Bedürfnisse und Ego
Nach dem amerikanischen Psychologen A.H. Maslow gibt es fünf verschiedene Grundbedürfnisse, die den Menschen zu einem bestimmten Verhalten verleiten. Wollen wir verstehen, warum die Menschen zu uns in den Unterricht kommen, dann hilft es, diese Grundbedürfnisse zu kennen und so den Schüler einschätzen zu lernen; denn nur wenn wir seine Motivation dafür kennen, weshalb er zum Training kommt, können wir ihn auch effektiv weiterbringen.
Vereinfacht sehen die Bedürfnisse wie folgt aus (vgl.: „Train the Trainer“ von M. Birkenbihl, S. 26):
a. Physische Bedürfnisse
Triebe und Antriebe haben absolute Priorität für den Menschen: Er braucht zu essen und zu trinken, eine Schlafgelegenheit und die Möglichkeit, sich fortzupflanzen. Diese werden im WingTsun nicht ausgiebig befriedigt.
b. Sicherheitsbedürfnis
Der Mensch strebt danach, nachdem die physischen Bedürfnisse befriedigt sind, seine Existenz zu sichern, wobei diese Absicherung in der heutigen Zeit vor allem monetär oder doch zumindest beruflich geschieht. Hier spielt WingTsun natürlich eine große Rolle: auf der einen Seite, weil der Mensch ja durch die Selbstverteidigung seine Existenz, seinen Körper schützen kann und auf der anderen Seite, weil er ja als Ausbilder auch durchaus seinen Karriere aufbauen kann und als Schulleiter seine finanzielle Existenz absichert.
c. Soziale Bedürfnisse
Der Mensch baut sich einen Freundes- und Bekanntenkreis auf, tritt Vereinen bei oder wird politisch. Auch das Bedürfnis bekommt er natürlich im WingTsun gedeckt; denn er tritt mit in die WingTsun-Familie ein, hat ab jetzt einen WingTsun-Vater, -Brüder, usw. Die oben unter Gruppendynamik dargestellten Varianten des Miteinanders unterstützen diese Bedürfnisbefriedigung.
d. Ich-Bedürfnisse
Sie werden aber schon nicht mehr von allen Menschen angestrebt. Die „kleine heile Welt“ eines Individuums ist mit den obigen drei Bedürfnissen gestillt. Man hat ein Auto, ein Häuschen und eine Familie. Nun gilt eher die Devise: Alles halten, wie es ist. Der Mensch ist eben doch ein Gewohnheitstier. Veränderungen sind nicht unbedingt willkommen, vor allem da diese nicht unbedingt zu besseren Bedingungen führen müssen, als die derzeitig vorherrschenden. Mit den Ich-Bedürfnissen beschreibt Maslow eine Folge von bestimmten Erfahrungen. Hat ein Mensch zum Beispiel ein bestimmtes Defizit, weil er zum Beispiel als Kind nicht genug Geborgenheit oder Sicherheit bekam, so wird er mit zunehmendem Alter immer mehr im „äußeren Ich“ aktiv, d.h. er wird unter Umständen ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis haben. Eventuell wird er ein großes Auto fahren wollen oder Ähnliches. Auch im WingTsun kann dieses Bedürfnis bis zu einem gewissen Grad ausgelebt werden. Man kann Schülergrade machen und an diesen wachsen, sich Ziele setzen, wie zum Beispiel den ersten Technikergrad zu schaffen usw. Leider sehe ich diese Bedürfnisbefriedigung viel zu oft als intrinsischen Antrieb im Training.
e. Selbstverwirklichung
Nur sehr wenige Menschen verspüren nach einem weiteren Bedürfnis, nämlich der Verwirklichung des „Inneren Ichs“. Sich und seine Anlagen zu erkennen und optimal nutzen zu können, was einem ständigen Prozess des Wachsens gleichkommt, steht dem Bedürfnis nach Sicherheit und „statischem Halten“ diametral entgegen. Diese Stufe hat mit Wandlung und Veränderung zu tun und ist damit die eigentliche Basis auf der die WingTsun-Prinzipien fußen.
Wo spielt nun das Ego seine Rolle?
Um es vorweg zu nehmen: Ein guter Ausbilder greift die Leute bewusst und korrekt an, so dass sie üben können und macht sie umsichtig dadurch auf Fehler aufmerksam. Er ist nicht der, der nur austeilt und seine Schüler als Dummy benutzt.
Er sollte also auf der einen Seite empathisch genug sein, um zu wissen wie er mit dem Schüler umgehen muss – die einen mögen es etwas härter, die anderen nicht. Dabei muss er sein eigenes Ego im Griff haben. Es kann nicht sein, dass Menschen in die Funktion des Ausbilders kommen und dann ihre eventuell vorhandenen Komplexe und Unsicherheiten an den Schülern ausleben.
Da kämen die Grundbedürfnisse nach Maslow wieder ins Spiel – hier allen voran das Geltungsbedürfnis. Jeder Schulleiter und Ausbilder hat sicherlich ein bestimmtes Geltungsbedürfnis, sonst würde er sich wohl kaum freiwillig vor eine Gruppe stellen, um diese in Selbstsicherheit zu unterrichten. Schließlich sollte man dies auch selbst beherrschen.
Dieser Drang nach Geltungsbedürfnis ist in einem gesunden Maße auch durchaus erwünscht, lebt eine Schule doch unter anderem vom Charisma ihres Schulleiters. Allerdings gibt es Auswüchse, die nicht mehr gesund sind. Wie zum Beispiel ein Schulleiter, der so selbstverliebt ist, dass er nur noch sich auf der Werbung ertragen kann und deswegen professionelle, verbandsinterne Werbung ablehnt. Oder der Ausbilder, der im Training ständig den Schülern, in erster Linie aber sich selbst, zeigen muss, wie toll er ist.
Das geht unter Umständen soweit, dass das Ganze dann im Internet bei Youtube und Ähnlichem auftaucht, was für mich einfach nur ein Armutszeugnis darstellt. []
Bei vielen anderen Kampfkunst- oder -sportarten ist der Ausbilder der, der die Leute fit macht und gegebenenfalls auf Wettkämpfe schickt, aber er ist nicht der, der alle weghauen muss. Bei uns ist es aber so, dass der Ausbilder seinem Schüler immer auch technisch überlegen sein muss – was soweit in Ordnung ist, schließlich sollte sich der Ausbilder selbst auch immer weiterbilden, weshalb er mehr Informationen und damit mehr Verständnis vom System hat als der Schüler. Im Training erweist es sich manchmal als störend, dass der Ausbilder immer rechtfertigen muss, dass er der „Bessere“ ist und es stellt sich die Frage, ob dies überhaupt so ist?
Irgendjemand sagte einmal, dass man entweder ein guter Lehrer oder ein guter Kämpfer sein kann. Früher hätte ich das genauso gesehen, aber spätestens seit ich mit SiFu trainieren darf, weiß ich, dass es auch anders sein kann. Aber selbst, wenn es so wäre, können sich die Schüler ja eine einfache Frage stellen: „Möchte ich bei dem trainieren, der mir das Ganze besonders gut erklären kann? Oder doch eher bei dem, der mich besonders gut verhauen kann?“ Der gesunde Menschenverstand würde für eine Wahl nicht lange benötigen, umso mehr verwundert es, wenn man sieht, für wen sich die Menschen letztlich entscheiden.
Leider findet man sogar bei uns im Verband noch eine Reihe Hochgraduierter, die zwar selbst wirklich gut sind, aber deren Schüler größere Mängel aufzeigen. Ob das nun mit der obigen Tatsache zu tun hat, dass sie es einfach nicht besser unterrichten können und damit die Lehrerfunktion nur unzureichend erfüllen können, ob sie es aufgrund ihres Egos nicht zulassen können nach dem Motto: „Ich halte meine Schüler schlecht, dann bleibe ich der Bessere, ohne mich allzu sehr anstrengen zu müssen.“ Oder ob sie es aus anderen Gründen nicht machen finanziell, usw., ist erst einmal sekundär. Es ist einfach traurig.
