegen ohne das sonstige Verletzungsrisiko, denn es ist per definitionem immer irgendwie ein Arm zwischen den beiden Trainierenden, der die ausgetauschten Schläge dämpft.
  • Die ideale Möglichkeit zur Erforschung der Gesetze des Kämpfens, weil man die Geschwindigkeit entsprechend verlangsamen kann.
  • Während die meisten Kampfstile es mehr mit dem Kampf auf größere Distanz (Fußtritte, Fauststöße mit Ausfallschritt usw.) zu tun haben, haben sich nur wenige asiatische Stile dem Nahkampf gewidmet.
  • Dazu gehören bei den chinesischen meist die aus dem Süden, wie WingTsun (Wing Chun, Ving Tsun), Weißer Kranich, Phönixaugen-Faust, südliche Gottesanbeterin, Weiße Augenbraue und andere. Das gilt allerdings auch für die sog. inneren Stile Chinas wie Tai Ji, Hsing-I, Pakua, Yi Chuan sowie I Liq Chuan in den diversen Schreibweisen.

Nahkampfmethoden sind in der realistischen Selbstverteidigung in ihrem Element wie der Fisch im Wasser. Will man auf MMA-Turnieren mitkämpfen, muss man zusätzliche Dinge trainieren!
 

Warum das Berührungs-Reflextraining der Klebenden Hände das ideale Training für Selbstverteidigung ist

Die überragende Rolle der Achtsamkeit

In der Selbstverteidigung ist das vorausschauende Erkennen der Situation und ihrer innewohnenden Gefahr (aber auch ihrer Chancen für uns) das Wichtigste. Dazu müssen wir hellwach sein und unsere Achtsamkeit muss unsere Sinne bewachen, die uns pro Sekunde 12 Millionen bits melden, davon 10 Millionen über die Augen.

Aber wir gehen im Halbschlaf durchs Leben und werden nur aufmerksam, wenn unsere Achtsamkeit schon auf bestimmte Merkmale geeicht ist. Sonst müssen wir uns durch den Schmerz des ersten Schlages (der der letzte sein kann) aufwecken lassen und reflexartig reagieren.
 

Die Rolle der Augen in der Staffel der Sinne

Um erst noch bevorstehende Gefahren und Bedrohungen, die hinter der nächsten Ecke, verdeckt von dem parkenden Van auf uns lauern, vorher zu erkennen, ist der Sehsinn not-wendend, im Sinne von die Not abwendend. Laienhaft könnte man zu der Ansicht kommen, dass die Augen, die dichter am Gehirn dran sind, eher Denkvorgänge wie Planen und Problemlösen bewirken als Hände, die erst unmittelbar den Gegner begreifen müssen, bevor sie begreifen.

Sehen“ wird in den verschiedenen Sprachen oft im Sinne von „verstehen“ benutzt: „Wie siehst du das denn?“ Im Englischen sagt man „I see.“, wenn man „Ach so“ meint. Wie dem auch sei, das Erkennen mit den Augen kann uns im Vorfeld ersparen, in manche Falle zu laufen.

So kann ein Boxer mit langen Armen (wie die Klitschkos) den Gegner systematisch auf Abstand halten und die Angriffs-Flugbahn (engl. trajectory) durch Extrapolation ganz gut kalkulieren, um nicht überrascht zu werden. Bei Kampfsportarten wie Boxen, Karate, Stockkampf usw. sind es hauptsächlich die Augen, die über die bevorstehende Gefahr informieren.
 

Die Rolle von Haut, Faszien, Muskeln in der Staffel der Sinne

In der Selbstverteidigung, insbesondere bei plötzlichen Überfällen, können uns die Augen aber nicht mehr vor der unmittelbaren Gefahr warnen, dafür jedoch die berührte Haut, Faszien, Muskeln usw. Ähnliches gilt zum Teil für Ringen, Judo, Sambo, aber auch für Goju-Karate aus Okinawa, das von chinesischen Systemen abstammt, die dem WingTsun ähneln und Kakie-Training (ChiSao) haben:

Kakie ist besonders effektiv im Nahkampf. Im normalen Kampf (kumite), sind es hauptsächlich die Augen, von denen man abhängig ist, um über die Bewegungen des Gegners informiert zu sein. Im Nahkampf ist es aber das Entscheidende, die gegnerischen Bewegungen über die Berührung wahrzunehmen.

Großmeister Higaonna Morio
 

Bekanntlich sind die Muskeln unser größtes Wahrnehmungsorgan und sie nehmen direkt wahr: Was man fühlt, ist tatsächlich da! Muskeln können kaum „falsch-nehmen“.

Es gehört zum Wesen des Überraschungsangriffes hinter dem ahnungslosen Opfer zu sein, in seiner Flanke, in seiner blinden Seite, desto weniger Gegenwehr muss der Angreifer erwarten.
 

Beim Kampfsport sind die Augen wichtiger

Bei einem fairen Kickbox-Kampf ist das anders: Man guckt auf die Brust des Gegners und sieht peripher auch seine Hände und Füße oder man sieht bei einigen Thaibox-Stilen auf seine Füße und nimmt dabei peripher auch die Hände wahr. Deshalb ist Sparring für Boxen und Kickboxen die passende Vorbereitung.

Aber nicht für Überraschungsangriffe!

Während die Augen nur nach vorn schauen können und auch dort nur etwas erkennen können, wenn es nicht zu dicht an uns dran ist – wie es z.B. im Clinch der Fall ist, kann der taktilkinästhetische Sinn (Muskelsinn) in alle Richtungen fühlen, tasten, spüren. Auch im Dunkeln und wenn uns Blut die Sicht erschwert. So wird man beim Überfall oft noch im allerletzten Moment gewarnt, wenn man gelernt hat, diesen Sinn zu beachten.

Der (ganzkörperliche) Tast- und Muskelsinn, den ich auch „Gestänge“ nenne, ist schwerer zu täuschen und schneller als der Sehsinn. Aber im Sparring hat man aufgrund des Abstandes zum Gegner ja auch mehr Zeit, wenn man nicht gerade im Nahkampf (z.B. Clinch) ist. Bösewichter wollen ihren Opfern aber keine Zeit zur Verteidigung geben, deshalb vermeiden sie die typische Sparrings-Entfernung. Stattdessen kommen sie überraschend von hinten oder von der Seite, und wenn möglich benutzen sie Ablenkungsmanöver wie ein Zauberkünstler.

Wer in Tuchfühlung mit dem Gegner trainiert ist, hat selbst noch eine gute Chance abzuwehren und reaktionsschnell zurückzuschlagen, wenn seine Augen im Vorfeld nichts sahen oder seine Aufmerksamkeit abgelenkt war.
 

Mit Fühltraining gibt man seinen Armen Augen und macht seinem Gegner Beine

Mit diesen Sehenden Armen kann man fast hellseherisch die Absicht des Gegners erkennen, während dieser noch in der Angriffsvorbereitung ist. Es ist auch sinnvoll, sich in einigen Phasen des Fühltrainings die Augen zu verbinden.
 

ChiSao soll nicht nur warnen, es soll uns direkt in Sicherheit bringen

Damit diese Trainingsmethode aber optimal gegen Überfälle schützt, darf sie nicht nur Fähigkeiten entwickeln, die uns vor dem bevorstehenden oder gerade begonnenen Angriff bloß warnen. Die Berührung des Gegners muss uns auch (ohne dass er das beabsichtigt!) unmittelbar in Sicherheit bringen.
 

Durch ChiSao wollen wir in die Flanke des Gegners gebracht werden

Sein Bewegungsdruck in Verbindung mit unserem soll uns idealerweise in seine Flanke oder noch besser hinter ihn bringen. Dazu ist es notwendig, dass mittels des oben genannten Gestänges die vom Gegner über den Ort der Berührung zu uns kommende Kraft unmittelbar unsere Wendung oder unseren Schritt in seine Flanke bewirkt.
 

Mit ChiSao wollen wir den Gegner aber auch mühelos verdrängen können

Das Gestänge muss nämlich auch in die andere Richtung wirksam werden können: Bei Fühlungsaufnahme können wir direkt vom Ort der Berührung eine Kraft durch seine Gelenke zu seinem Massezentrum aussenden, die sein Gleichgewicht so stört, dass er unseren Gegenangriff hinnehmen muss.
 

ChiSao hat mehr Bedeutung für die Selbstverteidigung als für den Wettkampf

Oft hört man heute die Meinung, chinesische Stile seien weniger für den Kampf geeignet, weil sie kaum an MMA-Turnieren teilnehmen und dann auch selten erfolgreich. Wenn man unter „Kampf“ Wettkampf versteht, dann trifft das zu. Aber die chinesischen Stile, die (wie WingTsun, Gottesanbeterin, Weiße Augenbraue, Hsing-I) hauptsächlich mit taktil-kinästhetischen Methoden wie Fühlenden und Klebenden Händen arbeiten, sind auf einen anderen Kampf ausgelegt: auf die reine Selbstverteidigung. Obwohl mein Kieler WingTsun-Team in den 1970er Jahren sich sogar gegen eine Landes-Boxauswahl im Schwergewicht mit Handschuhen durchsetzen konnte, war das einverständliche Kämpfen nie mein Ziel. Forderte mich jemand zum Kampf heraus, schlug ich ihm stattdessen lieber vor:

Lauer mir doch lieber irgendwo in einer dunklen Ecke auf und überfall mich!“ Bei einem überraschenden, plötzlichen Angriff habe ich nur eine Chance, wenn ich ohne Überlegen blitzschnell reagiere.

Die schnellste Reaktion erfolgt auf Berührungsreize, und ChiSao beruht auf Berührungsreizen und operantes Konditionieren.
 

Die Aktion ist beim ChiSao nicht grundsätzlich schneller als die Reaktion!

Dazu kommt, dass ich mit dem Nobelpreisträger der Physik Niels Bohr der Meinung bin, dass die Aktion nicht immer schneller als die Reaktion ist, sondern oft das Gegenteil der Fall ist!

Deshalb bin ich auch bemüht, wenn möglich meine Angriffe als Reaktionen auf externe Auslöser zu realisieren.
 

Der ChiSao-„Reflex“ ist schneller als der Stress-Hormoncocktail

Ein weiterer bedeutender Vorteil besteht darin, dass der Stress-Hormoncocktail, der beim Bedrohten Bewegungslähmung auslösen kann, nicht schneller ist als der reflexartige, oft dem Angriff noch zuvorkommende Rettungsschlag. Eine zeitaufwendige Entscheidung, mit welcher speziellen Technik man sich verteidigen will, wird dann nämlich nicht erforderlich, sondern durch die mittels Fühltrainings konditionierten Reflexe ersetzt:

Der Reflex schießt den zuvorkommenden Konterschlag heraus, bevor der Herzschlag die lähmenden Stresshormone zu unserem Gehirn gepumpt hat:

Der Reflex ist schneller als die Angst! Mit Berührungs-Reflextraining muss man nur 6 essenzielle „Reflexe einpflanzen, um gegen 95 % aller möglichen Angriffe aus der unmittelbaren Nähe gewappnet zu sein!

Dennoch hat das Berührungs- Reflextraining Grenzen:

1. Um die höchsten Weihen der Kampfkunst zu erlangen, muss man sich am Ende auch von Reflexen und Automatismen befreien und in allem vollbewusst agieren. Bis dahin lernen wir zwar bewusst, reagieren aber im Echtkampf noch auf Berührungsreize, meist ohne hinterher zu wissen, was wir gemacht haben. Horst Tiwald meinte zum Thema Kampfkunst und Reflexe:

In der meisterlichen Kampfkunst soll die kämpferische Bewegung nicht in Form eines Kurzschlusses reflexartig ablaufen!
Dies mag beim mittelmäßigen Kämpfer vorkommen, der auf seine eingeschliffenen Reiz-Reaktionsmechanismen und seinen Kraftüberschuss vertraut.

2. Obwohl nach meiner Erfahrung das „Berührungs-Reflextraining“ des ChiSao die beste Vorbereitung auf Überfälle ist, darf das Sparring mit Schlagkrafttraining und die Verteidigung am Boden mit schnellem Aufstehen nicht vernachlässigt werden; denn man kann auch in das, was ich „Ritualkampf“ nenne, hineingezogen werden oder man sieht sich von mehreren Gegnern umgeben.

Hier werden dann auch wieder die Augen wichtig und die Ausdauer und das Einsteckvermögen.

Endes des Auszugs aus GM Kernspechts kommendem Buch.