Wir lernen zu kämpfen, um es nicht zu müssen.
Nun, das war schon sehr früh, als Kind, denn mein Vater unterstützte mich darin. Ich liebte Tiere, altes Latein, griechische Klassiker und philosophische Gespräche. Ich kletterte auf hohe norddeutsche Pappeln und lauschte dort oben stundenlang dem Rauschen der Blätter, wobei ich in die Ferne guckte. Ich lernte schon früh, dass es nicht nur die Schwerkraft gibt, die uns nach unten zieht, sondern dass alles Lebende auch einen Drang nach oben kennt, um sich zu höher entwickeln. Ideale waren mir wichtiger als materielle Dinge. Später war ich dann vom Leben, vom Studium, vom Beruf, vom Anhäufen von Ansehen, Macht, Titeln, Wissen und Statussymbolen und nicht zuletzt von der Verbandspolitik so sehr in Beschlag genommen, dass ich ganz darin aufging und nur noch von mir nach außen sah. Das änderte sich erst viel später, allmählich, aber stetig. Es begann mit äußeren Dingen, zuerst mit meinem eigenen Körper: mir gefielen die großen Muskelmassen nicht mehr, die ich früher so erstrebenswert gefunden hatte. Als ich fast 25 kg „abgeworfen" hatte, fühlte ich mich mir selbst irgendwie näher. Ich hatte wohl dumpf empfunden, dass ich nicht mein Körper war, und ich begann, ihn nur als Werkzeug zu benutzten wie meine Augen, aus denen ich die äußere Welt wahrnahm. Ich begann mehr Gemüse und Obst zu essen, wenn ich einen Apfel aß, bemühte ich mich an den Baum zu denken. Und wenn es unbedingt Fisch oder (seltener) Fleisch sein musste, versuchte ich mir dessen bewusst und dem Tier dankbar zu sein. Meine Interessen verfeinerten sich, mein Geschmack veränderte sich. Wegwerfprodukte und kurzlebige Dinge und Modeerscheinungen wollte ich nicht länger um mich haben, mein Sinn richtete sich auf alte Dinge, auf Klassisches, das sich schon bewährt hat. Ich erfreute mich an natürlichen Dingen, an Echtem, an einer alten Uhr, einem alten Auto und alten Büchern. Ich war auf der Suche nach dem, was die Zeit überdauert. Nach dem Sicheren, was nicht so schnell vergeht. Dann halfen mir Schicksalsschläge, bedrohliche Krankheiten, Enttäuschungen, geschäftliche und private Rückschläge, eigenes Versagen, indem sie mir nötige Schocks gaben, die mich aufweckten und immer wieder Alarmzeichen gaben, wenn ich auf dem falschen Weg war. Ich begann das wirklich Wichtige und immer Gültige im Leben zu suchen und mein Versagen zu begrüßen als Hilfe zum künftigen Erfolg. Ich erkannte die Bedeutung bewussten Leidens, um neue Energie zu gewinnen, und setzte mich freiwillig den oft unangenehmen Manifestationen anderer Menschen aus, um meine Geduld zu erproben und Bescheidenheit zu üben, denn ich bin nicht frei von Hochmut, Eigenliebe und Eitelkeit. Meine Einstellungen änderten sich und meine Sichtweise. Nicht länger erlaubte ich es allen negativen Einflüssen, Klatsch, Zeitungsberichten, Fernsehsendungen zu mir einzudringen. Ich versuchte, den Dingen etwas abzugewinnen, die ich vorher verabscheute, und meine alten Vorlieben misstrauisch zu betrachten. Ich begann die Dinge anders zu sehen und mich zu beobachten. Ich lernte Kernspecht wie ein exotisches Tier zu studieren und war besonders froh, wenn es mir glückte, ihn dabei zu erwischen, wenn er wütend und erregt war. Das führte sofort zu einer Änderung und Deeskalation, weil ich mich selbst als lächerlich empfand! Eine harte Schutzschale nach der anderen platzte bei mir auf, und je besser ich mich selbst verstand, desto leichter konnte ich anderen ihre Fehler verzeihen. Wir sind alle von dem absorbiert, was wir in der Welt darstellen, was wir glauben und für richtig halten. Unsere äußeren Sinne machen uns etwas vor und wir sind gefesselt und hypnotisiert vom äußeren Leben, das wir für das einzig wahre halten. Erst nach langer Arbeit an mir selbst schaffe ich es jetzt immer öfter, meine Aufmerksamkeit ganz im Sinne des WingTsun zu teilen und nicht völlig in dem Gegenstand meines Interesses aufzugehen. Das bedeutet, dass mir die Dinge dann gleich(ermaßen) gültig sind, aber nicht, dass ich „gleichgültig" geworden bin.
