Von der Unmöglichkeit, etwas herauszugeben, wenn der andere noch kein Gefäß dafür hat.
Aber tatsächlich sind das nur (zugegeben interessante und hilfreiche) Ãußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten wie die Haltung des Daumens beim Fook-Sao.
Großmeister Leung Ting zeichnete diesen Sommer den Tutorial-Teilnehmern in Italien und in Deutschland das Bild eines Wolfes auf die Tafel, der sich das Fell eines Schafes überzieht. „So ist WT“, erklärte er das wohl faszinierendste „Geheimnis“ unseres Systems, „wir haben nur ein Konzept, Prinzipien, Mottos, an das wir uns halten, das ist der Wolf. Darüber können wir das Fell jedes anderen Tieres ziehen.“ Dann ließ er sich von einem Techniker mit WT-Techniken angreifen und wehrte mit Shaolin-,Tai Chi-, Gottesanbeter- oder Thai Box-Techniken ab und besiegte den WingTsun-Techniker. Obwohl die Techniken, die er einsetzte, typische Techniken der anderen Stile waren, hatte er seine WT-Angreifer mit WT besiegt, denn der Wolf, über den er das fremde Fell (Shaolin, Tai Chi usw) gezogen hatte, war das WT-Konzept. Mit dem Konzept hatte er gewonnen, das äußere Erscheinungsbild war eher unwichtig. „Nehmt Details und oberflächliche Kleinigkeiten nicht so wichtig, achtet nicht auf die Tasse, aus der ich trinke, sondern darauf, ob es mir schmeckt. Verliert das Ziel nicht aus den Augen. Manche können den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, soviele Geheimnisse geheimnissen sie in das WT hinein. Dabei ist WT so einfach und sie machen es unnötig kompliziert.“
Genau das ist das Problem. Auf Lehrgängen wird GM Leung Ting immmer wieder nach Einzelheiten gefragt, ob er beim Vorwärtsschritt aus dem IRAS zuerst den Fuß eindreht, wo seine Armbeuge beim Fauststoß hinzeigt, nach oben oder zur Seite. Und je mehr Fragen dieser oberflächlichen Art die Teilnehmer stellen, desto mehr widersprüchliche Antworten scheinen sie zu bekommen. Über viele dieser unnötigen Fragen hat GM Leung Ting nie vorher nachgedacht, aber jetzt muss er dem Fragesteller eine Antwort geben, was er auch tut. Er gibt aber keine allgemeingültige Standardantwort, sondern eine pädagogische, psychologische oder gar philosophische Antwort, die oft nur für diesen Fragesteller und nur für dessen spezifische Situation gilt. Wenn ein anderer am nächsten Tag unter leicht veränderten Bedingungen die scheinbar gleiche Frage stellen würde, bekäme er eine vielleicht entgegengesetzte Antwort. Darin liegt nicht wirklich ein Widerspruch, denn die Antwort des Meisters gilt nur dem Fragenden zur Lösung seines eigenen Problems. Vielleicht braucht der Fragende eher Ermutigung als einen technischen Rat und erhält deshalb eine völlig untechnische Antwort. WT, das sind nicht wirklich die Bewegungen, wie uns die Parabel mit dem Fell des Schafes gezeigt hat. Die Techniken könnten sogar aus dem Karate oder Ju-Jitsu stammen (wenn sie den ökonomisch genug wären), WT ist das Betriebssystem, unser Körper die Hardware und die Bewegungen die Software.
„Die einzige Geheimtechnik im WT,“ pflegt Sifu Leung Ting zu sagen, „ist die, die man nicht übt, denn sie wird uns immer ein Geheimnis bleiben.“ Wer unbeirrt übt und an sich arbeitet, wird jedesmal mehr verstehen. Was du heute noch nicht verstehst, nicht einmal als Problem wahrnimmst, das kannst du nächstes Jahr dunkel erkennen und bald sogar als Frage formulieren. Aber nur, wenn du in der Zwischenzeit fleißig trainiert hast. Tatsächlich hast du selbst die Voraussetzungen geschaffen, um neue Einflüsse aufzunehmen, du hast nicht gewartet, bis dir die gebratenenTauben in den Mund fliegen. Nun kannst du weiter „eingeweiht“ werden.
Du meinst, das Wissen „werde geheimgehalten“, tatsächlich ist es aber so, dass Unvorbereitete es nicht verstehen können, denn sie haben ihren Boden noch nicht auf den Samen vorbereitet, sie haben nicht genug ge„ackert“.
Was viele „geheimhalten“ nennen, ist in Wirklichkeit die Unmöglichkeit, etwas herzugeben, wenn der andere noch kein Gefäß entwickelt hat, um es aufzunehmen. Dies mag Sigung Leung Ting meinen, wenn er in seinem neuen Siu-Nim-Tao-Buch nicht nur im physischen, sondern auf philosophischen Sinne von „containable“ (aufnahmefähig) spricht.
Als ich vor 28 Jahren begann von GM Leung Ting zu lernen, machte er es mir nicht so leicht, wie es die Schüler in der heutigen, schnellen Zeit des Instant-Dies und Instant-Das haben. Er erklärte mir nichts, ich musste mir alles selbst erschließen, ihn beobachten oder Techniken von ihm oder seinen Assistenten mit den Augen stehlen. Es gab keine Bücher oder Poster mit den Formen, und die Sektionen waren noch nicht alle entwickelt. Ich wusste nicht, wo die Reise hinging, denn der große Fahrplan wurde damals nicht erklärt. Sobald ich etwas nach großer Anstrengung verstanden hatte, sobald ich etwas mit Mühe abwehren konnte, wurde diese Übung fallen gelassen und durch etwas ganz Anderes ersetzt, vor dem ich wie vor einem riesigen neuen Berg stand. Oft kamen wir auf das alte Thema erst Monate später zurück. All das zwang mich zum selber Nachdenken, zum Weiterdenken von dem, was er mich gelehrt hatte. Er hatte einen Impuls gesetzt und ich marschierte los.
Oft verrannte ich mich, was ich erst merkte, wenn er bei meinen Schülern meine Fehler korrigierte. Dann wechselte ich schnell meinen Kurs. Schnelle Anpassungsfähigkeit an neue Situationen ist die wichtigste nötige Fähigkeit im WingTsun ...
Wenn mein Si-Fu die Fragen seiner Zuhörer mit weitschweifigen, oft groben und scheinbar weit hergeholten Gleichnissen oder gar Zoten beantwortet, dann gewiss nicht, um sie zu ärgern oder gar in die Irre zu führen. Vielmehr will er sie aufwecken, wie mit einem Stockschlag. Die Wahrheit hinter dem höchsten WingTsun, insbesondere die 3. Schicht, bei der es um Selbsterkenntnis geht, ist nicht auf ausgetretenen Wegen zugänglich, nur eine symbolhafte und gleichnisartige Sprache kann eine Veränderung im Denken bewirken. Nicht ohne Grund werden im Neuen Testament Laien nur in Gleichnissen angesprochen, nur die eingeschworene esoterische Gemeinschaft der Jünger kann die pure Lehre ertragen und verstehen, aber letztlich nicht einmal die.
Wie im Konfuzianismus nur eine Ecke zu zeigen und aufzuhören weiter zu unterrichten, wenn der Schüler nicht die anderen findet, nur das ist wahre Hilfe, denn deutliches Erklären, Vorkauen ist nur scheinbar ein Vorteil für den Schüler, denn es schläfert ihn ein.
Es dem Suchenden „leicht zu machen“ und ihm etwas schnell zu erklären, bevor der dafür bereit ist, ist eher kontraproduktiv. Zumindest langfristig gesehen. Das Gleiche gilt auch für Konzepte. Jemand ein fertiges Gedankengebäude vorzusetzen, das der Verstand sofort assimilieren kann, bedeutet den anderen zu berauben. Denn der Verstand sagt jetzt „kapiert“ und lehnt sich faul zurück, ohne dass er durch eigene Arbeit wächst und echtes Verständnis gewinnt. Indem der Meister durch widersprüchliche Antworten einen inneren Konflikt im Schüler erzeugt, der zwischen Bejahung und Verneinung schwankt, stoppt er das “intellektuelle“ Denken und beteiligt das Gefühl, das immer vor dem Denken kommt. Die Wahrheit ist den Menschen immer nur in „Flashes“, in flüchtigen Eingebungen und Eindrücken offenbart worden, denn er könnte sie sonst nicht verkraften, das Licht wäre zu stark. Und selbst ein flüchtiges Aufblitzen der Wahrheit hat eine dynamische Kraft, die den Keim der Verwirrung in sich birgt. Wie oft blickt jemand einen kleinen Aspekt der Wahrheit und weil schon dieser winzige Teil so wunderbar ist, glaubt er ALLES gesehen zu haben. Denn dieses Winzige verleiht uns oft schon soviel Kraft und Überlegenheit, dass wir verführt sind, zu glauben, dass es schon die ganze Wahrheit ist. Und oft haben wir damit nicht ganz unrecht, denn auch im kleinsten Teil muss das Ganze irgendwie vorhanden sein. Dennoch können wir mit unserer menschlichen Intelligenz nicht von einem kleinen Teil aufs Ganze schließen, ich schreibe das jetzt, weil ich weiß, was noch alles vor euch liegt. Der Blinde, der ein Bein eines Elefanten tastet, könnte auf diese Weise auch zu der Vermutung kommen, dass dieses Tier wie eine Säule geformt ist. Wer aber seinen Rüssel anfasst, könnte ein Wesen wie eine Schlange vermuten.
Wir mögen aus der Kenntnis der Beschaffenheit von ein und zwei und drei Dimensionen auf die Eigenschaften der 4. Dimension schließen, aber sie ist uns trotzdem ein Mysterium und nicht einmal vorstellbar. Auf das Ganze kann man am Ende nur vom Ganzen her kommen.
Wer durch einen Glücksumstand oder weil General Kwan ihn verderben will, einen einzigen tiefen, aber kurzen Blick auf das System werfen kann, der glaubt, überwältigt von der offenbarten Genialität die ganze „Wahrheit“ gesehen und verstanden zu haben. Denn mehr kann es nicht geben! Tatsächlich würde er bei tieferem Eindringen in die Materie Widersprüche entdecken, die ihn zu weiteren Studien motivieren. Er würde auch nicht mehr im Brustton der Überzeugung zu behaupten wagen: „So, und nicht anders macht man das!“ Strenggenommen gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern nur bessere oder schlechtere Interpretationen des WT-Konzeptes. Selbst wenn GM Leung Ting „falsch!“ ruft und alles zusammenzuckt, als ob eine Todsünde begangen worden sei, meint er nur, dass die Bewegung ökonomischer, mit weniger Kraftaufwand oder weniger umständlich gemacht werden kann. So was wie eine für alle Zeiten und alle Situationen feste Vorschrift gibt es auch nicht in den Sektionen. Alles hängt voneinander ab. Die Sektionen zeigen nur Beispiele, wie man sich klug und kraftsparend verhält. Aber es gibt daneben viele weitere Möglichkeiten der Interpretation, davon erfährt man z.B. auf GM Leung Tings Tutorials. „Kommt man darauf nicht von selbst“ höre ich manche fragen. Vielleicht, wenn man Großmeister ist und sich so intensiv damit beschäftigt hat wie mein Si-Fu, aber warum das Rad ein zweites Mal aufs neue erfinden? Ich für mein Teil halte es für ökonomischer, von dem schon erarbeiteten Wissen weiterzudenken. Um zu verstehen, um immer mehr zu verstehen, muss man lernen, das Gelernte anwenden und dann wieder kommen und wieder, diesmal genauer hinschauen, und jedesmal wird man tieferes Verständnis gewinnen.
Einen einzigen Aspekt herauszunehmen und ihm das (unbekannte) Ganze unterzuordnen und zu verlangen, dass sich das Ganze nach dem (scheinbar) regierenden Prinzip richten muss, das man erkannt zu haben glaubt, ist Selbstüberschätzung und damit Hybris und der Weg in die Irre.
Gerade über dieses Thema hatte ich mit meinem Si-Fu im Sommer des Jahres in Berlin ein tiefes Gespräch, bei dem wir uns beide der Meinung eines Philosophen anschlossen, der gewarnt hatte, dass jede losgelöste Idee zum Verlust des Gleichgewichtes des Ganzen führen muss.
Keith R.Kernspecht
Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.