Sprechstunde Escrima
WTW: Warum sollte man sich überhaupt zum Thema Distanz Gedanken machen?
Meister Thomas Dietrich: Warum man sich über Distanz Gedanken machen sollte? Ganz einfach, weil sie nicht nur von dir allein abhängig ist. Weil sie vom Angreifer oder Verteidiger abhängt. Und weil sie von dem abhängt, was du angreifen möchtest. Die Angriffe gibt es in zwei Varianten: einmal zum Angreifen, einmal zum Kontern. Willst du angreifen zum Angreifen, musst du in die Distanz des anderen eindringen. Greifst du an zum Kontern, dringt der andere in deine Distanz ein.
Welcher Zusammenhang besteht in Bezug auf die Basics, die Grundvoraussetzungen im Escrima?
Grundsätzlich gilt Folgendes: Wenn du für dich allein eine Übung machst, hast du die Basics Speed, Power, Timing, Balance zu beachten. Diese vier betreffen nur dich. In dem Moment, wo ein Gegner hinzukommt, ist als Allererstes: Fokus und Distanz. Diese zwei kommen immer dazu. Das bedeutet, du musst sehen, was passiert und es ist abhängig davon, was du machst, wohin du gehen und welches Ziel du erreichen möchtest. Oder welches Ziel du allgemein verfolgst – nicht, was das Ziel deines Angriffes ist, sondern das deiner Handlung allgemein.
Das Thema Distanz ist also immer dann relevant, wenn ich ein Gegenüber habe?
Absolut! Ein Beispiel für Nichtbeachtung dieses Basic wäre, wenn ich beim Training in meiner Distanz immer zu kurz schlage, um mein Gegenüber nicht zu treffen. Wenn ich also beim Training nicht geübt habe, bis zum Ziel zu schlagen, sprich das Ziel auch wirklich zu erreichen, dann habe ich ein echtes Problem. Was ist das Wichtigste an einem Angriff? Das Ziel. Was ist das Wichtigste an einem Ziel? Das Erreichen. Was ist das Wichtigste am Erreichen? Das damit zu bewirken, was ich bewirken will. Fertig. Aus. Ende. Ohne Wenn und Aber.
Was verstehen wir im Newman-Escrima unter Distanz?
Das Gleiche, was in jeder anderen Kampfkunst oder Kampfsportart auch darunter verstanden wird: das Erreichen des Gegners bzw. das Nicht-erreicht-Werden durch den Gegner.
Die Distanz ist somit auch immer abhängig von den eingesetzten Waffen.
Richtig!
Wie bestimme ich meine eigene Distanz zum Gegner?
Das kannst du so schreiben, wie ich es jetzt sage: Da kann ich ein richtig gutes Buch empfehlen. Dieses Buch hat 1003 Seiten. Es heißt: Die Kunst des Lernens. Da steht auf der ersten Seite ganz groß in fetten Buchstaben: Üben. Auf der zweiten Seite steht: Üben. Auf der 500. Seite steht auch Üben und auf der 501. steht ebenfalls Üben. Und auf der letzten Seite steht: Jetzt fang‘ richtig an zu üben.
Das geht nur über Erfahrung. Es gibt keine Messlatte, die das herstellen kann. Ich weiß, ich kann definitiv mit einem CAD-Programm, eine Erreichbarkeit darstellen, mit Winkeln, Distanzen und der Begründung, warum trotz gleich langer Arme der eine das Ziel erreicht, während der andere es nicht erreicht. Ich kann ständig testen, ob ich es richtig mache, indem ich meine Waffe auf dich ausrichte, wie beim Stich, und auf deiner Brust locker aufsetze. Das ist die Distanz. Da kann ich dich auf alle Fälle treffen. Innerhalb dieser Reichweite muss ich immer hinter meiner Waffe sein. Und in dieser Reichweite muss folgende Reihenfolge angesprochen werden: Greife ich an zum Kontern, bewege ich meinen Körper zuerst. Greife ich an zum Angreifen, habe ich meine Waffe vor mir. Alles, was außerhalb dieser Reichweite ist, außerhalb dieser Distanz, ist vollkommen egal. Ich muss nie hinter meiner Waffe sein, wenn ich 20 Meter von meinem Gegner entfernt bin. Vollkommener Blödsinn.
In welcher Distanz wird es für mich brenzlig?
In der Erreichbarkeitsdistanz. Wenn der andere den Arm ganz gestreckt hat und mich treffen kann. Dann wird es absolut gefährlich und genau da gelten die Regeln: Waffe zuerst, wenn ich angreife. Körper zuerst, wenn ich kontere.
Bei einem deutlich größeren Trainingspartner, bin ich ja dann immer im Nachteil. Für mich wird es eher gefährlich als für ihn, oder?
Ungefähr eine halbe Nanosekunde, wenn du dich schnell bewegst. Man darf nicht vergessen: Ein langer Muskel bewegt sich langsamer als ein kurzer Muskel. Je kleiner er ist, desto schneller kann er sich bewegen. Je größer er ist, desto langsamer.
Wie entwickle ich gutes Distanzgefühl?
Gutes Distanzgefühl entwickelt man dadurch – wie gesagt – in dem man übt, übt, übt… Und zwar so kontrolliert übt, dass man zu jeder Zeit auf einen Konter verzichten kann. Ich erlaube dem Trainingspartner also, mich zu treffen, wodurch man überprüfen kann, ob die Distanz stimmt oder nicht.