Natürlich gibt es oft Rückschläge und Phasen des Rückschrittes, besonders wenn die Verbandspolitik mich in ihrem Bann hat, so dass ich es nicht schaffe, mein psychisches Gleich-Gewicht zu bewahren und mich daran zu erinnern, dass ich noch außerhalb meiner Rolle als Verbandsleiter existiere. Früher machte ich mich lustig über ehemalige Kämpfer wie Ueshiba (Aikido), die von Kämpfern zu Liebenden wurden. Jetzt habe ich verstanden, dass der Starke friedvoll und gütig ist. Wir lernen zu kämpfen, um es nicht zu müssen! Nur in der 1. Ebene des WingTsun üben wir den körperlichen Kampf gegen einen anderen. In der 2. Ebene wenden wir die erlernten Prinzipien im täglichen Leben an, um uns in der Welt durchzusetzen. Und in der 3. Ebene bekämpfen wir unser aufgeblähtes Ego, um uns selbst zu besiegen, quasi noch mal neu geboren und ein neuer Mensch zu werden. Hier fangen wir noch einmal ganz von vorne an, indem wir angelernte und falsche Dinge, die uns in der 1. und 2. Ebene so wichtig waren, aufgeben, aber andere, die wir im Räderwerk des Lebens, im Drang nach „Gib mir mehr", vergaßen, in den Vordergrund bringen und zur Geltung kommen lassen. Die 3. Ebene des WingTsun ist praktisch unsere Abendschulausbildung, wir kehren noch mal zurück zur Schulbank, nachdem wir im Leben schon etwas erreicht haben, schon etwas darstellen, schon jemand sind. Wer noch nichts erreicht hat, sich im Leben noch nicht bewährt hat, seine Wünsche noch nicht erfüllt hat, ist noch nicht reif für diese zweite Ausbildung, die uns Weisheit lehrt. Weisheit, die nichts mit Tricks, Strategien und Cleverness gegen andere zu tun hat (2. Ebene), aber viel mit Tricks, Strategien und Cleverness gegen alles Falsche in UNS selbst. In diesem Sinne ist die 3. Ebene des WingTsun ebenso genial und durchdacht wie die erste und die zweite. Wahre Weisheit, wie ich sie verstehe, entsteht nur aus Liebe, aus Mitgefühl für seine Mitmenschen und die ganze belebte Natur. Und in Wirklichkeit gibt es nichts, was unbelebt ist. Nachsicht, Rücksicht und Verständnis erwachsen dann aus dem Wissen heraus, dass andere Menschen gar nicht anders handeln können, als ihre jeweilige Entwicklungsstufe es zulässt. Wer noch von Gedanken an Rache besessen ist oder von der Vorstellung beherrscht wird, dass andere ihm etwas schulden, hat noch viel zu lernen. Denn niemand schuldet uns etwas, wir selbst sind Schuldner. Wer an sich arbeitet, indem er sich zunächst selbst beobachtet, erkennt dieselben Schwächen im anderen wieder und hat keine Schwierigkeiten, ihm das nachzusehen. Jeder hat seine Last zu tragen und seine Lektionen zu lernen. Deshalb darf niemand den anderen selbstgerecht und hochmütig verurteilen, weil er glaubt, selbst schon auf einer höheren Entwicklungsstufe zu stehen. Das Gefühl der (tatsächlichen oder scheinbaren) Überlegenheit ist oft der Grund für gewalttätige Aggressionen. Wir sollten aufhören, uns wichtig zu nehmen, andere zu kritisieren (wenn es nicht die sind, die uns als ihren Lehrer behandeln), uns mit anderen zu vergleichen und uns für etwas Besonderes oder Besseres als unsere Mitmenschen zu halten. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen uns nur marginal und sehr oberflächlich. Denn wir reagieren alle in mechanischer Weise unseren äußeren Sinnen glaubend auf die Hypnosekraft des äußeren Lebens. Wer im geheimen glaubt oder gar offen davon spricht, dass er in spiritueller Hinsicht, also in seiner Innensicht, „weiter" sei als andere, offenbart damit (sich selbst) seine eigene Armut und zeigt seinen Rückschritt. Und niemand sollte auf andere, die sich „für solche Dinge" (noch) nicht interessieren, herabsehen oder sich deshalb für besser oder mehr wert halten oder ihnen Gespräche darüber aufzwingen. Wer so handelt, sollte sich selbstkritisch fragen, ob er wirklich an sich arbeitet oder es sich nur einbildet und ob das Thema Spiritualität nur ein weiteres Mittel für ihn ist, seine falsche und selbsterfundene Persönlichkeit zu stärken. Ob ich mich einer bestimmten Religionsgemeinschaft zugehörig fühle? Ich studiere und respektiere viele Glaubensrichtungen und deren Propheten, wobei mir manche Religionen (Wege) einen leichteren Einstieg bieten, also mehr „liegen" als andere. Aber der tiefste Grund aller Religionen muss meinem Verständnis nach aus d e r s e l b e n Wahrheit bestehen. Sonst kann es nicht d i e Wahrheit sein. Die verschiedenen Religionen bieten nur verschiedene Zugänge zu dieser e i n e n Wahrheit und drücken sie auf verschiedene Weise aus. Außerdem geben sie ihren Anhängern, also denen, die diesem Weg folgen, simplifizierte Beschreibungen der Strecke und der Regeln, die auch von einfachen Menschen verstanden und befolgt werden können. Alle wahren Religionen leben in d e m s e l b e n Haus, aber da ihre Gläubigen aus verschiedenen Fenstern herausschauen und einen anderen Blickwinkel haben, sind sie sich dessen leider nicht bewusst.
Keith R. Kernspecht
P.S.: Ich betone, dass es sich hierbei nur um meine eigene, persönliche, in vielen Jahren gewachsene Auffassung handelt. Keinesfalls will ich jemand meine Meinung aufdrängen oder seine religiösen Überzeugungen verletzen. Ich möchte nur Denkanstöße geben und vor jeglichem Fanatismus und Sektiererei warnen, denn alle Wege führen am Ende zu Gott, unter welchem Namen wir ihn auch verehren.
Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.