Wissenswertes

Der Kampf nach dem Kampf

Stelle dir bitte vor, du hast dich erfolgreich gegen einen Angreifer gewehrt und es ist dir körperlich nichts passiert. Du fühlst dich vielleicht etwas unwohl, weil du in einer nicht alltäglichen Situation Gewalt gegen einen anderen Menschen anwenden musstest. Welche Einflüsse wirken da auf dich und was passiert nach diesem Ereignis mit dir in psychischer, aber auch in einer möglichen juristischen Hinsicht?

Die Motivation eine Kampfkunst und insbesondere unser WingTsun zu betreiben, hat mehrere Gründe. Sei es als vernünftige und sinnvolle Freizeitgestaltung, Schulung des Körperbewusstseins und des Gleichgewichts, seien es nicht zuletzt die Angst oder Bedenken, sich in der heutigen Zeit einmal gegen Angreifer zur Wehr setzen zu müssen: Unsere Kampfkunst hat in allen Bereichen die passenden Antworten.

Das Training ist so konzipiert, dass wir die Großen 7 Fähigkeiten wie Achtsamkeit, Gewandtheit und Geschicklichkeit, Gleichgewicht, Körpereinheit, Wahrnehmung, Timing und Kampfgeist in verschiedenen Erfahrungsstufen entwickeln. Diese helfen uns letztendlich in Situationen, in denen wir bedroht und angegriffen werden, uns effektiv zu wehren und im schlimmsten Fall zu überleben. Die Blitzprogramme bieten uns die ersten Möglichkeiten, unsere Fähigkeiten auszubauen und im Kampf für uns zu nutzen.
Allerdings gibt es Gefahren, die erkannt und gemeistert werden müssen und die nach einem gewonnen Kampf nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Dies bedeutet, dass wir uns nicht nur physisch, sondern auch mental, moralisch auf Gewaltsituationen vorbereiten müssen bzw. im Unterricht durch unseren WT-Lehrer vorbereitet werden müssen.

Um die Situation zu verdeutlichen, folgender Sachverhalt:

Ein WT-Schüler, Herr X, befährt mit seinem Kleinwagen einen Parkplatz in einer südpfälzischen Innenstadt. Nach Entdecken einer Parklücke setzt er entsprechend den Blinker, um anderen Parkplatzsuchenden anzuzeigen, dass er diesen Parkplatz  nutzen möchte. Ein anderer Verkehrsteilnehmer, der 60-jährige Herr Y, fährt mit einem hämischen Grinsen seinen PKW in jene Parklücke, die Herr X nutzen will. Herr X steigt daraufhin aus seinem Fahrzeug aus und stellt den 60-Jährigen zur Rede: „Wieso nehmen Sie mir den Parkplatz weg? Sie sahen doch, dass ich den Blinker gesetzt habe.

Daraufhin äußert sich Herr Y sehr beleidigend und geht auf Herrn X mit ausgebreiteten Armen zu. Immer wieder mit den Worten: „Na, Rotzlöffel, was willst du jetzt machen? Hab‘ gefälligst Respekt vorm Alter und zisch‘ ab! Oder willst du eine auf die Glocke?

Der WT-Schüler erkennt, dass diese Angelegenheit nicht friedlich ausgehen wird. Zeit, um in seinen PKW zu steigen und wegzufahren, h nicht mehr. Also nimmt er seine Hände nach oben und stellt mit lauter Stimme klar, dass der ältere Mann stehen bleiben solle und dass er keinen Streit möchte.

Der 60-Jährige lässt sich davon nicht beeindrucken und fragt provokativ: „Willst du kämpfen? Ich bring‘ dir jetzt mal Manieren bei! Das haben dein Vater und deine Mutter wohl versäumt!“ Der WT-Schüler hält immer noch beide Hände, mit der Handfläche nach vorn zeigend, schützend nach oben und fordert den älteren Mann auf, stehen zu bleiben und die Aggressionen zu unterlassen. Mittlerweile beobachten umstehende Personen den Vorfall.

Der 60-Jährige ist nun so nahe, dass er unmittelbar vor dem WT-Schüler steht und im Begriff ist, einen Angriff gegen diesen zu starten. Die körperlichen Signale und die ausgesprochenen Worte des Älteren erwecken beim WT-Schüler den subjektiven Eindruck, Worte reichten hier zur Deeskalation nicht aus und er würde sich auch körperlich zur Wehr setzen müssen.

