Weitere Regeln für stressfreies taktiles Reaktionstraining
Etwa gleiche Größe
Suchen wir uns zunächst einen ChiSao-Partner, der nicht viel größer oder kleiner ist als wir selbst. Sind wir nämlich so klein wie der verstorbene Großmeister Yip Man und unser Partner wäre Bruce Lee, der viel größer war, dann hätten wir kaum Gelegenheit, unseren BongSao zu üben. Stattdessen müssten wir in den meisten Fällen aufsteigenden Innenfauststoß einsetzen. Wenn es gar nicht mehr um „Techniken“ geht, sondern um die Anwendung von Prinzipien, ist es egal, wie groß der Partner ist.
Betreiben wir Partnertausch
Je öfter wir die ChiSao-Partner während der Trainingseinheit wechseln, desto besser. Desto mehr Informationen speichert unser Körper- und Bewegungsgedächtnis.
Manche Schüler machen immer nur mit demselben Partner ChiSao. Sie kommen nur zum Lehrgang, wenn der andere wie ein Ehepartner mitgeht. Und wenn dieser einmal beim Unterricht austreten muss und jemand fordert den Verbliebenen zum ChiSao auf, dann erteilt er Körbe und sagt: „Mein Partner ist gerade auf dem Klo, aber er kommt gleich wieder.“ Es ist zu hoffen, dass sich dieses Verhalten nach und nach ändern wird, wenn diese ChiSao-Regeln sich durchgesetzt haben und man sich darauf verlassen kann, dass jeder weiß, dass ChiSao kein Kampf, sondern eine Übung ist, von der beide profitieren sollen.
Der beste Übungspartner für einen Starken ist ein Schwacher – und umgekehrt
Der ideale Trainingspartner für einen starken Mann ist ein Kind oder ein schwaches Mädchen. Was unser ChiSao anbelangt, da müssen wir wieder werden wie die Kinder – so weich und geschmeidig. Einem Kind oder dem sog. schwachen Geschlecht gegenüber braucht der starke Mann keine Kraft. Er kann sich ohne Gefahr auf das viel niedrigere Kraftniveau seiner Partnerin begeben. In diesem Falle kann man gut erkennen, dass wahre Weichheit, Sanftheit durch das beruhigende Gefühl der Stärke kommt. Man kann es sich ja leisten, sanft zu sein. Unsere schwache Frau dagegen ist „von Natur aus“ schwach. Sie muss sich nicht verstellen. Sie wird das bisschen Kraft, das sie vielleicht gegen jemand, der nur etwas kräftiger, aber nicht so haushoch kräftiger ist, in Form von Widerstand einsetzen würde, gar nicht erst in Erwägung ziehen. Auf diese Weise profitieren beide von dieser auf den ersten Blick unvernünftigen Paarung. Die Versportung der anderen Kampfkünste führt aufgrund der Wettkämpfe zu Gewichtsklassen, die das Aneignen der Weichheit nahezu unmöglich machen und Krafttraining fördern. Ich selbst habe viel vom Üben mit und auch vom Unterrichten von Frauen gelernt. Kano, der Begründer des Judo, das ursprünglich auch zu den „weichen Stilen“ zählte, sah das ähnlich, wenn er sagte: „Wenn man Judo wirklich verstehen will, muss man Frauen beim Training beobachten.“ (If you really want to understand Judo, watch women train.)
Dennoch kann einem Mann sein Ego dabei so in die Quere kommen wie vor einigen Jahren in einem südlichen Land, wo ein hochgraduierter Lehrer sich dadurch, dass ich ihm zumutete, mit einem Mädchen Fühlübungen zu machen, erniedrigt fühlte und dies und ihre Überlegenheit sogar als Grund für seinen Austritt aus der EWTO angab.
Absprache tut not
Vor Beginn des Trainings sollte man mit dem Partner genau absprechen, was jeder einzelne mit diesem Training erreichen will.
Sagt der Partner, er wolle herausfinden, ob er schneller oder wer der Bessere ist, dann ist das eine kontraproduktive Zielsetzung; denn ChiSao (ReakTsun) ist kein freier Kampf. Es ist eine Übung zu einem Zweck. Sagt er, er wolle seinen Tastsinn verbessern, nachgeben und auf den leichtesten Druck zu reagieren üben oder sein Timing perfektionieren, dann ist er der richtige Partner. Als Lehrer sollte man dem Schüler auch mitteilen, was man vorhat und was das Übungsziel ist: „Dein BongSao braucht etwas Übung. Lass‘ mich mal machen. Bleib‘ passiv. Bleib‘ dran. Leiste keinen Widerstand, aber sei nie dort, wo ich hinsteure.“
Bei Stress neuen Unterrichtsabschnittspartner
Selbst wenn zwei die besten Vorsätze haben, partnerschaftlich miteinander zu üben, macht ganz plötzlich ein Dritter und Vierter seine Rechte geltend: unser Ego und das des anderen.
Wenn wir unser Ego gar nicht mehr bezähmen können, dann sollten wir herzlich mit dem anderen darüber lachen, denn das ist nur „männ-sch-lich“. Aber da es am Ziel des ChiSao vorbeiführt, tauscht man besser in gemeinschaftlichem Einvernehmen und ohne Schuldzuweisung die Partner, denn zu viel Ego ist lernverhindernd im ChiSao.
Aggressivität, Kraft und Schnelligkeit haben keinen Platz im Sensitivitätstraining
Es ist niemals ein Vergnügen, vom anderen getroffen zu werden. Manche fühlen sich frustriert oder gar erniedrigt. Getroffen zu werden aufgrund der WingTsun-Prinzipien ist aber etwas ganz anderes. Dann hat man sich praktisch selbst getroffen, so als ob man auf eine Harke tritt und der Stiel schlägt uns. Wir wissen, dass die Harke keinen Willen hat, keine Absicht. Es war nicht das Ego der Harke, das uns verletzen wollte, deshalb ist das Ego des Getroffenen auch nicht berührt.
Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, EWTO-Verlag 2011.
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht