WingTsun

Schulleiter stellen sich vor: Georg von Kampen

Für das Interview des Monats September hat sich Sifu Oliver Pfannenstiel an die Unterweser in die niedersächsische Kreisstadt Brake begeben.
Brakes Wahrzeichen ist der 1846 unter dem oldenburgischen Großherzog errichtete Telegraph. Das Gebäude beherbergt seit 1960 ein sehenswertes Schifffahrtsmuseum.
Brake war bis 1997 ein wichtiger Standort für die Ausbildung der Seeleute der Marine. Seit 2003 gibt es dort die WingTsun-Schule Georg von Kampens.


Zur Person Georg von Kampen:

 Alter: 
 41
 Graduierung:  2. TG WT
 Weitere WT-Qualifikationen:               
 Trainer 3
 Mit WT begonnen:  1998
 Schulleiter seit:

 2003

 WT-Lehrer und SiFu:
 GM K.R. Kernspecht; WT-Lehrer: Sifu Volker Niespor, Sifu Otfried
 Glaser u.a.
 Ausbildung/Beruf:  Krankenpfleger RbP, Fachkraft für operative und endoskopische
 Pflege, Praxisanleiter n. KrpflG, Heilpraktiker
 Kinder:
 4 (2 Mädels und 2 Jungen; 17, 15, 12 und 9 Jahre alt)
 Hobbys neben dem WT:
 Tauchen, Laufen
 Lieblingsfilm:
 Filme von Luc Besson, Peter Jackson, Sergio Leone
 Lieblingsmusik:  Jacques Dutronc – Et moi, et moi,et moi
 Lieblingsbuch:
 Li-Gi; Der Herr der Ringe
 Lieblingsspeise:  Frisches Baguette mit Meersalzbutter, im Winter gerne Tarhana
 Lieblingsurlaubsziel:  Frankreich
 Ein schöner Tag ist für mich, wenn…     
 Manche Tage werden von allein gut, die anderen kann man zu
 guten Tagen machen.
   

Zur WT-Schule:
  

 Größe des Ausbilderteams:                      
 4
 Ort:  Brake
 Unterrichtsangebot:        
 WT/Kids/Jugend/Senioren/Escrima
 Termine pro Woche insgesamt:          
 5
 Anzahl Techniker:  2


Interview:

WTW: Wie bist Du zum WT gekommen? Was war Deine Motivation?
Georg: Als Heilpraktiker war ich in Kontakt mit der Traditionellen Chinesischen Medizin gekommen und darüber hatte ich Zugang zur chinesischen Kultur und den fernöstlichen Philosophien gefunden. Gleichzeitig war ich, da ich auch gerade das Rauchen aufgegeben hatte, auf der Suche nach einer sinnvollen sportlichen Betätigung, die gesund für Körper und Geist sein sollte. Heilkunde und Kampfkunst passen nach meinem Verständnis gut zusammen. Durch einen Zufall bekam ich das Buch „Wing Tsun Kuen“ in die Finger. Ich las es durch, war beeindruckt und stellte mich in der nächsten EWTO-Schule vor.

Was ist heute Deine Motivation für WT?
Es macht mir immer noch viel Spaß und ich verdiene einen Teil meines Lebensunterhaltes damit.

Du betreibst WT neben Deinem Hauptberuf als Krankenpfleger und anderen Hobbys wie Tauchen und Musik machen. Welchen Stellenwert hat WT für Dich?
WingTsun ist ein fester Bestandteil meines Lebens. Vieles von dem, was ich durch das WingTsun gelernt habe, wende ich im Alltag regelmäßig an, ohne darüber nachzudenken. Das hat nichts mit Kampf oder Selbstverteidigung zu tun. Ich habe zum Beispiel einmal überrascht festgestellt, dass ich den IRAS benutze, wenn ich teilweise gelähmte Patienten aus dem Bett mobilisiere und in den Rollstuhl setze. Ich habe so eine sehr gute Kontrolle über die Beine der Patienten, diese können dann nicht plötzlich wegrutschen. Mein Interessenschwerpunkt liegt mal mehr beim WT, mal mehr beim Tauchen. Im Winter, wenn draußen das Wetter schlecht ist, mache ich gern Musik.

Du hast Deine Schule direkt in Deinem Eigenheim untergebracht. Somit sind Deine Schüler stets bei Dir „zu Hause“. Welche Vor- und Nachteile siehst Du hierfür?
Der Schulbereich ist schon ein Stück weit getrennt vom Wohnbereich. Es gibt einen separaten Eingang in den Keller und eine Tür, die den Schulbereich vom Rest des Hauses trennt. Ich kann nach dem Abendessen die Treppe hinunter gehen und Unterricht machen, danach gehe ich die Treppe hoch und bin zu Hause, das ist praktisch.
Aber natürlich macht das die gesamte Atmosphäre auch etwas persönlicher und privater. Ich habe außerdem eher geringe Fixkosten – die Miete fällt ja weg. Ein Nachteil wäre, dass die Schule in einem Wohngebiet liegt und von außen eher unscheinbar ist. Da wird man leicht übersehen und muss sich hin und wieder bemerkbar machen.
Für das Kindertraining habe ich einen Raum außerhalb angemietet. Dort ist etwas mehr Platz für Bewegungsspiele.

Wie ist das Verhältnis Männer/Frauen/Kinder (in Prozent) in Deiner Schule?
Ca. 50% Männer, 50% Frauen, Erwachsene etwa 2/3, Kinder 1/3 – Tendenz steigend.

Woran machst Du den hohen Frauenanteil fest?

Ist der hoch? Ich empfand das immer als normal. Etwas über 50% der Bevölkerung sind Frauen, unsere Kampfkunst wurde von einer Frau entwickelt und ist für Frauen hervorragend geeignet. Ich denke das Verhältnis in meiner Schule bildet die Bevölkerungsverteilung ab. Ich arbeite beruflich viel mit Frauen zusammen, vielleicht spielt das eine Rolle. Die familiäre Atmosphäre in der Schule und mein eher wenig martialisches Auftreten könnten auch ein Grund sein. In den Seminaren, die ich für Krankenhäuser gebe, ist der Frauenanteil noch deutlich höher.

Welche Übungen kommen am besten an?
Eine gute Mischung aus Theorie, Technik, Rollenspiel, Freikampf und Konditionstraining stellt alle zufrieden.

Wie gefallen Dir die ReakTsun-Programme?
Sehr gut. Einen Akzent in diese Richtung zu setzen war nötig, wenn nicht sogar überfällig.

Worauf legst Du besonderen Wert im Unterricht?
Dass die Schüler etwas lernen. Im Ernst, es ist mir wichtig, dass meine Schüler sich weiterentwickeln. Ich freue mich, wenn die Schüler im Unterricht ein „Aha“-Erlebnis haben und einen Schritt weiterkommen.

Welche Schnittpunkte gibt es mit dem WT hinsichtlich Deiner Arbeit als Krankenpfleger z.B. in der chirurgischen Notaufnahme? Welche Erfahrungen mit Gewalt macht man in diesem Job?
Der Gesundheits- und Krankenpflegeberuf ist ein anspruchsvoller, aber auch vielseitiger und faszinierender Beruf. Im Zentrum steht der Mensch und tatsächlich hat man hat in einigen Bereichen regelmäßiger mit aggressivem Klientel zu tun. Was nicht heißt, dass es zu Gewalttätigkeiten kommen muss. Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft spielt Alkohol- oder Drogenkonsum eine Rolle. Es gibt auch Erkrankungen, die mit einer erhöhten Aggressionsbereitschaft einhergehen. Ebenso können Haupt- und Nebenwirkungen bestimmter Medikamente Menschen aggressiver machen. Frustration, Schmerz, Trauer, Kommunikationsprobleme, … Die Liste ist lang.
Auch sexuelle Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz sind, wie in anderen Berufen auch, gelegentlich Thema.