Aufgrund der Aggression des 60-Jährigen und der gesamten Umstände seines Verhaltens entschließt sich der WT-Schüler in dieser Chaossituation dazu, seinen Kontrahenten mit einem Fußtritt zum Schienbein zu stoppen und mit einem beidseitigen Handflächenstoß auf die Schultergelenke einen weiteren Angriff zu vereiteln. Dadurch verliert der Ältere das Gleichgewicht, stolpert und fällt zu Boden. Sofort nach der Handlung wird der WT-Schüler nochmals laut und teilt dem 60-Jährigen mit, dass er jetzt aufhören solle. Der ältere Herr hat offenbar diese Situation nun verstanden und rappelt sich auf, steigt in sein Fahrzeug und verlässt diesen Parkplatz. Der WT-Schüler parkt daraufhin seinen Kleinwagen in der Parklücke und geht im Supermarkt einkaufen. „Ich habe ja schließlich in Notwehr gehandelt und alles richtig gemacht“, so sind seine Gedanken.

Als der WT-Schüler den Einkauf beendet hat und sich zu seinem Fahrzeug begibt, steht dort bereits eine Polizeistreife und eröffnet ihm, dass sie seinen Personalausweis aufgrund einer Anzeige wegen Körperverletzung sehen möchten und dass er als Tatverdächtiger in Betracht komme. Der WT-Schüler versteht die Welt nicht mehr: „Ich habe doch in Notwehr gehandelt.

Dieser Sachverhalt zeigt, wie wichtig es ist, insbesondere die Achtsamkeit, nicht nur im Kämpferischen, zu trainieren. Du solltest so trainieren, dass du das Erlernte, vor allem in Bezug auf die Großen 7 Fähigkeiten, auf alle Bereiche alltäglicher und besonderer Lebenssituationen übertragen kannst. Als stellvertretender Schulleiter mehrerer EWTO-Schulen sehe ich mich verpflichtet, meinen Schülerinnen und Schülern beizubringen, wie sie einen Kampf nicht nur in physischer Hinsicht, sondern auch in psychischer und juristischer Hinsicht bestehen können. Dieses Phänomen könnte man als Kampf nach dem Kampf bezeichnen.

Folgende Maßnahmen solltest du in jedem Fall ergreifen, wenn du dich erfolgreich gegen einen Angreifer zur Wehr gesetzt hast, damit du letztendlich in jeglicher Hinsicht auf der sicheren Seite bist:

  1. Informiere immer die Polizei über den Notruf. Dieser wird dokumentiert!
  2. Nenne deinen Namen und Vornamen.
  3. Schildere den Sachverhalt.
    Zum Beispiel: Ich befinde mich an einem Parkplatz in … Ich wurde von einer mir unbekannten Person angegriffen. Ich musste mich wehren und daraufhin ist diese Person geflüchtet. Ich möchte eine Anzeige wegen einer versuchten Körperverletzung stellen.
  4. Warte bis ggf. die Polizei vor Ort ist und halte deine Personalien bereit. Es besteht auch die Möglichkeit der Polizei anzubieten, direkt auf der Dienststelle vorbeizukommen.
  5. Ist die Person, gegen die du dich gewehrt hast, vor Ort aufgrund einer Verletzung eventuell nicht ansprechbar, solltest du trotz der widrigen Umstände Erste Hilfe Maßnahmen treffen. Regungslose verletzte Personen auf keinen Fall einfach liegen lassen. Wenn du dich nicht um diese Person kümmerst, käme dies einer unterlassenen Hilfeleistung gleich. Wobei hier Hilfeleistung schon bedeuten kann, dass wenigstens der Rettungsdienst informiert wird. Unter Umständen müssen die Punkte 1. bis 4. nachrangig behandelt werden.

All diese Maßnahmen solltest du umgehend, am besten als Erster in die Wege leiten. Das verschafft dir für mögliche spätere rechtliche Konsequenzen die bessere Ausgangsposition.

Text: Thomas Schneider, 4. HG WT
         EWTO-Fachtrainer für Selbstverteidigung und Gewaltprävention
Fotos: fotolia – 149272866 und 150594311 | Urheber: Boggy; 166035157 | Urheber:
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PS: Welche rechtlichen Folgen das oben beschriebene Geschehen haben kann, werden wir in einem folgenden Interview mit dem Experten Thomas Schneider erläutern. Schneider ist seit 30 Jahren im Polizeidienst und hat derzeit die Amtsbezeichnung Polizeihauptkommissar bei der Bundespolizei. Seit 1991 unterrichtet er im Rahmen des Einsatztrainings und seit 2010 im Rahmen des Polizeitrainings Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte zum Thema Eigensicherung sowie Sicherungs- und Vollzugstechniken mit den entsprechenden rechtlichen Grundlagen. Außerdem ist er im Rahmen der polizeilichen Kriminalprävention als Fachtrainer für Zivilcourage und Jugendgewaltprävention tätig.