Was wir vom Sport lernen können
Unsere Unterrichtserfahrung speist sich oftmals aus dem Unterricht bei unserem eigenen WT-Lehrer bzw. unserer WT-Lehrerin sowie unserer Rolle als Ausbilder/in. In der Regel unterrichtet man genauso, wie man es beim eigenen Si-Fu (bzw. Si-Je oder Si-Hing) erlebt hat. Manchmal werden andere WT-Ausbilder/innen zu Rate gezogen. Dann gibt es Anstöße (WTW-Artikel) und Schulungen (Übungsleiterseminare) von der EWTO. Die gewonnen Erkenntnisse werden später aber selten vertieft. Das wäre aber wichtig; denn wir legen schließlich Wert darauf, in unserem Unterricht individuell auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Männer wie Frauen, einzugehen und erfolgreich WingTsun zu vermitteln. Nicht immer ist das didaktische Handwerkszeug, das unseren Unterricht begleitet, für alle Situationen erfolgreich. Es kann auch mal „Problemschüler“ und „Schülerprobleme“ geben, mit denen wir weniger gut klar kommen. Zudem tauchen „ungünstige“ Partner- und Gruppenkonstellationen auf, die wir so noch nicht erfahren haben. Vielleicht liegt das an unserem eigenen Selbstverständnis als WTler/innen.
„Über die Selbst- und Fremdeinschätzung des Sportlehrers“, so der Sportwissenschaftler Stefan Größing, „ist aus den wenigen Erhebungen zu erschließen, dass Sportlehrer aus Neigung zum Sport und aus pädagogischen Motiven den Beruf ergreifen und diese Berufsentscheidung häufig schon in frühen Lebensjahren getroffen wird. Die eigene sportliche Sozialisation, die durch Familie, Verein und Schule ausgesprochen sportfreundlich verläuft, schafft eine Einstellung, die dem Sportlehrer ein Verstehen und sachgemäßes Beurteilen der unmotivierten und leistungsschwachen Schüler erschwert.“
Das Buch, aus dem dieses Zitat stammt, soll im Folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich um Stefan Größings „Einführung in die Sportdidaktik“, einem Nachschlagewerk aus der Sportwissenschaft. Darin wird Sport als Summe verschiedener Handlungsformen verstanden: Explorieren, Lehren und Lernen, Üben, Trainieren, Darstellen und Vergleichen, Spielen, Sprechen; ferner: Programmieren und Inszenieren. Größing stellt u.a. ein Modell vor, das einen „mehrperspektivischen Sportunterricht“ mit unterschiedlichen „Sinnrichtungen des Sporttreibens“ beschreibt. Dazu gehören Leistung, Spannung, Miteinander, Gesundheit, Körpererfahrung und Ausdruck. Durch sie erfährt der Sportübende Handlungsfähigkeit. Das führt idealerweise dazu, dass sie/er den Sinn von Sport versteht, ihn organisiert und in das Lebenskonzept integriert.
In seinem Nachschlagewerk geht der Autor detailliert auf die anthropologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, die auch die phasenhafte Entwicklung im Kindes- und Jugendalter berücksichtigt sowie das Lehrerhandeln (mit unterschiedlichen Führungsstilen) und die Selbsteinschätzung des Unterrichtenden beinhaltet. Spannend wird dieses Nachschlagewerk bei der Vorstellung unterschiedlicher Konzepte wie dem sensomotorischen, kognitiven und dem sozialen Lernen. „Je komplexer und schwieriger eine motorische Fähigkeit ist“, so der Autor, „desto kürzer fallen die Übungsintervalle aus, damit das Gelernte behalten werden kann. Die Differenzierung nach Übungsarten bedeutet die Veränderung bei gleich bleibendem Übungsinhalt durch situative, räumliche oder gegenständliche Gegebenheiten. In der Methodik spricht man von Übungsveränderungen, -verbindungen und -steigerungen.“ Erinnert das alles nicht an den WT-Unterricht, wie wir ihn kennen? Auch auf die Frage, ob wir nun üben oder trainieren, wird in diesem Buch beantwortet. Danach dient Übung „vorwiegend als Mittel der Verbesserung der Bewegungsstruktur, Training dagegen vorwiegend als Mittel zur Verbesserung der physischen Leistungsfaktoren Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Beweglichkeit.“
Nicht zuletzt deshalb sind WT-Ausbilder/innen keine Trainer/innen, sondern Lehrer/innen bzw. Assistenzlehrer/innen. Denn das müssen wir schon deshalb sein, weil wir im Bezug auf WT über eine komplexere und geübtere Bewegungsstruktur verfügen sollten, als unsere Schülerinnen und Schüler. Das will heißen, wir müssen WT-„technisch“ überlegen sein, dass sie von uns etwas lernen können. Von einem Trainer bzw. einer Trainerin hingegen kann man nur Methoden lernen, schneller, ausdauernder, beweglicher oder stärker zu werden. Doch während der Sportlehrer (in seinem Fach) mehr wissen muss als seine Schüler, müssen wir mehr (WT) können, als diejenigen, die wir unterrichten. Aber mehr wissen schadet uns auch nicht; insbesondere, um einen noch besseren Unterricht durchzuführen.
Der findet nicht in der staatlichen, sondern in der WT-Schule statt. Unsere Schülerinnen und Schüler kommen (wenn es keine Kooperationen mit Schulen sind) aus eigenem Antrieb zu uns. Wegen dieser Motivation entstehen weniger Probleme mit ihnen. Eher kann man von „Verständigungsschwierigkeiten“ oder von motorischen/koordinativen Problemen sprechen. Dafür geht das Buch auf Unterrichtsmethoden und Lernhilfen ein. Es enthält ein umfangreiches Programm, wie Bewegungen vermittelt werden; eben im schulischen Sportunterricht.
WingTsun ist zwar kein Sport, sondern eine Kampfkunst. Aber auch die Sportwissenschaft verändert sich in eine Richtung, die über die Wettkampf- und Leistungsspirale hinausgeht. Aspekte der Gesundheit, des sozialen Lernens und der Selbstverwirklichung spielen eine stärkere Rolle. Demzufolge ändern sich auch Lerntheorien und didaktische Methoden.
Auch wenn langjährige Unterrichts-, WT- und auch Lebenserfahrung Gold wert ist, so können wir als Kampfkünstler/innen manches von der Sportdidaktik lernen; nachzulesen bei Stefan Größing.
Text: Sifu Oliver C. Pfannenstiel
Abbildung vom Buch
Stefan Größing: Einführung in die Sportdidaktik; Limpert Verlag, 9. überarb. und erw. Aufl. 2007; 280 Seiten, 38 Abb., kart., Preis: 24,95 Euro