TASTSINN – FRÜHER UND HEUTE
Dr. Moshé Feldenkrais
Seit über 10 Jahren steuern wir in der EWTO mit neuentwickelten Trainingsprogrammen eine „Fühlfähigkeit“ an, die in Verbindung mit unseren Propriozeptoren, direkt und ohne Umwege – und damit ohne Zeitverluste – „für uns entscheidet“. Schon der 6. Schülergrad der Mittelstufe wird über das ReakTsun-Programm allmählich an echtes „Fühlen“ herangeführt. Früher war das anders:
Als ich 1985 mein fünftes Buch „Vom Zweikampf“ zu schreiben begann, war ich gerade ein 4. Lehrergrad im LeungTing-WingTsun und mein WT war sehr exoterisch (extern), oberflächlich, mechanisch, Techniken- statt Prinzipien-orientiert, mit festgelegten Bewegungsmustern und ohne echtes „Feeling“ (Fühlen).
Ich war auch noch nicht soweit, auf Angriffe mit „echter“ Reaktion zu antworten, sondern ich konnte nur auf etwas nachgebend reagieren, auf das ich vorbereitet war und das deutlich mit hohem Druck längere Zeit auf meinen Arm einwirkte. Ich musste die mir fehlende Fühlfähigkeit (feeling) durch großen Vorwärtsdruck kompensieren. Ich hätte mich schlappgelacht, wenn mir jemand erzählt hätte, dass es auch mit minimalem Druck und mühelos geht.
Von echtem Fühlen war ich noch über zwanzig Jahre entfernt!
Während mein Lehrer davon sprach, der Kraft des Gegners grundsätzlich nachzugeben, veränderte ich das für mich zu: der „stärkeren“ Kraft des Gegners nachzugeben. Schließlich war ich ein Powerlifter, der mit 97 kg Lebendgewicht 200 kg drücken konnte. Und eigentlich war ich es, der mit dem Keil angriff. Wollte jemand meinen Keil eindrücken, musste er schon ziemlich stark sein, denn ich war es auch. Kurz, ich reagierte nur auf sehr hohen Druck und auch nur dann, wenn ich auf ihn vorbereitet war und wenn er andauerte. Vorbereitet war ich nur, wenn ich die gegnerische Aktion kommen sah bzw. wenn ich den Druck des Gegners provoziert hatte und erwarten konnte, dass und wie er erfolgt.
Wenn Anhänger esoterischer, innerer Stile damals behaupteten, ihr chinesischer Meister könne schon auf bloßen Hautkontakt reagieren, tat ich das als Aberglauben ab. Heute mit 74 kg Körpergewicht, 11 Jahre nachdem ich den 10. Meistergrad erhielt, reagiere ich nicht nur mit der Haut, sondern auch mit den Haaren und auf ein immer deutlicher werdendes Wärmegefühl. Ich sehe die Bilder der Ungläubigen vor mir, wie sie mit grimmig martialischem Gesichtsausdruck, angespannten Armen und steifen zurückgelehnten Oberkörpern, Monolithen gleich, nur das verstehen können, was sie verstehen, und nur das fühlen, was sie fühlen, und denken müssen, dass darüber hinaus nichts zu verstehen und zu fühlen ist. Aber die Straße ist nicht zu Ende, nur weil unser Benzintank leer ist!
Wenn ich vor 25 Jahren von „taktil“ sprach, war das für mich nur ein Erklärungsprinzip, ein Wort dafür, dass wir ständig den Kon-„takt“ mit dem anderen suchen, zumindest im Gegensatz zu anderen Stilen, die keine Kontaktfluss-Übungen (ChiSao) kennen. Und wie eng Wissenschaftler den Begriff „taktil“ auslegen, ist mir erst beim Studium der Sportwissenschaft in den 1990er Jahren klar geworden.
Mit Reaktionszeiten würde ich mein WT auch nicht mehr beschreiben wollen. Solche Zahlen sind etwas für gewisse Wissenschaftler, die unter dem Druck stehen, alles zu quantifizieren und mit an den Haaren herbeigezogenen Experimenten, die nichts Relevantes aussagen, zu beweisen.
Ich habe die offensichtlich vorhandene und durch zahlreiche internationale Experten und polizeiliche und militärische Eliteeinheiten testierte Überlegenheit unseres WT bisher informationstheoretisch wie folgt erklärt:
1. mit der schnelleren Information und Reaktion aufgrund des taktilen Inputs
2. mit der Erkenntnis von Professor Nils Bohr, dass aus dem Letzten der Erste wird,
weil zur unbewussten (!) Vorbereitung eines Angriffs mehr Zeit nötig ist als zur
Reaktion darauf.
Inzwischen erkläre ich die Wirksamkeit unseres WT mit
3. meinem „Gestänge-Modell“
Denn Reaktion ist nur ein Wort für Leute, die alles messen wollen. Dr. Moshé Feldenkrais hat das richtig gesehen, als er von der Kampfkunst sprach: „Wenn deine Organisation überlegen ist, spielt Reaktionszeit keine Rolle.“ (When your organization is superior, then the reaction time is of no consequence.) Mein Erklärungsmodell verzichtet ganz auf die Reaktion als Erklärung und geht stattdessen von der Bildung eines Gestänges aus und von einer mechanischen, aber keineswegs steifen, sondern sehr einfühlsamen Kraftübertragung von den Armen (oder Beinen) des Gegners auf unsere.
Wenn mehrere Theorien einen Sachverhalt gut erklären können, soll man die einfachere und damit plausiblere Theorie nehmen. So etwa kann man Wilhelm von Ockhams (1285 - 1349) Ökonomieprinzip – auch als „Ockhams Rasiermesser“ bekannt – etwas salopp formulieren. Nun will ich mein „Gestänge-Modell“ hier kurz erläutern.
