Editorial

Timing – Teil 1: Überleben mit richtigem Timing

In diesem Monat starte ich als Vorabdruck aus meinem nächsten Buch eine Serie verschiedener Artikel zum Thema „Timing“.

„Der Angriff eines guten Kriegers gleicht dem Spannen der Armbrust. Voller Kraft und Spannung. Wenn er am Abzug zieht, fliegt der Pfeil mit genauer Berechnung der Entfernung, der Zeit und des Ziels. Nicht zu früh, nicht zu spät.“

Sun Tsu (5.12)

 

Überleben mit richtigem Timing

Wir stehen vor einem überlegenen und grausamen Gegner. Wir wissen, dass wir – wenn überhaupt – nur wenige Chancen bekommen werden, ihn so zu treffen, dass wir ihn außer Gefecht setzen können.

Wir wissen auch, dass die wenigen Gelegenheiten, ihn zu treffen, nicht alle gleich gut sein werden, sondern dass wir den richtigen Augenblick finden und mit größter Entschlossenheit ausnutzen müssen, sonst wird er uns erbarmungslos vernichten.

Hier wird die lebensentscheidende Wichtigkeit des richtigen Timings deutlich.

 

Zeit und Emotionen

Ein Kampf wird von Emotionen bestimmt. Heftige Emotionen wie Angst und Wut usw. lassen uns die Zeit als schneller ablaufend erleben. Sobald wir aber Kontrolle über uns und den Gegner erlangt haben, tritt das Gegenteil ein: Für den Meister verläuft die Interaktion mit dem Gegner in Zeitlupe, so dass er alle Lücken in der Deckung des anderen rechtzeitig wahrnimmt und ohne Eile ausnutzen kann.

Der chinesische Meister der Strategie unterscheidet dreierlei:

   1. sich Zeit lassen
   2. den Gegner „unter Zeitdruck setzen“
   3. die „Zeit zum Zuschlagen“

 

1. Sich Zeit lassen

Wer aus Angst oder Ungeduld die Ereignisse beschleunigen will, kreiert durch seine hastigen Aktionen weitere Probleme, die erst noch beseitigt werden müssen, bevor man sich dem eigentlichen Problem zuwenden kann. So dauert der gesamte Prozess am Ende länger, als wenn man sich Zeit gelassen hätte. Nicht ohne Grund beherrscht das Wu Wei, das gelassene absichtslose Nicht- oder Wenig-Tun, das klassische chinesische Denken und Verhalten. Selbst angesichts der drohenden Gefahr ist Abwarten und erst einmal Nichtstun oft die bessere Lösung (es sei denn, man gehört zu denen, die angesichts der Gefahr gelähmt werden; die sollten zuschlagen, bevor der erste Herzschlag den Stresshormoncocktail in die Blutbahn schießt). Beim Verstreichen der Zeit tauchen fast immer Optionen auf, an die vorher niemand gedacht hätte. Und indem man sich selbst etwas Distanz verschafft, kann man diese Chancen wahrnehmen und ergreifen!

 

2. Den Gegner „unter Zeitdruck setzen“

Hier geht es darum, Zeit zu gewinnen, indem man sie dem Gegner raubt.

Der erfahrene Stratege benutzt dabei folgende drei Varianten:

  • Er hetzt den Gegner und zwingt ihn, in Zeitnot Fehler zu machen.
  • Er lässt den Gegner warten und hält ihn hin. Dabei gewinnt er selbst Zeit und Energie, während der andere vor Ungeduld zappelt und Energie verliert.
  • Er verwirrt die Zeit des Gegners, indem er mit gebrochenem Rhythmus angreift: langsam startet und beschleunigt oder schnell startet und dann abrupt stoppt, so dass der andere in seinem blinden Aktionismus unterreagiert und zu wenig tut bzw. überreagiert und zu viel tut. Bekanntlich ist das Zuviel- oder Zuwenigtun eine der „Hauptsünden“ der drei chinesischen Philosophien.

 

3. Die „Zeit zum Zuschlagen“

Man kann noch so geduldig auf den richtigen Augenblick gewartet haben, man kann den Gegner gehetzt und ihn hingehalten haben, ihn zum Zuviel oder zum Zuwenig verführt haben. Alles ist vergebliches Bemühen, wenn das entscheidende Dritte fehlt: das tatsächliche Zuschlagen, wenn die

Lücke sich auftut. Der Chinese hat dabei das Bild des Raubvogels vor Augen, der aus den Lüften sein nichtsahnendes Ziel umkreist und im richtigen Augenblick herabstürzt und seine Krallen unwiderstehlich in die Beute schlägt und sie und den Sieg davonträgt.

 

Im April werde ich im zweiten Teil auf „Timing schlägt Schnelligkeit“ eingehen.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht