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„Bis hierher und nicht weiter!“

Was steckt hinter dem biologischen Aggressionsmotiv „Territorialverhalten“ und auf welche Weise übt es Einfluss auf uns aus?

Wenn man von Territorialverhalten oder Revierverhalten spricht, kommt man schnell zu der Frage, inwieweit überhaupt die Möglichkeit besteht, als „zivilisierter Mensch“ davon betroffen zu sein – insbesondere wenn man nicht an die Evolution glaubt. Dass aber ausgerechnet das so genannte „Zivilisierte“ am Menschen die häufigste Ursache für Gewalt und Aggression sein könnte, ist ein Schluss, der sich bei genauerer Betrachtung regelrecht aufdrängt.

Die Forschung im Gebiet des Territorialverhaltens bewegt sich größtenteils zwischen der Biologie und der Psychologie.
In der Biologie ist sie in den Bereichen der Ökologie, Evolutionsbiologie und der Verhaltensbiologie zu finden, wobei die Anforderungen an die Forschung Normierbarkeit und Folgerichtigkeit sind.
In der Psychologie kommt mehr Dynamik auf, da kulturabhängig Erziehung, Prägung, Individualität, Irrationalität – kurzum: Menschlichkeit – das Objekt des Studiums ist. Besonders interessant für unsere aktuelle Betrachtung sind die Kommunikationspsychologie und Phänomene der Gruppendynamik.

Tierspezifisch ist die Definition von Territorium oder Revier ein gegen Artgenossen abgegrenzter und verteidigter Lebensraum, wobei zwischen Dauerrevieren und zeitlich begrenzten Revieren, wie zum Beispiel Brutrevieren unterschieden wird.
Die Inhaber von Territorien können Einzeltiere, Paare oder Gruppen von Artgenossen, wie beispielsweise Wolfsrudel, sein.
Außerdem lässt sich vom Territorium das größere so genannte Streifgebiet unterscheiden, in dem sich Tiere nur zeitweise aufhalten und welches nicht verteidigt wird. Streifgebiete mehrerer Tiere können sich im Gegensatz zu Territorien also überschneiden. So wird definiert, dass das Territorium der Teil des Streifgebietes ist, der gegen Artgenossen verteidigt wird.

Der Begriff „Territorialverhalten“ ist weitestgehend selbsterklärend. Er beschreibt all jene Verhaltensweisen bzw. Handlungen, die vollzogen werden, um das Revier und seine Grenzen zu markieren.
Die Abgrenzung des Reviers kann über Duft- oder akustische Markierung erfolgen. Wichtig ist, dass der Inhaber in seinem Revier grundsätzlich kampfbereit ist. Je näher der Inhaber am Zentrum seines Reviers ist, umso geringer wird seine Toleranz Fremdem oder Fremden gegenüber und desto kampfbereiter wird er.
Grundsätzlich respektieren Artgenossen von vornherein das Revier eines anderen zunächst – auch wenn dieser vermeintlich schwächer sein sollte. Dies zeigt sich in der generellen Fluchtbereitschaft von eindringenden Artgenossen.
Der Zweck des Territorialverhaltens lässt sich kurz durch die Sicherung der Nahrungsquellen bzw. Ressourcen und des Brutpflegeerfolges beschreiben, welcher begünstigt ist, durch die Verteilung einer Art auf einen größeren Raum.

Inwiefern lassen sich diese Begriffe nun für den Menschen definieren?

Menschliche Territorien haben eine sehr vielfältige Erscheinungsform. Zunächst einmal hütet jeder Mensch seine Privatsphäre. Dringt jemand ohne Beschwichtigungsverhalten ein, wird dies in der Regel als Aggression bzw. aggressionsauslösend empfunden.
Auch dürfen nur uns nahestehende Menschen die unsichtbare Individualdistanz um uns herum unterschreiten.
Ebenso grenzen menschliche Individuen oder Gruppen Territorien ab, sei es durch Gartenzäune oder Staatsgrenzen.
Eine besondere Bedeutung beim Menschen hat das Besitzverhalten, indem Besitz als Erweiterung des Territoriums anzusehen ist.
Auf die genannten Erscheinungsformen und ihre genaueren Umstände und Motive wird im Weiteren noch eingegangen.

Wenden wir uns vorerst der Frage zu, warum die Verteilung einer Art auf einen größeren Raum von Bedeutung ist.
Wird bei Tieren das Revier durch Überbevölkerung eingeengt, treten körperliche Störungen und Verhaltensänderungen auf, welche sich sogar tödlich auswirken können. Dies wird „sozialer Stress“ genannt.

Am Beispiel von Spitzenhörnchen sollen diese Vorgänge dargestellt werden: Haben Spitzhörnchen in einem Gehege ständig Artgenossen um sich und können diesen nicht ausweichen, sterben sie nach kurzer Zeit an Nierenversagen infolge Bluthochdrucks.
Bei erwachsenen Weibchen ist die Funktion der Milchdrüse und somit die Stillfähigkeit gestört, und die Drüse zum Markieren der Jungen gibt ihre Funktion auf, worauf die nicht markierten Jungen von ihren Artgenossen gefressen werden. Oft kommt es aber auch gar nicht mehr dazu, dass Weibchen die Jungen austragen.
Bei den männlichen Spitzhörnchen verzögert sich die Entwicklung der Hoden. Diese Vorgänge sorgen dafür, dass die Anzahl der Nachkommen soweit herabgesetzt wird, dass jedem überlebenden Tier die erforderliche Reviergröße wieder zur Verfügung steht.

