Editorial

Noch mehr zur ChiSao- bzw. ReakTsun-Etikette

Zum Jahresanfang werden immer wieder die guten Vorsätze fürs neue Jahr gefasst. Da könnte man sich doch auch vornehmen, dass man sich die Regeln für ein stressfreies ChiSao- bzw. Reaktionstraining wieder einmal bewusst macht und außerdem beim Training versucht, sie verstärkt umzusetzen und so noch mehr zu verinnerlichen. Hier deshalb eine weitere Passage aus meinem Buch „Kampflogik 3!“

Sperren der Bewegung des anderen ist lernverhindernd

Jedenfalls für den, der im Sperren das Heil sucht.
Alles, was der andere macht, soll begrüßt und nicht verhindert werden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich 1977 von meinem SiFu in seiner Schule in Hongkong ChiSao übte. Ich musste wohl den Anfängerfehler begangen haben, die Arme meines Lehrers sperren zu wollen, d.h. ihn an seiner Bewegung zu hindern. Heute kritisiere ich meine Schüler auch, wenn sie nur mit Widerstand etwas verhindern wollen, statt sich auf den Impuls einzulassen und ihn weich auszunutzen.
Jedenfalls fragte mich SiFu mit Recht, was das denn nun sein soll. Stolz auf etwas, auf das man beim ChiSao nun wirklich nicht stolz sein kann, antwortete ich trotzig: „Ich blocke dich.“ Sekundenbruchteile später nahm ich Reißaus, weil eine zu Fleisch gewordene Wut mit einer nicht enden wollenden Salve von Kettenfauststößen und Verfolgungsschritten quer durch den Raum auf mich los ging und wutschäumend schrie: „Niemand kann mich blocken!“ SiMo wurde Zeugin, wie ich die Naturerfahrung, dass niemand so schnell rückwärts laufen könne wie vorwärts, außer Kraft setzte.

Auf nichts bestehen und nichts widerstehen

Wir lassen alles geschehen, was der andere initiiert! Aber wir sind nicht da, wo er hinschlägt: Das Ziel ist weg!

Setzen wir uns nicht selbst unter Druck!

Ich meine das nicht nur psychologisch, in dem Sinne, dass wir Erfolg von uns verlangen und dadurch in Stress geraten. Ich meine es auch in dem Sinne, dass die widerstehende Kraft, die wir fühlen, oft unsere eigene ist. Oft ist es auch unser Körper, der unseren Armen im Wege ist, die der Partner auf uns zu drückt.

Katzenartige Weichheit nicht mit Schlaffheit verwechseln!

Man missverstehe mich bitte nicht: Ich spreche von „wenig“ Vorwärtsdruck, auch von kaum wahrnehmbaren, aber nicht von „gar keinem“. Ich möchte auch nicht, dass unsere Schüler völlig strukturlos sind, so wie man es bei gewissen neuen Stilschöpfungen auf WingTsun- oder TaiChi-Basis erlebt, die irgendetwas falsch verstanden haben und die Weichheit von „toten Fischen“ oder zu weich gekochten Spaghetti kultivieren. Immer Yin ist genauso falsch wie immer Yang!

Abwehr nicht schneller als der Angriff

Man soll nicht schneller abwehren, als der andere angreift. Nur dadurch ist gewährleistet, dass sich keine Fehler einschleichen, die durch Geschwindigkeit verborgen bleiben. Außerdem macht es keinen Sinn, wenn jemand beim Langsam-miteinander-Spielen seine eigene Geschwindigkeit so erhöht, dass sich ein Schnelligkeitsunterschied ergibt, der niemals in einem richtigen Kampf entstehen könnte. Ich spreche hier vom Trefferverhindern, nicht vom Konter!

Abwehr nicht kräftiger als der Angriff

Beide Partner sollen nicht nur mit derselben Geschwindigkeit, sondern auch mit demselben Kraftaufwand arbeiten.

Waffengleichheit

Wer mit untergraduierten Partnern ChiSao übt, sollte sich fairerweise auf solche „Methoden“ beschränken, die dem anderen auch zur Verfügung stehen.
Das gilt besonders für die traditionelle Zäsur von BiuDjie-Techniken und dem Grundrepertoire des WT. Was die meisten nicht wissen oder wahrhaben wollen: Es gibt streng genommen zwei Arten des WingTsun. Erstens das relativ einfache und lineare WingTsun der SiuNimTau- und ChamKiu-Form und zweitens das kurvige WingTsun der dritten, der BiuDjie-Form, die von den WT-Messertechniken stammt. Grundsätzlich beginnt man im ChiSao mit den relativ geradlinigen festgelegten „Techniken“ der ersten beiden Formen. Das Geradlinige ist am schwersten zu erlernen, denn es ist eher wider die Natur, welche die Kurve liebt. Unter Adrenalineinfluss fallen geradlinige Techniken selbst Fortgeschrittensten schwer, deshalb beginnt man im ChiSao gerade mit diesen. Nachdem der Schüler, der schon den Höheren Grad oder Assistenz-Lehrergrad erhalten hat, die 3. Form gelernt hat, beginnt er ein völlig anderes, nahezu entgegengesetztes Konzept zu erlernen, das so wenig verstanden wurde, dass es dafür kaum volkstümliche Mottos (Faustregeln) gibt. Mit diesen kurvigen, säbelhiebartigen Bewegungen kommen nichteingeweihte Untergraduierte überhaupt nicht zurecht, weshalb es unfair wäre, sie damit zu früh zu konfrontieren.

