Von sog. Wendungen, Ellenbogen, Mottos und davon, dass wir nichts wissen können.
Immer wieder wird uns die Frage nach dem richtigen (!) Wendewinkel gestellt, und die guten Leute erwarten sich eine klare Antwort mit Gradangabe usw. Nur solch eine Antwort kann und darf es unter Fortgeschrittenen nicht geben. Klar, dass man bei Anfängern durch Vereinfachen gerne verdeutlicht und die ideale 45 Grad Wendung zur Standard-Wendung erklärt.
Aber das oberste Prinzip im WingTsun ist sich natürlich zu verhalten und sich der Aktion des Gegners anzupassen. Da kann es unter Experten (!) keine starre Anweisung wie „Wende 90 Grad!“ oder „Wende nie mehr als 45 Grad!“ geben; denn eine solche Anweisung wäre eine schlimme Vereinfachung und würde aus einem grandiosen, wissenschaftlichen System, wie es uns der verstorbene Großmeister Yip Man überliefert hat, eine simplifizierte Methode machen, die sich zwar schneller und leichter erlernen würde, aber nicht mehr alles beinhalten würde, was an Reichtum drin steckt.
Ungeachtet dessen, habe ich es natürlich im wahrsten Sinne des Wortes „in der Hand“, mit einer frühen Konteraktion dem noch schwachen – weil erst beginnenden – Angriff des Gegners zu begegnen, wodurch sein Vorwärtsdrang und seine Kraft mich zu wenden begrenzt wird. Denn je weniger weit ich wenden muss, desto schneller kann ich meinerseits zum (Gegen-)Angriff übergehen, woraus folgt, dass die kleinste ausreichende Wendung die beste ist.
Lasst mich mit der manche überraschenden Feststellung beginnen, dass sich das Wort „Wendung“ gar nicht auf den Oberkörper bezieht, sondern auf den Stand, das heißt auf die Füße. Strenggenommen müssten wir also von der „Wendung des Standes“ sprechen.
Der Oberkörper soll mitnichten um die zentrale Achse gedreht werden, wie es so viele Schüler und zum Teil leider auch Fortgeschrittene immer wieder falsch verstehen.
Es mag wing chun- oder ving tsun-Stile, die sich nicht von meinem Si-Fu ableiten, geben, die solche Theorien benutzen, und sie mögen damit innerhalb ihres Konzeptes zufrieden sein, aber in unserer Schule haben wir eine völlig andere Auffassung.
Der Erfolg im WingTsun ist die Folge der konsequenten Befolgung einer Menge von gleichzeitig oder nacheinander geschalteten Verhaltensmaßnahmen. Nur aus der Summe aller Details setzt sich die Effizienz zusammen.
Tatsächlich ist das, was man gemeinhin „Wendung“ nennt, nicht die „aktive“ Drehung oder das Herumwerfen des Oberkörpers, sondern die Verlagerung des Körpergewichtes von einer Seite auf die andere, damit der Angriff des Gegner uns nicht mehr trifft und damit der Gegner unser Gleichgewicht nicht beeinträchtigen kann.
Diese sog. „Wendung“ oder besser „Gewichtsverlagerung“ ist „passiv“, dass heißt, ich wende nicht wirklich selbst, sondern lasse mich vom Gegner „wenden“ bzw. „verschieben“.