Systematische Anwendung auf den Menschen:

Beginnen wir mit dem Körper des Menschen als bewegliches Zentrum seines Territoriums. Erwähnt wurde bereits die unsichtbare Individualdistanz nach Hall. Sie umgibt jeden Menschen und ist sowohl kulturvariabel als auch von anderen individuellen Parametern – wie der eigenen Körpergröße – abhängig. Für jede Zone gibt es bestimmte und unterschiedliche Normen, Erwartungen und Verhaltensweisen. Beim Übergang von einer Zone zur anderen ändert sich unmittelbar das Verhalten der Person, der die Zone gehört. Auch wird das Eintreten in eine Zone durch ein bestimmtes Verhalten, zum Beispiel Beschwichtigungsverhalten, eingeleitet.

Man unterscheidet in mindestens vier Zonen:

  • Die „intime Zone“, welche oft ungefähr einer Ellbogenlänge vor dem Körper entspricht (0 – 60 cm). In dieser Zone halten sich normalerweise nur Partner, Eltern oder Kinder auf.
  • Bei ca. 60 – 120 cm befinden wir uns in der „personalen Zone“, welche für Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen angemessen ist.
  • Die „sozialkonsultative Zone“ umfasst einen Raum von etwa 120 – 330 cm.
  • Ab 330 cm beginnt die öffentliche Zone.

Nach diesem Modell gehen wir davon aus, dass wir es frontal mit einer Person zu tun haben, was bedeutet, dass Augenkontakt hergestellt ist. Im Selbstexperiment werden wir beispielsweise feststellen können, dass beim Unterschreiten einer Zone der Augenkontakt aufgelöst wird, was Beschwichtigungsverhalten darstellt. So kann man insbesondere als Kampfkünstler feststellen, dass „Grappler“ beim Sparring selten Augenkontakt halten. Personen, die kein Gefühl für die Individualdistanz anderer haben, werden oft als dreist oder aggressiv empfunden, Selbiges gilt für das Herstellen von Körperkontakt.

Bei Berührungen ist die Kulturvariabilität besonders auffällig. Generell gelten am Körper eines Menschen individuell für bestimmte Zonen unterschiedliche Regeln für Körperkontakt. So gibt es beispielsweise von Desmond Morris ausführliche Studien darüber, wo und wie häufig Männer und Frauen von Vater, Mutter, gleich- oder andersgeschlechtlichem Freund berührt werden. Dabei fällt beispielsweise auf, dass Frauen grundsätzlich öfter im Gesicht berührt werden als Männer, während Männer öfter im Bereich der Schultern berührt werden.

Man unterscheidet weiter in primäre und sekundäre Territorien. Als primäres Territorium gilt das eigene Zuhause. Sekundäre Territorien sind beispielsweise ein gemeinsames Büro, ein WG-Wohnzimmer oder der eigene Tisch im Klassenraum. Alles andere ist öffentlich.

Man stelle sich eine Cafeteria vor, in der mehrere Leute an mehreren Tischen sitzen, welche jeweils für sechs Personen Platz bieten. Einige Tische sind nicht besetzt.
Die Studentin Cathy Osmond beschloss in einem Experiment zu testen, ob sich beim Betreten der Cafeteria und Setzen an einen leeren Tisch der personale Raum so weit ausdehnt, dass der gesamte Tisch vorübergehend zum eigenen Territorium wird.
Sie schreibt, wie sie an drei Tagen in ihrer Mittagspause in die Cafeteria ging und sich an einen besetzten Tisch setzte. Sie beschreibt, dass es sie viel Mut und Überwindung kostete, dies zu tun. Folglich wirkte ihre Handlung für sie wie ein Eindringen und ihr unwohles Gefühl steht für akute Fluchtbereitschaft.

C. Osmond schreibt:
„Meine erste Versuchsperson las, als ich mich an ihren Tisch setzte. Überrascht blickte sie auf, verzog das Gesicht und starrte mich an. Dann deutete sie ein Lächeln an und murmelte: „Hallo.“ Dann tat sie so, als lese sie weiter, aber ich bezweifle, dass sie sich konzentrieren konnte. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und klopfte mit einem Finger auf den Tisch, während sie mit der anderen Hand ihr Buch umblätterte. Nach einigen sehr unbehaglichen Minuten erklärte ich ihr, was ich vorhatte und ersuchte sie, mir zu sagen, wie sie sich fühle. Sie schien erleichtert und antwortete: ‚Ich fühlte mich so unbehaglich. Es hat mich so aus der Fassung gebracht, dass mir nichts anderes einfiel, als dich zu ignorieren und weiterzulesen. Dabei kam ich mir ziemlich dumm vor. Warum sollte ich mich davon, dass du am gleichen Tisch sitzt, so nervös machen lassen? …‘
Die zweite Versuchsperson trank eine Cola. Ich setzte mich hin, ohne ein Wort zu sagen. Er begann mit dem Aschenbecher und seinem Strohhalm herumzufummeln. Er vermied es, mit mir Augenkontakt aufzunehmen, bis es sich nicht länger vermeiden ließ. Dann zuckte er mit den Achseln, lachte und sagte: ‚Was machst du da?‘ Ich erklärte ihm mein Vorhaben und fragte ihn, wie er sich fühle. Er antwortete: ‚Ich fühlte mich komisch, ich dachte du seist irgendein Freak. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ob ich sagen sollte: „Hau ab!“, oder ob ich selbst gehen sollte.‘ Ich fragte ihn, warum er nicht ging oder mich aufforderte zu gehen. Er sagte: ‚Ich weiß nicht. Das Ganze schien zu absurd …‘