Zunächst ohne Schrittarbeit

Es trifft zwar zu, dass man mit Schrittarbeit vielem aus dem Wege gehen kann, aber man kann damit auch der Notwendigkeit des Erlernens des Tastsinnes aus dem Wege gehen. Je näher wir am Gegner dran sind, desto größere Fähigkeiten im Nachgeben werden von uns gefordert und dadurch gefördert (sich aushöhlen und zurücklehnen). Der Schritt zur Seite oder gar nach hinten, um dem Druck zu entgehen, ist im realen Kampf eine gute Lösung, um sich dem Angriff zu entziehen, aber im Training entzieht der Schüler sich durch den Seitensprung auch seinem nötigen Lernprozess. Nicht ohne Grund heißt es im WingTsun: „Geh nicht (unnötig) zurück.“ oder „Weiche nur aus, um sofort danach umso wirkungsvoller selbst anzugreifen.“

Zwei Arten von Druck

1. Der Haftdruck (Clinging)
Er soll so leicht sein, dass eine Fliege, die sich zwischen unserem und dem Arm des anderen befindet, nicht zerquetscht wird. Unsere Hand soll nur „da“ sein.
Die klassische Psycho-Physik, die den Zusammenhang zwischen Reizintensität und Reizwahrnehmung untersucht, lehrt, dass bei Sinneswahrnehmungen der Zusammenhang zwischen Reiz und Empfindung selten linear ist („Weber-Fechner-Gesetz“). Mehr Druck führt zu weniger Fühlen! Mein Schüler Tilmann Feistel machte mich auf den sagenhaften antiken Olympiasieger Milon von Kroton aufmerksam (nachzulesen bei Pausanias VI/14,6): „… Er hielt einen Granatapfel so, dass er ihn weder einem anderen überließ, der seine ganze Kraft anwandte, noch selbst durch Druck beschädigte.“

2. Der Klebedruck (Sticking)
Er ist von der Art der Sägebewegung mit Druck nach vorn und beruht auf Hautspannung.

Der wichtigste klassische Angriff im ChiSao

Dies ist der Handflächenstoß mit tief eindringendem Angriffsschritt in den Stand des anderen – und die entsprechende Antwort darauf. In Europa scheint das selbstverständlich zu sein, weil es im von mir 1976 in Europa großflächig eingeführten LT-WingTsun ein wichtiger Bestandteil ist. In Asien und Amerika, wo das LT-WingTsun kaum verbreitet und die EWTO nicht tätig ist, stellt dies oft eine unbekannte Übung dar!
Der Innen-PakSao mit Fauststoß taugt dagegen weniger als Angriff, sondern unter bestimmten Bedingungen als Konterangriff oder zweiten Gegenangriff. Kurioserweise beginnen aber die meisten Partnerformen mit dem fragwürdigen Angriff „PakSao/Fauststoß“.
Viele exotisch anmutende Kombinationen erfordern nachgerade einen Partner, der uns eine Vorlage in Form eines Innen-PakSao/Fauststoß liefert.
„Fragwürdig“ nannte ich den Innen-Pak als „Angriff“ (!), weil ich ihm außerhalb des inzestuösen WingTsun (zwischen WingTsunlern) wenig praktische Bedeutung zumesse. Und – weil er für den Ausführenden viele unnötige Gefahren birgt, so dass es im Chinesischen sogar das Motto gibt: „Vermeide inneren PakSao.“

Kreativität gefragt, aber nur bei sehr Fortgeschrittenen

Fortgeschrittene (Höhere Grade) sollen ihre Bewegungen nicht mehr ausschließlich 1:1 von den Formen übernehmen. So warnt mein SiFu in seinem Buch „116 Wooden Dummy Techniques“ unter der Überschrift „Versteht bitte, dass wir die Techniken der Sequenz niemals in genau der gleichen Weise anwenden.“ Das gilt nicht nur für die Reihenfolge der Bewegungen, sondern auch für die genaue Art der Ausführung, wie er später hinzufügt.
Fortschritt gibt es nur dort, wo Kreativität zugelassen, ja erwünscht ist. Das Zulassungskriterium muss dabei immer sein, ob die ge-fundene (selten er-fundene) Bewegung in Einklang mit den ewigen WingTsun-Konzepten entstand.

Soweit der Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, erschienen im EWTO-Verlag 2011, für dieses Mal.

Euer SiFu/SiGungKeith R. Kernspecht