Editorial

Der Gewinner

Noch im Halbschlaf fühlte R. Kopfschmerz und erinnerte sich an eine lange Nacht. Als er aus dem Fenster schaute, regnete es. Auf den Hotellift runter zur Rezeption musste er endlos warten. Die Dame in der Rezeption, die in Personalunion auch für den Frühstücksservice zuständig war, blickte kaum auf, sondern führte ein Dauertelefongespräch mit jemand, der eine Zimmerreservierung machen wollte ...

Nach zwei Minuten Warten wollte er in den Frühstücksraum gehen, aber sie zeigte mit gestreckter Hand in die andere Richtung des Vorraumes. Dort erschien jetzt eine Angestellte des Hotels, die seinen Mantel verlangte, wohl um ihn in einen Garderobenschrank zu hängen. Auf dem Weg zu seinem Tisch ging er am Frühstücksbuffet vorbei, dessen Auswahl an Früchten und Fruchtsäften nicht im Verhältnis stand zu den Zimmerpreisen. Er bestellte einen frischgepressten Orangensaft und ärgerte sich zum 47. Mal in diesem Jahr über den konservierten O-Saft, der ihm wie eine Kostbarkeit kredenzt wurde. Wütend trank er ein großes Glas Cola.

Als er das Hotel verließ, blickte die Rezeptionistin kaum auf, sondern tauschte sich mit einer Kollegin darüber aus, wie sehr ihr dieser Job stank. Er stieg in sein Auto, die Scheiben waren verschmutzt, er fluchte und teilte per Handy seinem Büro mit, dass er Verspätung hat. Sein Mitarbeiter wollte ihm was erklären und begann mit dem Satz: „Passen Sie auf ...“, bei dem er eine Zornesfalte bekam, aber er sagte nichts. Stattdessen schaltete er das Radio ein: Techno. Ein Taxifahrer überholte ihn und zeigte ihm im Vorbeifahren einen Vogel. Er gab Gas und verfolgte ihn durch die halbe Stadt, bis das Taxi in eine Tiefgarage einbog. Er hinterher ­ immer dicht an dessen Stoßstange. Der Taxifahrer hatte ihn längst bemerkt und gab ihm durch höhnische, verächtliche Zeichen seine Missachtung kund. Aus R.s Gesicht war die Farbe gewichen, es war etwa so weiß wie die Knöchel seiner Hände, mit denen er das Lenkrad griff. Als das Taxi in einen Parkplatz fuhr, stellte er seinen Wagen quer dahinter. Wild gestikulierend und mit geballten Fäusten und Schaum vor dem Mund kam der Taxifahrer heraus. Noch fünf Sekunden bis zur Katastrophe, denn bei R. handelte es sich um einen professionellen Kamfkunstlehrer des WingTsun-Kung-Fu, das zu den gefährlichsten und effektivsten Nahkampfstilen überhaupt gehört. Der erregte, von Adrenalin aufgeblasene Taxifahrer wusste nicht, auf was er sich eingelassen hatte.

R. wurde im letzten Augenblick klar, auf welche Katastrophe er da zusteuerte: Ein Wort würde das andere geben, einer würde den anderen packen, dann Ellbogen, Knie, Handkanten … Blut, Knochenbrüche, innere Organe, Hinterkopf auf den Betonboden … Krankenwagen, Polizei, Gerichtsverhandlung, Schadensersatz, Invaliditätsrente, Berufsverbot. Er erinnerte sich an die Ratschläge seines Meisters: Tief durchatmen, Lippen lecken, Abstand gewinnen, sich selbst wie ein Zeuge betrachten, sich über sich selbst belustigen: Was mache ich Idiot eigentlich hier? Lohnt sich das Ganze? Soll ich meinem Sohn später sagen, Papa saß fünf Jahre im Knast, weil er einen Taxifahrer erschlug, der ihm einen Vogel zeigte? Was sagte Si-Fu: Wenn du jemand eine reinhaust, weil er sagt, dass du ein Idiot bist, dann hat er recht! R. legte den 1. Gang wieder ein, warf dem Taxifahrer eine Kusshand zu und fuhr fröhlich pfeifend aus der Tiefgarage: Er war ein Gewinner. Denn er war im entscheidenden Moment aufgewacht und hatte von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht.

Euer Si-Fu/Si-Gung

Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WingTsun
Gründer, Leiter und Cheftrainer der EWTO


Fortsetzung nächsten Monat
(Dieser Artikel stammt aus Großmeister Kernspechts zukünftigen Buch mit dem Arbeitstitel „Selbst-Verteidigung“)

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.