Der Gang durch die Gasse
Die WingTsun-Schüler lernen durch das Training, sich zu verteidigen und bei der BlitzDefence werden die strafrechtlichen und körpersprachlichen Aspekte ergänzt. Ziel ist es, so viel Selbstbewusstsein aufzubauen, dass der Schüler es nicht nötig hat (im doppelten Sinne gemeint), sich zu prügeln. Doch wann muss wirklich zugeschlagen werden und wie weit könnte der Schüler im Ernstfall noch deeskalieren?
Zur Vorbereitung auf den Ernstfall dient die Übung „Gang durch die Gasse“. Bei dieser Übung soll der Schüler an zwei „gefährlichen“ Personen vorbeigehen, ohne die Situation eskalieren zu lassen. Aufgabe für den Durchlaufenden ist es, so lange wie möglich auf Gewalt zu verzichten. Für diese Übung benötigt man einen Flur oder Gang, in dem zwei Personen stehen, die auch „böse“ werden können. Diese beiden Personen sollten schon eine höhere WingTsun-Graduierung als der Durchlaufende haben, so dass ein gewisser Respekt vorhanden ist. Ebenfalls sollten die „Bösen“ Spaß an Rollenspielen haben und sich bei dieser Übung von ihren Erfahrungen und Gefühlen leiten lassen. Zeigt der durch die Gasse Laufende Angst oder ist er hochnäsig, gibt es „Ärger“. Die Übung erfolgt in verschiedenen Stufen, die den Gefahrenstufen von Geoff Thompson und Großmeister Prof. Keith R. Kernspecht aus dem Buch „BlitzDefence“ entliehen sind.
Gefahrenstufe Weiß: Es besteht keine Gefahr. Der Schüler kann locker an den beiden Personen vorbeigehen.
Gefahrenstufe Gelb: Die Situation ist unsicher und nicht ganz klar. Dem Schüler kommen in der Gasse zwei Personen entgegen, die er nicht einschätzen kann. Sein Gefühl sagt ihm: „Mit denen ist nicht gut Kirschen essen!“ Vielleicht berühren diese Personen den Schüler leicht mit der Schulter oder sprechen irgendetwas in seine Richtung. Meist hilft hier Ignorieren. Wenn diese beiden Personen Streit suchen, so wollen sie erst einmal Kontakt zu Ihnen aufnehmen, d.h. Blick-, Sprech- oder Körperkontakt. Kommt kein Kontakt zustande, so haben diese oft kein Interesse mehr und suchen sich jemanden anderen. Wichtig ist, dass die beiden nicht das Gefühl bekommen, dass der Schüler Angst vor ihnen hat oder sich für etwas Besseres hält. Ein Abstoppen, eine verspannte Körperhaltung oder übertriebenes Ausweichen weist auf Angst hin. Zu langes Angucken, Sich-Aufplustern oder Anrempeln weist auf Respektlosigkeit hin.
Gefahrenstufe Orange: Die Situation ist bedenklich und wird brenzlig. Die beiden Männer versperren den Weg, haben Kontakt zu dem Schüler aufgenommen und versuchen, ihn zu provozieren. Im Ernstfall würde der Schüler häufig die Bierfahne riechen und immer weiter bedrängt oder sogar festgehalten werden. Zur Deeskalation hilft oft die neutrale Körperhaltung. Der Schüler steht seitlich zum Gegenüber, bleibt ruhig und locker. Die Füße sind parallel, die Knie locker, der Stand ist hüftbreit und die Hüfte im Lot. Der Oberkörper ist gerade, die Arme hängen locker am Körper, die Hände sind offen und die Handflächen zeigen zum Körper. Der Hals und der Kopf sind gerade und der Schüler hat ein entspanntes Gesicht. Es zeigt weder Aggression noch Angst. Der Körpersprachetrainer Holger R. Schlafhorst spricht von einer „entschiedenen Neutralität“, die der Schüler sich verinnerlichen und wie ein Programm abrufen können sollte. Diese Neutralität in Geist und Körper führt meist dazu, dass Aggressoren vom Schüler ablassen und weitergehen.
Gefahrenstufe Rot: Die Situation ist bedrohlich. Die beiden Männer werden immer aggressiver und steigern sich immer mehr hinein. Eine Schnapsflasche der beiden fällt zu Boden, alle Vorwarnzeichen einer Eskalation (= Gewaltprädiktoren) sind wahrzunehmen und das Bauchgefühl schreit förmlich um Hilfe. Jetzt sollte der Schüler schnellstmöglich das Muster der beiden unterbrechen. Einige Sekunden Gewinn können schon dafür ausschlaggebend sein, dass er sich entfernen kann. Hierzu kann er plötzlich mit sich selbst reden, nach dem Bahnhof fragen, einen epileptischen Anfall nachstellen usw. Hier ist der Kreativität keine Grenze gesetzt. Oder der Schüler sollte bewusst eine Grenze ziehen. Hier befinden wir uns dann in den BlitzDefence-Programmen.
Gefahrenstufe Schwarz: Die Situation ist gefährlich. Trotz aller Deeskalationsversuche lassen die beiden nicht vom Schüler ab und wollen ihm „ans Leder“. Jetzt bleiben dem Schüler nicht mehr viele Alternativen: schnell „Feuer“ schreien, sich verprügeln lassen oder angreifen. Hier können WingTsun-Techniken überlebenswichtig sein.
Diese Übung zeigt im geschützten Rahmen die Möglichkeiten und Grenzen der Deeskalation auf. Sie bietet gute Möglichkeiten, sich auszuprobieren und zu erkennen, welche Lösungsmöglichkeit zur eigenen Person passt. Einige können besser durch bewusste Gestik, andere durch Mimik oder durch Worte deeskalieren. Zur theoretischen Unterstützung gibt es zu jedem Stufenbereich Bücher.
Text: Tim Bärsch
Fotos: EWTO
Der Autor Tim Bärsch ist Diplom-Sozialarbeiter und verbindet in seinen Fortbildungen WingTsun mit diversen Deeskalationstechniken. Im Buch „Kommunikative Deeskalation“, das er mit Marian Rohde (Fachkrankenpfleger für Psychiatrie; ebenfalls WingTsunler) geschrieben hat, werden Techniken und Ideen zur Deeskalation an die Hand gegeben.