Automatismen/Reflexe & blinde Aggressivität oder Chan/Taoismus & fließendes Mitverändern?
Als Feedback auf unsere letzten EWTO-Bücher „Kampflogik Praxisband“, „Psycho-Training im WingTsun“ und nun „Essenz des WingTsun – jenseits von Techniken und Anwendungsdenken“ erreichen mich oft Fragen mit- und nachdenkender Leser.
Gibt es eine größere Freude für einen Autor und Lehrer?
Kürzlich hörte ich auch, dass jemand die letzten beiden Bücher gerade deshalb für besonders wertvoll hielt, weil ich z.B. in der „Essenz“ die Ansicht meines leider verstorbenen Mentors, Prof. Dr. Horst Tiwald, auch dann mit abdrucke, wenn sie meiner eigenen widerspricht.
Wo sind – oder waren – Horst Tiwald und ich denn unterschiedlicher Auffassung?
Vereinfacht gesagt, vertrat ich die sog. moderne Position der amerikanischen Experten, die, was den militärischen, polizeilichen und auch zivilen Nahkampf betrifft, auf das Eindressieren von konditionierten Reflexen, auf „operant conditioning“, auf Ausbildung von Automatismen und auch blinde Aggressivität setzten.
Dies wird von der aktuellen Wissenschaft gestützt und hat auch mir imponiert und eingeleuchtet – und macht immer noch viel Sinn. Das war nicht nur angelesenes und nachgeplappertes Buchwissen. Wenn ich mich beobachtete, dann mein(t)e ich, alles dieses bei mir und meinen Top-Schülern feststellen zu können.
Horst Tiwald wollte mich stets eines Besseren belehren: nämlich der Psycho-Trainingsmethode des Chan-Buddhismus, der mit dem Taoismus eine Ehe eingegangen ist und erwiesenermaßen in der Lage ist, Kaltblütigkeit* und richtiges Handeln zu entwickeln.
Chan und Taoismus sind die Geisteshaltungen, die hinter unserem WingTsun stehen. Aber auch in Hongkong gilt der Prophet nichts im eigenen Land, und die intelligenteren WingTsun-Leute dort vertrauen lieber auf amerikanische „reality based martial arts“-Autoren als auf ihr ureigenes Erbe.
So verlassen sich die meisten WingTsun-Leute auf Drills, indem sie bestimmte Bewegungen im Training zu einer Gewohnheit, zu einem Reflex einschleifen. Da sie dieses mittels eines ChiSao-Drills machen, glauben sie, dass das seine Richtigkeit hat und hinterfragen es nicht weiter.
Sie können nun unbewusst und ohne zu denken kämpfen.
Dieser Auffassung war ich auch noch, als ich „Kampflogik 3“, den Praxisband, schrieb.
Allerdings kann ein Tier das auch …
Und kürzlich fragte mich ein „TG“ am 10.6. per Twitter,
ob es nicht das größte menschliche Potential sei, unsere animalischen Instinkte anzuzapfen:
„@GM_Kernpecht, isn’t the greatest human potential the ability to tap into our animal instincts?“
Ich antwortete mit vier Tweets:
„Nein, das größte menschliche Potential ist es, unser Denken in der richtigen Weise zu benutzen, so dass es unserem Kämpfen nicht im Wege steht, sondern es fördert. (1)
Es wäre schrecklich, wenn es das größte menschliche Potential wäre, wieder zum Tier zu werden! Glaube den so genannten „Experten“ nicht, die gerade in Mode sind. (2)
Aber irgendwie hast Du trotzdem recht: Denn Leute, die nicht denken können, ohne dabei zu phantasieren, sollten besser das „Denken“ (beim Kämpfen) ganz vermeiden. (3)
Lass sie lieber konditionierte Kampfroboter werden. (4)“
(„No, it is using your mind in the proper way, so that it does not disturb but enhance your fighting. (1)
It would be terrible if the greatest human potential were to become an animal again! Don’t believe the so-called experts who are in fashion. (2)
You are right in a way: For persons who cannot think without phantasizing it is better to avoid thinking altogether (3), let them become conditioned fighting robots.“ (4))
Die alten, die wahren, chinesischen Meister und wohl auch die besten japanischen Schwertkämpfer – die der japanischen Variante des Chan, dem Zen folgten – wollten nicht vom Instinkt und der Gewohnheit gesteuert werden. Sie wollten alles bewusst und mit Achtsamkeit tun und waren mit Horst Tiwald der Meinung, dass es kein schnelleres Handeln geben kann. Denn man spricht nicht umsonst von „Geistesgegenwart“.
Das ist Mitfließen in der Gegenwart, sich mit dem vor Ort verbinden, was wirklich Sache ist, genau hinsehen oder hinhören, hinfühlen mit dem ganzen Körper bis zu den Fußsohlen.
Alles neu erleben und nicht aus Gewohnheiten oder Vor-Urteilen, die aus der Vergangenheit oder Ängsten des Egos stammen, handeln.
Dazu muss man sich zunächst mit sich selbst vereinigen (harmonische Einheit) und sich kennen, dann muss man sich im 2. Lernschritt mit dem Gegner vereinigen und den Gegner kennen.
Dieser Lernprozess kann sehr lange dauern.
Es mag sein, dass man, wenn man das kann, gar nicht mehr kämpfen will oder muss.
Sollte man vorher gezwungen sein, sich zu verteidigen, mag das Anzapfen-Können animalischer Instinkte, der Rückfall auf blinde Kettenfauststoß-Aggressivität unser Leben und das anderer retten.
Insofern ist der Unterrichtsschritt, zuerst lebensrettende Reflexe und Automatismen (wie mein BlitzDefence-Programm mit Triggerwort) auszubilden, weiterhin unumgänglich.
Auch ich bin diesen Weg jahrzehntelang gegangen, wie all die Meister vor mir.
Man sollte dabei aber immer im Hinterkopf behalten, dass diese Abkürzung (ebenso wie das fürs WT (!) eigentlich unnötige Krafttraining) gewissermaßen eine Sackgasse ist.
Eine Sackgasse aber nur für den, der sich höher entwickeln will. Höher im WingTsun und höher als bewusster Mensch.
Das wahre Ziel ist nicht nur jenseits von Kraftanstrengungen und Techniken, sondern auch jenseits von konditionierten Reflexen und animalischer Aggressivität zu finden.
Mit lieben Grüßen
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht
PS: Könnte es sein, dass mich Horst Tiwald am Ende doch noch in meiner Meinung erschüttern konnte?
PPS: Ich benutze hier absichtlich das Wort Kaltblütigkeit* ohne moralische Wertung.