Daraus geht hervor, dass ich in diesem Stadium mich nicht selbst wende, sondern es dem anderen erlaube, mich zu bewegen. Dadurch, dass ich keinen Widerstand leiste, sondern nach dem Drehtür-Prinzip verfahre, kann ich mein Gleichgewicht behalten, nach dem Motto: „Wer sich aufgibt, behauptet sich.“
Da ich hier aber nicht selbst aktiv „wende“, ist es auch logisch, dass ich nicht wirklich selbst entscheide, wieweit, d.h. wie viel Grad ich wende, denn ich wende ja nicht, sondern werde gewendet. Bitte achtet immer auf diesen kleinen, aber so gravierenden Unterschied. Der Grad der Stellung meines Oberkörpers entspricht dem Angriff des Gegners. Was daraus deutlich wird, dass ich dem WT-Motto folge: „Bei der Wendung bewegt sich erst der Arm und dann der Stand.“
Nehmen wir als Beispiel den Fauststoß mit Vorwärtsschritt des Gegner, den ich mit einem inneren Fauststoß kontern will. Der Gegner ist in diesem Punkt des Angriffes stärker als ich, woraus bei mir Nachgeben resultiert (Motto: „Ist der Angriff des Gegners stärker, gib nach!“). Aus meinem – wie mein Si-Fu es nennen würde, „optimistischen“ Angriff, der sich nicht manifestieren konnte, also „frustriert“ wurde, wird auf dem Wege der Verwandlung und Anpassung eine Verformung des Armes, die wir in einem bestimmten Punkt als idealen „Bong-Sao“ bezeichnen könnten, falls jemand in diesem Augenblick eine Fotoaufnahme davon anfertigen würde.
Nachdem die Verformung des Armes abgeschlossen ist, bewegt sich im Idealfall der Arm nicht weiter, sondern der Körper gibt stattdessen weiter nach. Damit folgen wir dem Motto vom sog. „unbeweglichen Ellbogen“: „Wenn der Körper sich bewegt, bewegt der Arm bzw. Ellbogen sich nicht“.
Dabei wird unser Winkel zum Gegner von der Tiefe des Eindringens des Angreifers in unseren Stand abhängen, nicht so sehr von einem willentlichen Entschluss unsererseits, der den ganzen Ablauf zu einer willkürlichen Aktion machen würde, die viel mehr Vorbereitung und Bereitstellungspotential erfordern würde als eine taktile Reaktion.
Bleibt der Angreifer mit seinem vorderen Fuß vor mir stehen, dann wird er meinen Oberkörper nicht oder wenig verschieben, ist er aber ein WT-Experte, der tief in meinen Stand eindringt, indem er die „Bik Bo Tip Dar“-Taktik des tiefen Penetrierens benutzt, wird er mich um mehr Grad verschieben.
Aus dem Gesagten folgt, dass ich nicht aktiv wenden darf und keine bestimmte Wendegradzahl sklavisch im Kopf haben darf. Wer aktiv wendet, ist oft in Gefahr, des Guten zu viel zu tun und sich zu weit abzuwenden, ein Fehler, der sich böse rächen kann, wenn der Angreifer sein Metier versteht.
Zu viel ist immer falsch, das wissen wir schon von Konfuzius' Dschun Yung (Der Weg der Mitte), der die Philosophie von Großmeister Yip Man war. Die meisten kennen die berühmte Inschrift vom Tempel zu Delphi, die auf die Sieben Weisen zurückgeführt wird: „Erkenne dich selbst“ (Gnothi seauton), aber die zweite und nicht weniger wichtige Inschrift lautet: „Nichts zu viel!“ (Meden agan). Ich denke oft darüber nach, ob nicht alle „Sünde“ auf eben die hybride Überschreitung dieses Verbotes zurückzuführen ist.
Wenden wir aktiv und damit immer zu wenig oder zu viel, führt das in unser Verderben. Lasse ich mich aber passiv wenden, dann wird mein Winkel dem Vordringen und Penetrieren des Gegners genau entsprechen, dann wird meine Zentrallinie – dieses Mal über meine Schulter gebildet – korrekt auf ihn gerichtet sein.