Mein „Gestänge-Modell“ hat den großen Vorteil, dass man sich nicht mit mathematischen Berechnungen abgeben muss, sondern mit der einfachen mechanischen Lehre der Physik auskommt. Für Leute, die Zahlen brauchen, habe ich in den 1980er Jahren mit dem Begriff „Reaktion“ gearbeitet, im Bateson‘schen Sinne nur ein „Erklärungsprinzip“.
Reaktionszeit ist – ebenso wie persönliche Schnelligkeit – nie ein Thema für die klassischen inneren Stile gewesen. Und ich unterrichte WingTsun als einen inneren Stil. Und nicht als eine Kampf-Sportart, die man mit sportwissenschaftlichen Methoden umfassend erklären könnte. Allein das Wort „Re-Aktion“ schreckt einen chinesischen Kampfkünstler ab, der traditionell mit Wissenschaftlichkeit nicht viel zu tun hat, denn es scheint für ihn ein „Nacheinander“ zweier Handlungen zu implizieren, wo ein „Zusammen mit“ gefordert ist, um nicht „ins Hintertreffen zu geraten“.
Aber im physikalischen Sinne muss die Reaktion (reactio) durchaus nicht nach der Aktion (actio) stattfinden. Denken wir an das Gesetz „actio = reactio“, dann entspricht die Kraft, mit der ich gegen die Wand drücke, der Kraft, die – gleichzeitig – auf mich zurückkommt.
Unser chinesischer Stilist eines inneren KungFu-Stiles würde so denken:
„Wenn der Gegner seinen Körper bewegt und ich sehe, wie er sich bewegt, kann ich daraufhin versuchen, meinen Körper so zu bewegen, dass mein Körper einen Bezug zu seinem Körper hat. Aber trotzdem wird meine Bewegung ein wenig später stattfinden als seine, da ich sie zuerst optisch wahrnehmen, ein Muster erkennen muss und erst danach eine Extrapolation durchführen kann, um ihr folgen zu können.“
Bei der taktil-kinästhetischen ChiSao-Übung, in der die Arme der Partner während der ganzen Zeit im Kontaktfluss sind, ist man tatsächlich ständig geschützt, weil es die Arme des Partners selbst sind, die uns durch ihren Angriff in Sicherheit drücken. Unsere Arme sind nämlich mit denen des Gegners ständig wie durch ein Gestänge verbunden. Die Arme des Partners drücken gegen unsere Arme, die Kraft des Partners überträgt sich und unsere Arme drücken unseren Körper weg und in Sicherheit.
Nun könnte man natürlich einwenden, dass es im Kampf anders ist, denn dort besteht vor Beginn größerer Abstand zwischen den Armen der Kontrahenten. Grundsätzlich ist dieser Einwand berechtigt, aber ich habe als Untersuchungsgegenstand den entarteten „Ritualisierten Zweikampf“ (Territorialkampf), den Affentanz gewählt, den häufigsten Kampf unter Männern, der mit „Was guckst du so blöde“ beginnt.
Dieser besondere Kampf zeichnet sich durch, wie wir gezeigt haben, durch fünf Phasen aus:
1. Gucken
2. Sprechen
3. Packen
4. Schlagen
5. Treten zum Kopf des Zu-Boden-Gegangenen
In seiner vorletzten oder spätestens in der letzten Phase besteht allergrößte Nähe und unmittelbarer Kontakt mit unserem Gegner. Somit können wir meistens schon vor dem Schlag von Kontakt zwischen den beteiligten Armen ausgehen. Aber selbst wenn einige Zentimeter Abstand zwischen unseren Armen und denen unseres Gegners bestehen, ist keine große Beschleunigung zu befürchten, da unser Kraft aufnehmender Arm immer zwischen dem Arm des Gegners und unserem Körper ist und wir durch unsere im ChiSao-Training ausgebildeten Fähigkeiten schnell Kontrolle (vom Haften zum Kleben = Manipulation) über die Situation gewinnen.
Falls doch etwas Abstand besteht, gehen unsere (nicht steifen!) Arme dem angreifenden Arm des Gegners entgegen, entweder um den anderen zu treffen oder um – im Falle, dass wir mit unserem Gegenangriff nicht durchkommen – zumindest Kontakt mit dem angreifenden Arm zu bekommen. Hier könnte man, was das Vorgehen unseres Armes betrifft, von „Reaktion“ sprechen. Aber da die Bewegung in immer gleicher und einfacher Weise geschehen kann, können wir uns die schnellstmögliche Reaktionszeit gutschreiben. Und weil wir im WT den Angriff nicht zur Seite oder nach oben oder unten wegzuschlagen versuchen, sondern dreidimensional keilförmig nach vorne stoßen, können wir auch nie durch gebrochenen Rhythmus oder Fintieren des Gegners dazu gebracht werden, uns bei der Abwehr zu öffnen.
Ein letztes Wort noch zur Wendung: Vor 25 Jahren unterrichtete ich auch, sich vom Angriff des Gegners völlig passiv wenden zu lassen. Bei völlig verriegeltem Körper führt das dazu, dass man sich in die Hand des Gegners begibt, der uns soweit dreht, wie es für seine Ziele gut ist. Im ungünstigsten Fall, bis wir ihm die Flanke oder den Rücken bieten, dass er uns packen, würgen oder werfen kann. Seit ich das erkannt habe, wende ich mich nur noch minimal und nur wenn ich es will, indem ich nur dann eine feste Verbindung zwischen seinem Arm, meinem Arm und meinem Restkörper erlaube, wenn es mir nutzt.
(ein Auszug aus meiner neuen vierbändigen Buchreihe „Kampflogik“)
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht