Editorial

So löst Du das ChiSao-Rätsel

Kein April-Scherz: Ohne die richtige Idee führen Sensitivitätsübungen wie ChiSao nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Großmeister Giuseppe Schembri gibt wertvolle Hinweise zu einem besseren Verständnis.

Am Osterwochenende findet traditionell ein großer Ausbilderlehrgang der EWTO statt, zu dem zukünftige Trainer und Übungsleiter aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland anreisen. Für mich ist das immer wieder eine gute Gelegenheit, ganz besonders darauf hinzuweisen, wie wichtig das richtige Verständnis über den Sinn von Sensitivitätsübungen wie unserem ChiSao ist. Hat der Schüler eine falsche Vorstellung darüber, wozu er ChiSao trainiert, wird er das eigentliche Ziel der Übung vielleicht nie oder nur sehr langsam erreichen. Viele Trainierende sind der Meinung, dass es beim ChiSao auf den so genannten „Vorwärtsdruck“ ankommt und pressen ihre eigenen Arme viel zu stark gegen die ihres Trainingspartners. Sie missverstehen den Zweck der Übung und scheinen darin eine Art Krafttraining, Wettkampf oder Kampfanwendung light zu sehen. Mit dieser Einstellung und der entsprechenden Trainingsweise verfehlen sie mit beinahe 100%iger Sicherheit das eigentliche Ziel: Aufmerksames Fühlen und Wahrnehmen mit Hilfe des Tastsinns.

Im Manuskript zu Großmeister Kernspechts neuem Buch „Essenz des WingTsun“ (der Erscheinungstermin ist zum Internationalen Lehrgang geplant) las ich dazu eine gleichermaßen verblüffende wie aufschlussreiche Anekdote über Professor Tiwald, der wie kaum ein zweiter Nicht-WT-ler die Prinzipien unseres WingTsun erkannt und analysiert hat.

Großmeister Kernspecht hatte Professor Horst Tiwald ein kurzes Trainingsvideo geschickt mit der Bitte, dieser möge SiFus Bewegungen analysieren. Nach kürzester Zeit erhielt SiFu eine ungemein detaillierte wissenschaftliche Beschreibung dessen, was er in diesem Video tat. Und nicht nur das: Prof. Tiwald erläuterte sogar, nicht weniger genau und zutreffend, die Schrittarbeit von GM Kernspecht, obwohl auf dem Video nur dessen Oberkörper zu sehen war! Wie ist das möglich?

Großmeister Kernspecht schreibt dazu:

„[…] Wie konnte Horst Tiwald mein Bewegen im Video so schnell erkennen? 

Er las es sich angesichts meines Videos von seinem eigenen Körper ab und schrieb es direkt nieder. Er  richtete seine „Taschenlampe“ der Achtsamkeit auf die Schnittstelle mit der Welt, um dort im „antennigen Verhalten“ ein „Einstellwirken“ bzw. die „Argumente“ des Umfeldes, d.h. des Gegners zu vernehmen, wobei er immer die „Zweckmäßigkeit“ im Auge behielt.
Tiwald ging mit mir zum Ort des „Berührens“ und verfolgte das Geschehen von dort in seinen Körper hinein bzw. von seiner Mitte zur Schnittstelle hin und über diese hinaus.
Tiwalds Sache ist nicht isolierte und sich selbst bespiegelnde Selbst-Erkenntnis, sondern Welt-Erkenntnis, welche die Selbsterkenntnis aber mit einschließt.[…]“

Zugegeben – die spezielle Ausdrucksweise von Prof. Tiwald ist auf den ersten Blick nicht leicht zu verstehen. Doch er beschreibt absolut zutreffend das Ziel, das wir durch unser Sensitivitätstraining zu erreichen suchen.

Wir wollen unsere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit so weit schulen, dass wir idealerweise in der Lage sind, uns gleichsam mit unserem Gegenüber zu verbinden, eins mit ihm zu werden. So wird seine Bewegung zu unserer eigenen, echte „Gleichzeitigkeit“ wird möglich. Wir sind dann frei, in jeder Weise auf die Bewegungen des anderen zu reagieren. Gerade so, als würden wir mit unserem linken Arm auf die Bewegungen unseres eigenen rechten antworten.

Voraussetzung, um dieses Ziel zu erreichen, ist die von Tiwald als „antenniges Verhalten“ bezeichnete Einstellung. Wir wollen mit unseren Armen „fühlen“, nicht „drücken“. „Fragend“ nutzen wir unseren Tastsinn, nicht „behauptend“. Nur so wird es möglich, die „selbst bespiegelnde Selbst-Erkenntnis“ zu einer „Welt-Erkenntnis“ zu verwandeln. Im Falle des ChiSao-Trainings wäre die Welt die Bewegung des Trainingspartners. Sie wirklich zu erkennen bedeutet, sie sich zu eigen zu machen.

Ich kann nur jedem WT-Schüler immer wieder empfehlen, sich auf das Abenteuer Achtsamkeit einzulassen. Die Ergebnisse sind erstaunlich.