Editorial

Wie befreit man sich von seiner eigenen Kraft?

Der Mensch wird frei geboren,
aber er liegt überall in Ketten.
Jean-Jacques Rousseau

Wer befehlen will, muss erst sich selbst gehorchen lernen; wer seine eigene Kraft einsetzen will, muss erst lernen, wie er sich von seiner eigenen Kraft befreit. Denn nur wer sich vor seiner eigenen Kraft befreien kann, kann sich von fremden Kräften freimachen.
Alles beginnt bei uns selbst, und es beginnt mit dem kleinsten Schritt, der uns fast unwichtig erscheint. Sich von der eigenen Kraft befreien, nennt man Entspannung. Nun ist es schwer, jemand Entspannung zu lehren, indem man ihm sagt: „Entspann dich!" Das Gegenteil, nämlich alle Muskeln anzuspannen, erlernt sich schneller.
Richtige Entspannung beginnt mit den kleinen Muskeln, mit der Gesichtsmuskulatur, mit den Muskeln der Finger und der Zehen. Solang die Muskeln um Ihren Mund, um Ihre Augen und Ihr Augenmuskel selbst angespannt sind, müssen alle Versuche einer effektiven Entspannung scheitern. Wenn ich einen angestrengten Blick und verspannte Kiefern bemerke, weiß ich, dass die Person Gefangener ihrer eigenen sinnlos angespannten Muskeln ist. Unser modernes Leben mit seiner rastlosen Hektik produziert ständig Spannungen in unserer Muskulatur, besorgten Gesichtsausdruck und damit eine ungeheure Energieverschwendung. Energie, die wir dringend nötig haben, um wachsam und bewusst zu leben.
Wenn jemand permanent Benzin verliert, dann kann er an jeder Tankstelle nachtanken oder er kann die Löcher im Benzintank schließen, durch die unaufhaltsam Treibstoff entweicht. Neue Energien zu gewinnen ist ein schwieriger Vorgang, leichter ist es zunächst alle Lecks zu schließen. Durch verspannte Muskeln und durch negative Emotionen (darüber sprechen wir später) verlieren wir mehr Energie, als wir bestenfalls dazu gewinnen könnten.
Wer niedergeschlagen und ängstlich ist, wird auch äußerlich eine entsprechende Haltung und einen entsprechenden Gesichtsausdruck zeigen, denn die über hundert kleinen Gesichtsmuskeln spiegeln den Gemütszustand, die Emotionen am besten wider.
Nun bestimmt das Innere das Äußere, aber auch das Äußere das Innere. Ändern Sie Ihren Gesichtsausdruck und Ihre Körperhaltung. Gehen Ihre Mundwinkel wieder hoch, glätten sich Ihre Stirnfalten, lockert sich Ihr Kiefer und entspannen sich Ihre Hände, dann muss sich auch zwangsläufig Ihr Denken und Ihr negativer Gemütszustand zum Positiven verändern.
Wer bemerkt, dass er leicht geballte Fäuste und angespannte Kiefernmuskeln hat, der kann sein emotionales Stadium, z.B. Vorgereiztheit, rechtzeitig erkennen und damit die Eskalation zur großen Katastrophe verhindern. Haben Sie einmal beobachtet, wie sich Ihre beginnende Aggressivität in bestimmten Verspannungen, in einem bestimmten Gesichtsausdruck und in bestimmten Körperhaltungen ausdrückt? Wohl kaum, denn gerade in solchen Krisensituationen vergessen wir uns leider völlig und gehen restlos in dem betreffenden seelischen Zustand auf, mit dem wir uns identifizieren. Wir werden selbst zur Wut, zum Neid, zur verletzten Gerechtigkeit und haben aufgehört noch außerhalb dieses negativen und unnützen Empfindens zu existieren. Wir sind untrennbar eins geworden mit unserer negativen Emotion, so dass wir keinen Abstand gewinnen können und uns nicht beobachten können. Wir sagen zu der negativen Gemütsbewegung, zu Hass, Eifersucht, Neid „Ich“ und sind rettungslos ihr Gefangener geworden. Wir können uns von der Emotion nicht befreien und auch nicht von der Muskelverspannung, die damit einher geht.
Seien Sie aufmerksam, solange es noch nicht zu spät ist, erkennen Sie den Zustand der Vorgereiztheit an den sich verspannenden Muskeln, die dabei sind, einen steifen (oder dicken) Hals zu bilden.
Gehen Sie gewohnheitsmäßig in bestimmter Reihenfolge alle Muskeln Ihres Körpers durch und entspannen Sie sie nacheinander. Fangen Sie mit den Muskeln um die Augen an, entspannen Sie auch die Muskeln um die Nase, die Ihnen diesen verächtlichen, hochmütigen Ausdruck geben; dann machen Sie sich bitte den Spannungszustand der Muskeln um Mund und Kinn bewusst, dann sind die vorne am Hals und die am Genick und Hinterkopf dran, die Ihnen den verspannten („dicken“) Hals geben. Heben Sie zum Checken die Schultern hoch und lassen Sie sie dann fallen, damit Sie wissen, dass Sie wirklich unten sind. Dann geht es von den Schultern über die Arme bis in die Hände. In dieser Weise arbeiten Sie sich über die großen Muskeln bis zu den kleinen Zehenmuskeln runter. Natürlich nimmt das Zeit in Anspruch, aber es lohnt sich. Wenn Sie nur wenig Zeit haben, machen Sie die große Tour durch den ganzen Körper nur einmal pro Woche. Dann muss es genügen, wenn Sie pro Tag nur die Muskeln entspannen, die bei Ihnen gewohnheitsmäßig verspannt sind. Die Gesichtsmuskeln und Schultern und auch die Hangelenke spielen dabei meistens Schlüsselrollen. Negative Emotionen (Hass, Neid, Eifersucht, Misstrauen usw) resultieren u.a. in angespannten (Gesichts- und Glieder-) Muskeln. Angenehme Emotionen entspannen und öffnen. Meist bewirkt die Emotion die Körperhaltung, aber auch eine verkrampfte Körperhaltung kann die Ursache einer negativen Emotion sein. Vergessen Sie nie, dass bestimmte verkrampfte Körperhaltungen eine bestimmte ebenso starre geistige Haltung, unflexibles Denken und negative Emotionen hervorrufen: Innen wie außen und außen wie innen. Alles ist miteinander verbunden. Die Trennung von Gemütszustand und Körperzustand gibt es nur in unserem Denken. Andererseits können Sie über bestimmte befreiende Körperhaltungen (die sich u.a. in unseren Formen, besonders dem WT-ChiKung finden), über das Stammhirn auf Ihr Bewusstsein einwirken und es verändern. Achten Sie z.B. einen Tag „bewusst" darauf, nicht Ihre Stirn missbilligend zu runzeln, dann werden auch alle Ihre missbilligenden Gedanken verschwinden! Wir sind Gefangene unserer angewöhnten und von Eltern usw, abgeguckten Körperhaltungen, diese bestimmen u.a. auf mechanische Weise unsere Emotionen. Gelingt es Ihnen, Ihre Körperhaltungen wahrzunehmen und die zu ändern, dann wird sich Ihr Denken und Ihr ganzes Wesen auch ändern. Aber es ist schwer, sich daran zu erinnern und nicht in die alten Haltungen zurückzufallen, wenn das hektische „Leben“ uns hypnotisiert, einschläfert, in seinen Bann zieht und zu Maschinenmenschen macht. Das mit sich machen zu lassen, sich entmenschlichen zu lassen und den Dingen zu erlauben, uns zu roboterisieren, das ist vielleicht die eigentliche „Sünde“ (hamartano), die Ver-Fehlung, von der in den Evangelien und Gleichnissen Jesu die Rede ist, hier ist „Buße tun“ (metanoia*), was eigentlich „neu überdenken“ und „anders denken“ heißt, nötig, wenn man ein neuer Mensch werden will.
Dies ist die wahre Bedeutung von „Wiedergeburt“: sich verändern und bewusst werden. Der unbewusste Mensch muss psychologisch (nicht wirklich körperlich) „sterben“, damit der bewusste geboren werden kann. Denn ein bewusster Mensch, d.h. ein neuer Mensch kann nicht gewalttätig sein und böse sein. Gewalt entsteht durch unbewusst und mechanisch sein. Bewusstes Bösesein, Gewalttätigsein ist eigentlich nicht möglich. Auch Verbrecher nehmen sich nicht selbst als böse wahr, sie glauben, im Recht zu sein ...
Legen Sie besondere Beachtung auf das Entspannen der Handgelenk- und Fingermuskeln, vor allem, wenn Sie in Zeitnot sind. Wenn Ihre Hände, Ihre Finger, bis in den Daumen entspannt sind, wird es Ihnen schwer fallen, gewalttätig zu sein. Konzentrieren Sie als Übung Ihr Bewusstsein in Ihren rechten Daumen, danach in den linken.

 

Keith R. Kernspecht
(der sich gerade von 4 kg befreit hat und nun nur noch 77 wiegt)

Vorabdruck aus einem Buch, an dem Dr. Kernspecht seit mehreren Jahren arbeitet und das den Arbeitstitel trägt: „Fragmente einer Inneren Selbst-Verteidigung"

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.