Jetzt müssen wir wieder ganz von vorne beginnen und diesen kleinen Eindruck loswerden. Nur so können wir für neue Eindrücke empfänglich sein. Jeder Moment serviert uns neue Eindrücke und es wäre doch unsinnig von altem besetzt zu sein. Das hat sehr viel mit Aufwachen zu tun, wach werden für das Aktuelle. Im WingTsun macht festhalten schließlich auch keinen Sinn.

Altes zu aufgeben, ist anspruchsvoller als es klingt. Oft denken wir, es wäre doch alles in Ordnung mit uns. Aber wenn wir es einmal genauer unter die Lupe nehmen, stellen wir oft erschreckende Tatsachen fest. Mir ging es ähnlich. Erst als meine Lehrerin Charlotte es mir ermöglichte, einen Zustand kennen zu lernen, von dem ich zuvor nicht einmal ahnte, dass er existierte, wurde mir bewusst, in welch limitierter Verfassung ich mich befand. Ich hatte das große Glück mit ihr viele Jahre, bis zu ihrem Tode, studieren zu dürfen und ich bin der festen Überzeugung, jeder Mensch hat ein Recht auf diese Arbeit – und ich empfinde es als meine Aufgabe, im Rahmen meiner Möglichkeiten, Charlottes Entdeckungen für meine Mitmenschen zugänglich werden zu lassen.

Wir arbeiten zusammen am Freiwerden: Freiwerden von übernommenen Vorstellungen, Freiwerden von anerzogenem Verhalten, Freiwerden für Beweglichkeit, für Vitalität, Klarheit und erfülltes, positives Miteinander. Festhalten ist fühlbar! Und je feinfühliger wir sind, umso deutlicher erleben wir auch das klitzekleinste Festhalten. Mit dem Festhalten ist es genau wie mit dem Schwangersein. Ein kleines bisschen Festhalten genügt, um dem eigentlichen Potential den Weg zu versperren.
Wie kann das, was fließen möchte, fließen, wenn ich es nicht erlaube? Erlauben kann man nicht üben. Erlauben ist auch keine Technik, kein System und keine Methode. Erlauben kann man nicht anwenden und nicht benutzen. Erlauben kann man nur erlauben. In der Natur gibt es verschiedene fundamentale Kräfte und Gesetzmäßigkeiten von deren ungestörtem Zusammenspiel unser Funktionieren abhängt.
Mit diesen Kräften und Gesetzmäßigkeiten haben sich Charlotte Selver und deren Lehrer Elsa Gindler und Heinrich Jacoby lebenslang beschäftigt und schon ganz am Anfang, als ich zu Charlotte kam, dachte ich: „Wow, das würde doch sehr gut zum WingTsun passen!“ Schließlich ist WingTsun für mich etwas ganz Besonderes und in den vergangenen Jahren ist in der EWTO alles besser und besser geworden. Ein schönes Beispiel dafür, wie man an Schwierigkeiten wachsen und erfrischen kann!!!
Auf jeden Fall habe ich ca. 15 Jahre lang mit dem Gedanken gespielt, Großmeister Kernspecht von meinen Erlebnissen zu berichten. Bis dann der Tag kam, an dem ich es auch tat. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ich mich fühlte, als seine SMS kam mit den Worten: „Charlottes Arbeit interessiert mich sehr!“ Mein Part ist nun, mit euch am Feinfühligerwerden zu arbeiten. Auf die einfachste und direkteste Weise. Neben der Welt des Festhaltens existiert zeitgleich auch eine Welt der Freiheit und der Wirklichkeit. In dieser treffen wir uns wieder!

Text: Sascha Rimasch
Fotos: privat