Häufig geht es sogar über in einen Personenkult, indem es heißt: „Ich bin schließlich Schüler von dem und dem.“ – Als wenn den Straßenschläger diese „unglaubliche“ Tatsache imponieren würde. Allerdings geht es uns da noch gut. Andere Verbände leben ausschließlich vom Namen ihres „Vorstandes“. Dementsprechend wäre ich fast dafür, dass man ab einem gewissen Grad die Leistung eines Lehrers nicht mehr an ihm und seinem Können misst, sondern an der seiner Schüler! In der Praxis wird dies aber wohl kaum wegen der unterschiedlichsten Randbedingungen durchführbar sein.
Manche scheinen Folgendes noch nicht verinnerlicht zu haben: Mache ich meine Schüler richtig gut, muss ich mich mehr anstrengen, sie zu treffen und viel mehr aufpassen, nicht getroffen zu werden; ergo bekomme ich richtig gute Trainingspartner. Und die sind es, die mich ja am Ende wirklich besser machen!
Da kommt aber dann wohl bei vielen die Bequemlichkeit zum Vorschein: „Lieber den Schüler dumm lassen, damit ich es einfach habe.“
Früher war dies auch noch viel heftiger – zumindest hoffe ich, dass das mittlerweile nur noch der Vergangenheit angehört. Ein Beispiel aus der Privatstunde bei einem meiner damaligen Lehrer: „Wir machten ChiSao. Er sagte, ich solle den Tan ordentlich ausdrehen und glibschte darüber (mit Ellbogen etwas draußen), um mir zu beweisen, dass mein Tan, so wie er stand, nicht in Ordnung war. Natürlich traf er mich. Danach korrigierte er mich ein paar Millimeter, ließ beim nächsten Angriff den Ellbogen eng und traf mich nicht mehr. Nun stimmte der Winkel natürlich. Einzig aus Respekt vor dem höheren Grad des Lehrers sagte ich ihm nicht, dass er ja nun ganz anders angegriffen habe als beim vorherigen Mal.“ So kann man die Leute auch hinhalten!
Ein gut durchdachtes und didaktisch lupenreines Unterrichtskonzept findet man leider viel zu selten: eine Struktur, die den Schüler über einen bestimmten Zeitraum, einfach effektiv weiterbringt. Der Verband hat in diesem Rahmen beste Voraussetzungen geschaffen, indem er die Standardisierung herausgebracht hat und wie ich letztens las, soll dies nun auf den Ausbilderlehrgängen forciert werden – was ich sehr begrüße!
Wobei der Verband leider nicht helfen kann, ist das Geltungsbedürfnis eines jeden Ausbilders in den Griff zu bekommen. Über „Macht“ und „Ruhm“, wenn man von Schülern angehimmelt wird, bis hin zu einer neuen Attraktivität, die man erreicht, weil man auf einmal der Chef da vorne im Raum ist. Dies alles zusammen bringt vielleicht von vornherein die „unfertigen“ Menschen dazu, Schulleiter zu werden. Zumindest kann man den Eindruck gewinnen, wenn man sich unter den Ausbildern umschaut. Aber auch hier eine Einschränkung: Ich habe mittlerweile stark den Eindruck, dass sich die Menschen mit ganz heftigem Geltungsbedürfnis mittlerweile fast alle aus der EWTO verabschiedet haben. Das wiederum ist das Gute: in einem Verband als kleines Rad unter vielen kann ein übermäßig wachsendes Ego irgendwann nicht mehr befriedigt werden und so findet eine heilsame Selbstreinigung statt.
Hoffen wir, dass die zukünftigen Generationen von Ausbildern etwas mehr auf allen Ebenen arbeiten können.
Dank an Sifu Dominique für seine Ausführungen.
Euch allen: Nutzt Eure Chance zu positiven Veränderungen, die unser WingTsun bietet.
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht