Prinzipien und Paradigma
Um das auf dem August-Editorial aufbauende Oktober-Editorial nicht zusammenhanglos erscheinen zu lassen, zuvor noch einmal der August-Text:
Wir müssen prinzipienorientiert denken und kämpfen
Schon im mittleren Schülerprogramm geht es um Coopetition (ein Mittelding zwischen Competition – also Wettbewerb – und Kooperation – also Zusammenarbeit). Hier suchen wir uns aus einer Aktion des Kontrahenten die Bewegungsanteile und Kräfte heraus, die uns nützlich sind, so dass wir sie verstärken, umfunktionieren und einbauen, und vernachlässigen diejenigen, die uns nicht helfen würden.
Dabei versuchen wir möglichst minimalistisch tätig zu werden, ohne allzu sehr in die Ökologie des Gesamtsystems (wir, er und die Umwelt) einzugreifen. Was andere „Störungen“ nennen würden, benutzen und begrüßen wir im inneren WT als Vorlagen und Energielieferungen. Diese Art zu denken ist taoistisch und beruht auf Beobachtung der Natur. So versucht man jetzt in dem relativ neuen Forschungszweig Bionik die Technologie der Natur für uns übertragbar und nutzbar zu machen.
Wie in der biologischen Kybernetik könnte man unsere effiziente WT-Strategie mit Begriffen wie Symbiose, Energieketten, Recycling, Mehrfachnutzung umschreiben.
Frederic Vester, der Vater des „Vernetzten Denkens“, auf dessen Ideen ich mich dabei berufe, sagt: „Überlebensfähige Systeme müssen funktions- und nicht produktorientiert arbeiten. Produkte kommen und gehen, Funktionen aber bleiben.“
Unser inneres WT soll nicht nur ein überlebensfähiges System sein, es soll auch unser Überleben im Kampf mit einem anderen bewirken. Was Vester „funktionsorientiert“ nennt, nenne ich im WT „prinzipienorientiert“, und was er unter „produktorientiert“ versteht, heißt bei mir im WT „technikenorientiert“.
Wer produktorientiert denkt, will unbedingt Autos bauen, auch wenn diese (leider) längst überholt wären wie Dinosaurier.
Wer technikenorientiert denkt, der will unbedingt seinen vertikalen WT-Standard-Fauststoß anbringen, auch wenn er das Ziel nur mit einem Haken erreichen kann.
Wer funktionsorientiert denkt, will einfach nur ein Fortbewegungsmittel bauen, denn so etwas werden die Menschen immer brauchen.
Wer prinzipienorientiert denkt, will einfach nur den Gegner kampfunfähig machen. Das jeweilige Mittel dafür findet oder erfindet er sich spontan.
Wenn wir auf einem anderen Stern mit einem Lebewesen kämpfen müssten, dessen Körper und dessen Angriffsgliedmaßen ganz anders als bei Menschen gestaltet sind, würden uns unsere fixen Techniken, die gegen Angriffe von Menschen wie wir selbst designt wurden, nicht helfen. Hier würde eine Anwendung von Techniken keine Lösung bringen.
Ein neues Paradigma für unsere Selbstverteidigung!
Was aber immer greifen würde, wären unsere Kampfprinzipien, gemäß derer wir uns – egal wie – den vorhandenen Gegebenheiten und Kräften anpassen, die waltenden Kräfte des Angreifers – egal wie – nutzen, seinem starken Angriff nicht mit unserem schwachen Widerstand begegnen, sondern uns als Ziel entfernen usw. Mit diesen biokybernetischen Grundregeln können wir auch unter unbekannten Bedingungen überleben bzw. siegreich bleiben.
Und nicht nur, dass wir auf uns einwirkende Kräfte des Gegners im inneren WT nicht als Störung ansehen, sondern als Chance mit Entwicklungspotential. Wir bitten den anderen sogar darum, uns zu „stören“. Um ihn zu besiegen, brauchen wir Kräfte. Wollen wir dabei größtenteils unsere eigene Energie sparen, müssen wir die des Angreifers benutzen, der ja zu viel davon zu haben scheint. Nicht nur, dass wir vorhandene Kräfte zu unserem Vorteil weiterführen, verstärken und gelegentlich (!) manipulierend umleiten, wir ermuntern ihn durch fallenstellende Provokation sogar zum Widerstand, den wir dann gegen ihn ausnutzen. Dies geschieht schon im „Agent provocateur“-Programm der Mittelstufe.
Die Welt der Selbstverteidigung ist nicht mehr dieselbe wie vor 30 Jahren. „Alte Hasen“ der Budo-Kunst finden sich nicht mehr zurecht. Was sie früher schützte, ist jetzt der Grund für ihre Niederlage. Was vor 30 Jahren richtig war, ist es jetzt oft nicht mehr! Die Gefahrenlage hat sich bedrohlich verändert. Der Ritualkampf hat sich unwiderruflich um die 5. Phase – den Einsatz von lebensgefährlichen Tritten zum Kopf des schon Gefallenen – erweitert; Stichwaffen kommen immer öfter ins Spiel und mehrere gehen auf Einzelne los. Die Brutalität hat eine neue Dimension erreicht. Wir brauchen ein neues Paradigma für unsere Selbstverteidigung!
Der Ernst der Lage wird von den meisten traditionellen Meistern noch nicht gesehen. Sie halten weiterhin an Denkschablonen und damit „Techniken“ fest, die ihre Schüler heutzutage in gefährliche Situationen bringen. Manche verändern angesichts der alarmierenden Zeitungsberichte die Techniken ihres Stiles minimal. Aber das ist nur oberflächliches Flickwerk, Reparaturdienstverhalten und Herumbasteln an Symptomen und Details.
Das Unterrichtssystem der traditionellen Kampfkunst-Stile gehört von Anfang an – also von den Prinzipien her – neu überdacht, wenn deren Lehrer ihre Aufgabe und ihre Verpflichtung gegenüber ihren Schülern ernst nehmen. Und genau dieses haben wir in den letzten zwölf Jahren geleistet. Wir werden zukunftsorientiert und vernetzt denkend unsere Endprodukte – also die fixen WT-Techniken – immer wieder kritisch in Frage stellen, weil wir die Funktion des WT – also seine lebenserhaltenden Prinzipien – erhalten wollen!
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht
(Auszug aus dem „Kampflogik“-Band Theorie, der als nächster Band der Reihe 2012 erscheinen wird)