Selbstexperiment:

Wie fühlen wir uns in öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn sich eine fremde Person neben uns setzt, obwohl noch genug Plätze frei sind? Setzen wir uns freiwillig neben eine fremde Person, wenn genug Plätze frei sind?

Der Mensch ist fast wahnhaft bemüht, aus öffentlichen Räumen Territorien zu machen. Es ist sehr interessant, wie Menschen ihren Anspruch auf Territorien geltend machen. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass man im Büro die Fotos seiner Familie auf den Schreibtisch stellt. Alle Maßnahmen, die eine Individualisierung zur Folge haben, gehören dazu. Je persönlicher etwas ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Platz als unser angesehen wird, insbesondere bei starkem Platzmangel.
Dazu gehört auch, wenn Paare in der Öffentlichkeit zeigen, dass sie zusammengehören, indem sie sich umarmen oder Hand in Hand gehen.

Wir müssen schlussfolgern, dass die Bestimmung des Territoriums nicht nur für Außenstehende schwer ist, sondern auch für diejenigen, die sich gerne als Inhaber fühlen würden. Die reine Ungewissheit und Möglichkeit der Verunsicherung lässt Menschen von sich aus im alltäglichen Leben wesentlich aggressiver, wachsamer und daher kampfbereiter sein.

Wie verhalten sich Menschen in ihrem Revier?

Das erste, was mir als Beispiel dazu einfiel, ist das amerikanische „Stand-Your-Ground“-Law, von Kritikern gerne auch das „Shoot-First“-Gesetz genannt. Man stelle sich einen amerikanischen Südstaatler auf seiner Veranda vor seinem Haus im Kolonialstil mit seiner Schrotflinte vor.

Menschliches Territorialverhalten läuft, wie zwischenmenschliche Kommunikation generell, in erster Linie nonverbal ab. Das heißt, über das Herstellen oder Vermeiden von Blickkontakt, Gestik, wozu auch Berührungen gehören, und Mimik.
Die spezifische Verwendung dieser Mittel zeigt an, in welcher Beziehung Personen zu einander stehen und klären so zum Beispiel Rangordnungen oder die Dominanz einer Person.
Wird eines dieser Mittel als Fehlverhalten interpretiert, liefert dies ein Aggressionsmotiv. In den häufigsten Fällen beginnt dies über Blickkontakt.

Interessant ist hierfür besonders die Intimitätsgleichgewichts-Theorie von Argyle und Dean nachdem Fahrstuhlmodell. Alle Kanäle sind um Ausgleich bemüht, um permanent unmissverständlich den nicht aggressiven Status klar zu machen. Daher wird gerade in Fahrstühlen Augenkontakt strikt vermieden.

 

In diesem Artikel war es mir wichtig zu verdeutlichen, wie sozialer Stress, ausgelöst durch den Mangel an ausreichend Raum, auf den Menschen als Gewalt-Trigger wirkt.
Wir müssen anerkennen, dass die Schwierigkeit der Bestimmung des eigenen Territoriums und unsere so genannte Zivilisation – von der Etablierung von Millionenstädten bis zur Globalisierung – unmittelbar zusammenhängen und ein Grundnahrungsmittel für eskalierende Aggression bilden.

Unter zunehmend eskalierender Aggression ist in diesem Fall vor allem das Mutieren des ursprünglichen Ritualkampfes (um den Artbestand zu sichern und bei dem ein Kampf bis zum Tod meist unnötig ist) zum untypischen Töten eines Individuums der eigenen Art zu verstehen.
Wie anfangs erwähnt, ist die individuelle Identifikation maßgeblich für das Definieren von Territorium. Ebenso verhält es sich mit der persönlichen Definition von Rasse oder Art. So ist die Entmenschlichung oder die Nichtidentifikation mit bestimmten Gruppen, sei es z.B. religiös oder politisch motiviert oft Voraussetzung für die Bereitwilligkeit tödliche Gewalt anzuwenden.

Text: Vanessa Reinsch

Weiterführendes zu diesem Thema bietet die Literatur von GM Kernspecht insbesondere „Der Letzte wird der Erste sein“ und der ergänzende Artikel in diesem Magazin: „Sind wir doch Killer-Affen mit tierischem Territorialverhalten?“