Editorial

Mit ChiSao im Infight unschlagbar!

Mit einem Auszug aus meinem für die erste Hälfte 2020 vorgesehenen fast 400-seitigen Konzept-Buch über ChiSao möchte ich mit euch ins neue Jahr starten.

Beobachten wir Boxkämpfe im Ring, fällt uns auf, dass aus der sauberen Boxerei schnell ein gegenseitiges Einklemmen und Verhaken der Arme wird, sobald sich die Gegner zu nahekommen.

Der Ringrichter muss sie dann verwarnen und trennen, damit sie wieder das tun, was die Zuschauer erwarten: Boxen!

Und hätte man den Kontrahenten die Hände nicht mit Boxhandschuhen zu Fäusten gebunden, würden sie auch die Handgelenke des Gegners greifen wollen, um ihn am Schlagen zu hindern.

Diese vom Zuschauer eher ungeliebte Phase des Boxens nennt man Clinchen. Sie liegt in der Grauzone zwischen Boxen und Ringen.

Erlaubten es die Regeln, würden Kämpfer hier Ellenbogenschläge, Knietritte und auch Kopfstöße einsetzen, bevor der Kampf zu einer Art Ringen im Stand wird.

Von der Menschheitsgeschichte der Kampfkünste her ist die wirklich unnatürliche Phase dabei das Boxen mit Fäusten, das sich z.B. in Europa erst als Ausfluss des Fechtens entwickelte und in Japan unbekannt war, bevor man dort den ersten amerikanischen Boxkampf im Kino sehen konnte.

Das Clinchen ist also vom totalen Kampf die mittlere Phase, wo man sich so nahegekommen ist, dass man ungern tritt und schlägt, aber noch nicht dicht genug, um leicht ins Ringen im Stand überzuwechseln.

In dieser mittleren Distanz können Spezialisten allerdings durchaus noch Tritte und Schläge und schon Armhebel, Würger und Würfe realisieren.

Insofern beinhaltet für mich die Clinch-Distanz alle Möglichkeiten des Kampfes in komprimierter Form.

Einige asiatische Stile haben deshalb spezielle Methoden des Clinchens entwickelt, die wir im WingTsun (wing chun) „ChiSao” (Klebende Hände) nennen. Andere Ausdrücke dafür sind: FoonSao oder Trapping Hands im Bruce Lee KungFu, MorSao bei bestimmten chinesischen Stilen, Tui Shou oder Pushing Hands (Schiebende Hände) im Tai Ji (Tai Chi), Pan Shou im Bagua (Pakua) KungFu. Im Okinawa-Karate spricht man von Kakie (Hakenhände) bzw. Mochimi Te (Klebende/Klebrige Hände).

Als ich vor einiger Zeit in Kiel meinen Budofreund Wolfgang Hagge, 8. Dan Karate (DKV) und ausgezeichneter Kämpfer, intensiv in das ChiSao meines WingTsun einführte, war sein fachmännischer Kommentar:

Damit kann man im Infight unschlagbar werden!

Das haben inzwischen auch manche über den Zaun blickenden MMA-Größen wie Anderson Silva entdeckt, die deshalb zusätzlich zu ihrem Programm ChiSao üben und an der Holzpuppe trainieren.

Dabei müssen sie allerdings beachten, dass diese Methoden für den Nahkampf entwickelt wurden,  aber in der Distanz andere Gesetze gelten mögen.
 

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht