Editorial

E-Mail an Yip Man

WingTsun-Großmeister Keith R. Kernspecht schreibt seinem berühmten „Vorfahren“ ...

Lieber ....,

und jetzt komme ich schon ins Stocken, denn was bist Du eigentlich für mich? Wie rede ich Dich an? „Si-Jo“? Oder doch „Si-Gung“? Welche Generation bin ich überhaupt? Ohne das zu wissen, kann ich eigentlich gar nicht richtig mit Dir korrespondieren.
Mein Si-Fu, den Du als den „Kleinen Ting“ kanntest, machte es sich leicht, er vermied die Klippen des Protokolls und nannte Dich einfach „Man-Kung“.
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Er war ursprünglich der Schüler von Deinem ersten Schüler in Hongkong. Deshalb müsste ich eigentlich „Si-Jo“ zu Dir sagen. In den siebziger Jahren hatte mir Si-Fu mal erklärt, dass er eigentlich nicht der offizielle To-Dai seines ersten Lehrers sei, weil er an der entsprechenden Zeremonie nicht teilgenommen habe, in der ein Lehrer seine To-Dais akzeptiert.

Aber viel bedeutsamer ist die Information, die mir einer Deiner ersten Schüler überhaupt, Wang Kiu, in Hongkong vor Videokameras gab. Er sagte, Du habest ihm persönlich im Gespräch gesagt, dass Du den „Kleinen Leung Ting“ als Schüler per Zeremonie als Deinen „Todai“ angenommen hast! Du hast ihm sogar verraten, wie viele Hongkong-Dollar in dem roten Umschlag waren, den Dir der „Kleine Ting“ damals feierlich überreichte. Der von mir – wegen seiner Bildung, Menschlichkeit und Ethik – hochgeschätzte Meister Wang Kiu erinnerte sich noch gut daran, wie er Dich ungläubig und nachgerade empört fragte, ob es denn nicht mehr gelte, dass man nach der Tradition nur einen einzigen Si-Fu haben kann. Du hast geantwortet, das sei jetzt so und basta.

In jedem Falle hast Du dem „Kleinen Ting“ mehr gezeigt als dessen (ersten?) Si-Fu oder sagen wir besser Lehrer. Böse Zungen flüsterten mir ins Ohr, dass es Dir vor allem darum ging, Deinem ersten Hongkonger Schüler eins auszuwischen. Vielleicht, weil er allzu kräftig dagegen protestierte, dass Du ihm, wie es heißt, kraft Deiner Autorität als Obervater eigene mühsam hochgezogene Schüler „gestohlen“ und zu Deinen gemacht hast. Du wiederum sollst Dich darüber geärgert haben, dass Dein erster Schüler jedem, der es hören wollte, erzählte, dass man von Dir nichts lernen könne, weil Du schon so alt seist ... Überhaupt sei Deine Technik nur so weich, weil Du ja nicht mehr jung genug seiest für harte Abwehren ... Ob das nun eine legitime Notwehrmaßnahme gegen das unfaire Abwerben von Schülern war oder ob Du zuerst von solchen Gerüchten hörtest und Dich danach am Urheber der üblen Nachrede rächen wolltest, da kann ich nur mutmaßen. Aber für mich ist dieses so was wie der Sündenfall in der Bibel, mit dem das Böse in die Welt des Wing Tsun kam. Bei allem Großartigen, was Du geleistet hast und allem Dank, den ich Dir schulde: denn mein Leben IST seit 1970 WingTsun, würde ich mir wünschen, Du hättest Dich in diesem Falle der Tradition und Ethik verbundener gefühlt und uns ein besseres Beispiel gegeben!

Dabei sollte ich eigentlich darüber jubilieren, dass Du meinem Si-Fu soviel mehr zeigtest als dessen Lehrer und viel mehr als Deinen anderen direkten Schülern: nämlich das Konzept! Von solchen Prestigestücken wie Langstock und Doppelmessern wollen wir hier gar nicht reden. Aber offenbar hatten die meisten nicht mal die Holzpuppentechniken komplett von Dir lernen dürfen. Du sollst ihnen sogar anfangs verschwiegen haben, dass es überhaupt eine Puppe aus Holz als Übungspartner gab. Erst als Deine Schüler Dir nachspionierten, konnten sie aus ihrem heimlichen Ausguck in der gegenüberliegenden Wohnung erkennen, dass Du bei Dir zu Hause eine veritable Puppe verbargst, an der Du nur Deinen damaligen Lieblingsschüler unterrichtetest. Die anderen hatten bis dahin geglaubt, dass die „Holzpuppen“-Form nur so heißt und wie Cham-Kiu und die anderen Formen in die Luft gegen einen imaginären Gegner geübt wird. Während es wahr ist, dass Du die Holzpuppe im „Closet“ verstecktest, ist es nur eine witzige Behauptung, dass der Name „Closed door student“ daher rührt.

Es würde mich schon interessieren, welche schlimmen Erfahrungen Du schon damals mit Deinen wenigen Schülern gemacht hast, dass Du ihnen nicht trautest. Offenbar hast Du den Eindruck gehabt, dass Dein Schüler Dein potentieller Konkurrent wird, so dass es besser sei, ihm nicht zu viel beizubringen. Ich bin allerdings der Meinung, dass man nur das wirklich selbst beherrscht, was man mit seinen Schülern teilt!

Verständlicherweise warst Du nicht sehr glücklich über Deine Schüler, besonders nachdem sie 1969 beim 1. Kung Fu-Vollkontakt-Turnier in Singapur allesamt kläglich versagt hatten. Da Dein Stil in Hongkong aufgrund zahlloser Duelle ohne Regeln unangefochten als der unbesiegbare Kampfstil galt, waren die Erwartungen besonders hoch und die Enttäuschung danach entsprechend tief gewesen. So tief, dass der zweite Schüler Deines 1. Todais in Hongkong und ein gewisser „Kong“, der Schüler eines der ältesten noch lebenden Todais von Dir, sich danach enttäuscht von ihren jeweiligen Si-Fus trennten.
Dir war sofort klar, dass Deine ältesten Schüler die Schuld an diesem beispiellosen Reinfall hatten: Sie waren zu siegessicher gewesen und hatten ihre Schützlinge nicht auf die sportlichen Regeln vorbereitet und auf die Konditionsprobleme, die ein ihnen fremder Kampf mit schweren Bambusschutzhelmen und -Westen darstellt. Ist es wahr, dass Du Dich zu diesem Zeitpunkt aus Altersgründen eigentlich schon vom Unterricht zurückgezogen hattest? Jedenfalls kehrtest Du wildentschlossen aus Deinem selbstgewählten Ruhestand zurück an die Unterrichtsfront, um mit letzter Kraft, vier Jahre, bevor Du dann diese Erde verließt, vergeblich zu versuchen das Trainingsniveau noch einmal zu heben.
Ich kann das sehr wohl nachempfinden, denn auch mir gab vor wenigen Jahren die Wut über den damals desolaten Zustand im WT den Mut und den nötigen Biss, eine solche selbstauferlegte Herkulestat zu wagen. Aber Deine Energie reichte nicht zum Ausmisten Deines Augiasstalles, sie versiegte nach wenigen Monaten. So schlug für meinen Si-Fu, Leung Ting, dann die Schicksalsstunde, denn Du übertrugst ausgerechnet ihm die vielgeneidete Position des Cheftrainers der Ving Tsun Athletic Association, die bislang Du alleine ausgefüllt hattest. Dadurch wurde der „Kleine Ting“ so was wie Dein Nachfolger. Damit wir uns verstehen: nicht der Nachfolger des gesamten Clanes, aber zumindest doch Dein Nachfolger „als Cheftrainer“ des damaligen Ving Tsun-Verbandes, wenn man ihn denn so hochtrabend bezeichnen kann, denn so viele Mitglieder hattet Ihr ja wirklich nicht.

Ist es eigentlich schon zu Dir durchgedrungen, welche Bedeutung im Westen in dem kleinen Buchstaben „W“ steckt? Ich wette, Du hast es nicht mal mitbekommen, dass sich die VTAA vor den damals englischen Behörden Hongkongs als „Ving Tsun Athletic Association“ ins Register der Vereine eintragen ließ. Wer die Eintragung vornahm, war des Englischen wohl nicht wirklich mächtig, sonst hätte er statt des im Chinesischen nicht existierenden Lautes „V“ bestimmt das phonetisch einzig richtige „W“ gewählt.

Konntest Du in Deiner konfuzianischen Geisterwelt mitbekommen, dass Dein „Kleiner Ting“ derjenige Deiner Schüler ist, dessen „WingTsun“-Stil (man beachte das „W“) mit über 60 Ländern die größte Verbreitung in der Welt erreicht hat? Ob das wohl Dein Gefallen findet? Denn nach einem alten Spruch ist das Verbreiten unserer „Geheimkunst“ doch ein „Verstoß gegen die Interessen unserer Vorväter“. Und Du wirst auch nicht davon begeistert sein, dass diese epidemieartige Verbreitung des Wing Tsun nahezu hauptsächlich vom westlichen Europa ausging, woran der Unterzeichnende nicht völlig unschuldig ist. Denn wolltest Du nicht immer, dass Deine Kunst den kleinen Chinesen eine unsichtbare Waffe in die Hand geben soll, wenn die großen Langnasen aus dem Westen frech werden? Musste Dir nicht sogar Bruce Lee vor seiner Abreise versprechen, keine Nichtchinesen in den USA zu unterrichten? Und Du sollst gar nicht „amused“ gewesen sein, als Du herausbekamst, dass er sein Versprechen auf die unerträglichste Weise brach, kaum dass er die Freiheitsstatue passierte.

Nun hätte ich beinahe vergessen zu fragen, in welchen Gefilden Du Dich nun aufhältst. Als überzeugter Konfuzianist hast Du vom Jenseits bestimmt nicht viel gehalten. Konfuzius selbst soll ja mal erfrischend realistisch gesagt haben: „Opfert den Göttern, aber haltet Euch fern“ oder „Wir verstehen das Leben nicht, wie sollen wir dann das Wesen des Todes begreifen?“ Seine Religiosität war eher ethisch bzw. pragmatisch-moralisch ausgeprägt. Pech für ihn, dass er es nicht verhindern konnte, dass der letzte chinesische Kaiser ihn in völligem Unverständnis zum Gott erklärte.

So was ähnliches könnte auch Dir im Andenken der Nachwelt widerfahren. Ob Du, ein Ausbund an Bescheidenheit, wie Dich mein Si-Fu gerne charakterisiert, darüber freuen würdest, ist eher unwahrscheinlich. So soll auch mein gelegentlich etwas burschikos-familiärer Ton und bei allem schuldigen Respekt gutgemeintes kritisches Hinterfragen helfen, Dir dieses Los zu ersparen.

In tiefer Verbeugung vor Deiner Leistung als Bewahrer der genialen Lehre von Chan Wah Sun und Leung Bik

Dein deutscher
„Weißer Teufel“ Keith

PS: Darf ich Dir mal wieder schreiben, wenn ich was auf dem Herzen habe?