Womit wir wieder auf die anderen Basics zurückkommen – zum Thema Speed. Sollte ich mit einem Anfänger schnell üben? Nein, sollte ich nicht; denn ein Anfänger wird dann keine Kontrolle über sein Tun haben. Er hat keine Sicherheit. Es kommt ein Angstgefühl auf. Er findet keine richtige Balance, keine richtige Distanz. Und folglich ist alles, was ich übe, kontraproduktiv, weil ich etwas Falsches übe. Noch einmal: Für die Übung ist es richtig, dass ich nicht kontere. Das heißt ich bin zwar in der Distanz, lasse mich aber treffen. Ich kann dadurch feststellen, ob mich der Hieb des anderen überhaupt erreichen würde oder nicht. Und das Treffenlassen erfordert Vertrauen in meine Schüler, meine Trainingspartner. Sie müssen sich kontrollieren, sonst trifft sie mich. Dieser Aspekt wird sehr gut geschult mit den Offlining-Übungen.
In welchen Situationen kommt es zu Distanzproblemen?
Schwierigkeiten beim Erlernen treten immer dann auf, wenn ich die Reihenfolge richtig schalten will, d.h. wenn ich ein vernünftiges Timing haben will. Wenn ich sagen möchte: Ich mache meinen Angriff zum Angriff bzw. meinen Angriff zum Kontern in der richtigen Reihenfolge der Bewegungen. Ich benötige dann immer eine richtige Distanz. Meine Waffe muss immer vor mir sein, wenn ich in die Reichweite des Gegenübers komme, ich aber in dem Moment noch gar nicht treffen kann, weil ich noch 20 cm zu weit weg bin und ich meinen Arm nicht durchstrecken möchte. Diese 20 cm muss ich noch mit Schrittarbeit überbrücken, bevor ich distanztechnisch wirklich mein Ziel erreiche.
Spielen wir das doch einmal durch: Ich komme auf den Gegner zu und komme in seine Reichweite, was dann?
Dann muss deine Waffe vor dir sein, denn sonst bietest du ja ein Ziel! Die Ausholbewegung muss komplett abgeschlossen sein und in die Angriffsbewegung wechseln. Ab dieser Distanz. Wichtig ist, dass ich nicht mehr aushole, wenn der andere mich bereits erreichen kann. Das ist das Thema. In dem Moment, wo du mich erreichen kannst, darf ich nicht mehr ausholen. Das ist aber das, was fast alle noch machen. Sie laufen rein und in dieser Bewegung werden sie getroffen…
Wie lässt sich Distanz trainieren?
Der Weg des Lernens ist bei uns unterteilt in unsere Programme. Sie sind aufgebaut wie eine Leiter. Und während des Erklimmens der Leiter, hast du alle nötigen Basics so verinnerlicht, dass du sie in jeder Distanz auch mit der Waffe anwenden kannst. Das heißt, dass du in der Lage bist, eine lange leichte Waffe genauso sicher handhaben zu können wie eine lange schwere Waffe bzw. eine kurze leichte Waffe ebenso wie ein kurze schwere.
Beeinflusst die Distanz meine Einstellung?
Die Distanz an sich beeinflusst die Einstellung nicht wirklich. Aber sie wird definitiv dadurch beeinflusst, dass mein Gegenüber eventuell eine ganz andere Waffe einsetzt, als ich sie führe. Da muss ich eine andere Einstellung bringen. Mein Gegner hat eine Waffe und ich bin waffenlos oder er hat eine längere Waffe – z.B. einen Stock – und ich selbst habe nur einen Kugelschreiber. Da bin ich gezwungen mit einer anderen Einstellung in den Kampf zu gehen. Ich kann ihm keine vierte, fünfte oder sechste Chance geben, sondern muss den Angriff relativ rasch beenden bzw. versuchen durch z.B. eine Entwaffnung, in den Besitz der vorteilbringenden Waffe zu kommen.
Gibt es eine mentale Distanz?
Auf alle Fälle. So wie wir überhaupt in der Psychologie von bestimmtem Distanzverhalten reden, habe ich natürlich bei einem Gegenüber, der mir Respekt einflößt, eine Respektsdistanz. Wie z.B. gegenüber meinem Chef, dem ich auch nicht so nahe komme. Mit anderen Worten ich nähere mich einer Respektsperson nicht so, wie ich mich z.B. einem langjährigen Trainingspartner oder einem guten Kumpel nähere. Das wird jedem klar sein. Im Ernstfall habe ich vor meinem Gegenüber zumindest Respekt (wenn nicht sogar Angst und mehr). Dieser „mentale Druck“ hat definitiv etwas mit Distanz zu tun.
Was fasziniert dich selbst an der Thematik Distanz?
Dass es unglaublich schwierig ist, sie zu erlernen. Dass ich immer noch dabei bin zu lernen. Dass, wenn ich irgendwann einmal sage: „Jetzt hab‘ ich‘s!“, ich nicht mehr glaubwürdig bin. Ich pflege immer zu sagen, dass ich ein ewig Lernender bleibe. Generell ist Aufhören oder Stillstand gleichzusetzen mit Rückschritt. Es geht es nicht mehr weiter. Alle neuen Einflüsse können nicht aufgenommen werden. Dann würde das alles nicht mehr so viel Spaß machen und so spannend sein wie bisher.
Text: jn
Fotos: mg/hm