Das wirklich Entscheidende ist die Zentrallinie – und zwar meine! Diese muss immer auf den Gegner ausgerichtet sein. Wenn meine Zentrallinie, d.h. die „kürzeste gerade Linie zwischen ihm und mir“ nicht auf den Gegner weist, sondern an ihm vorbei, dann überlasse ich ihm die kürzeste Linie von ihm zu mir und bin schutzlos seinem Angriff über seine Zentrallinie ausgesetzt. In diesem Zusammenhang erinnert euch bitte an den Satz: „Im Falle der Wendung bilde ich meine Zentrallinie mit der Schulter.“
Bei der „Wendung“ benutze ich dann auch nicht den Tan-Sao aus dem sog. 3. oder 6. Satz der SNT-Form, sondern den gekreuzten aus dem 1. Satz, wobei die Fingerspitzen meines Tan-Saos auf den Gegner zielen.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Fortgeschritteneren unter uns darauf hinweisen, dass der Tan-Sao im 1. Satz der Holzpuppenform, so wie der verstorbene Großmeister Yip Man ihn uns als Vermächtnis auf Seite 19 des Buches „116 WingTsun Holzpuppentechniken“(Foto 4 und 7) zeigt, folgerichtig nicht der gekreuzte Tan-Sao mit außenstehendem Ellbogen ist. Denn in diesem Falle liegt ja auch keine „Wendung“ vor, sondern ein Penetrieren mittels „Jamming Step“. Dennoch würde ich bei der Anwendung dieser Technik (auch aus dem Wissen der Historie des „Jamming Steps“ heraus, der vorher eine bloße und damit schnellere Wendung war) keinen Fehler darin sehen, den Ellenbogen zur Erzielung eines bestimmten Zweckes wie beim gekreuzten Tan-Sao im Einzelfall herauszunehmen.
Ich bitte auch auf die Fußstellung („Pflaumenblüten-Schritte“) des verstorbenen GM Yip Man zu achten, da auch hier die verschiedensten Theorien kursieren und viele Schüler verwirren. Aber das ist ein anderes Thema für ein späteres, vertiefendes Editorial ...
Fazit:
Man hüte sich als Lehrer vor allzu präzisen Anweisungen von exakten Fußpositionen, Winkeln usw., da man damit eher zeigt, dass man nur über beschränktes Wissen verfügt.
Nur wer wenig weiß, wird sich zu pauschalierten Aussagen hinreißen lassen. Wer wirklich viel weiß, weiß, dass er nichts weiß, und er wird sich eher die Zunge abbeißen, als im Brustton der Überzeugung seine momentane, persönliche oder aufgeschnappte oder aus dem Zusammenhang gerissene Interpretation als EINZIGE, ewige Wahrheit zu verkünden.
Man muss immer misstrauisch werden, wenn ein Lehrer, der komplexe Dinge (wie unser WT) lehrt, behauptet, er „weiß“, denn WT hängt im Einzelfall von so vielen Bedingungen ab und ist keine tote Sache, die man unter dem Mikroskop analysieren kann.
Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.
Der Gruß des Monats
Mein heutiger Gruß gilt besonders unserem Mitglied Bernd Aretz (12.10.36), dem wohl ältesten Techniker im deutschsprachigen Raum.
Laut Auskunft von Oliver Hagenau, seinem Ausbilder, erlitt er vor ca. 5 Wochen einen schweren Schlaganfall und lag eine Nacht im Koma.
Inzwischen befindet er sich in der Rehabilitation und kann auch wieder ganz gut sprechen, obwohl seine linke Körperhälfte noch gelähmt ist.
Sein Trainer ist zuversichtlich, dass Bernd all seine Willenskraft mobilisieren kann, um gegen seine Krankheit anzugehen.
Wie willensstark Bernd Aretz ist, erkennt man daran, dass er Oliver Hagenau schon um ein entsprechendes Trainingskonzept gebeten hat, so dass er sein nächstes Ziel, den 2. TG, erreichen kann.
Bernd ist ein Vorbild für uns alle und wir wollen ihn unterstützen, indem wir jetzt intensiv an ihn denken und ihm Gesundheit wünschen. E-Mails an ihn bitte über oliver.hagenau@surfeu.de, Fax 02166/127419 oder direkt an Bernd Aretz, Karl-Platz-Straße 29, 41812 Erkelenz.