Wie sehen die Statistiken im Pflegebereich bezüglich Gewalt aus? Welchen Handlungsbedarf gibt es hier?
Gewaltereignisse in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen werden zum Glück inzwischen auch in Deutschland zunehmend besser erfasst und dokumentiert. Die Ergebnisse von Untersuchungen zu diesem Thema sind EU-weit recht ähnlich. Man erkennt daraus z.B., dass ca. 75 % der Befragten pro Jahr verbale Übergriffe ohne klare Drohung erlebt haben, ca. 60 % wurden bei verbalen Übergriffen klar bedroht, 40 - 45% erlebten leichte körperliche Gewalt und bis zu 15% haben schwere körperliche Gewalt erlebt. Dabei muss man sagen, dass das ein Durchschnitt quer durch alle Fachbereiche ist, und dass Gewalttätigkeiten durch Patienten auf der Säuglingsstation naturgemäß seltener sind, als z.B. in Einrichtungen, deren Schwerpunkt auf der Betreuung von aggressivem Klientel liegt. Schon aus Gründen des Arbeitsschutzes fordern die Berufsgenossenschaften, dass dort, wo Angestellte häufiger Kontakt mit aggressivem und gewalttätigem Klientel haben, diese in Deeskalations- und Selbstschutztechniken geschult werden müssen.

Du leitest Seminare zu Aggressionsmanagement im Pflegebereich. Wie bist Du dazu gekommen und wie unterscheidet sich diese Tätigkeit von der Gewaltprävention, wie wir sie in der EWTO kennen?
Ich bin seit gut 20 Jahren in der Krankenpflege tätig. Nebenbei habe ich auch etwa 5 Jahre lang als Heilpraktiker in einer Gemeinschaftspraxis mit einem psychotherapeutischen Tätigkeitsschwerpunkt gearbeitet. Seit über 12 Jahren beschäftige ich mich zudem mit Selbstverteidigung.
Ich selbst kam mit aggressiven Patienten immer gut zurecht. Aber Kollegen berichteten mir von ihren Problemen und Erfahrungen und auch Patienten, die Opfer von Gewalt geworden waren, erzählten mir, was ihnen widerfahren war. So kann ich bei meinen Vorträgen auf einen angemessenen Erfahrungsschatz zurückgreifen und habe immer den Praxisbezug.
Irgendwann begannen die Kollegen zu fragen, ob ich nicht ein Seminar zum Thema halten könnte. Das war der Einstieg.
Das schöne Wort „Aggressionsmanagement“ zeigt, worum es geht. Aggression ist in weiten Teilen etwas Natürliches, etwas, das sich nicht grundsätzlich verhindern lässt.
Verhindern lässt sich die Eskalation zur Gewalt. Man muss lernen, mit Aggression professionell umzugehen, sie neudeutsch zu „managen“. Gelingt dies, gibt es keine Gewalt. Gibt es keine Gewalt, braucht man keine Selbstverteidigung.
Der Patient oder Klient, auch der aggressive, ist ein Mensch, der sich in unserer Obhut befindet, weil er – zumindest eine gewisse Zeit – auf Hilfe angewiesen ist. In diesem Sinne ist er eine Art „Schutzbefohlener“ und nie ein Gegner. Sollte sich eine Eskalation nicht verhindern lassen und es zu einer Krise mit gewalttätigen Ausbrüchen kommen, so sind nur solche Maßnahmen gerechtfertigt, die bei größtmöglicher Sicherheit für das Personal auch die größtmögliche Sicherheit für den Patienten garantieren. Insbesondere soll der Patient auch in seiner Menschenwürde möglichst wenig beeinträchtigt werden. Anstelle von Selbstverteidigungstechniken werden Selbstschutz- oder Sicherheitstechniken eingeübt. Eventuell notwendige Interventionen erfolgen durch ein Team im ethisch vertretbaren Rahmen. In den Entscheidungsprozess zur Intervention sind oft mehrere Berufsgruppen eingebunden. Heroische Einzelkämpfer sind fehl am Platze. Es gibt Methoden, um die individuelle momentane Gewaltbereitschaft eines Patienten zuverlässig zu erfassen und zu bewerten. Für jede Eskalationsphase sind passende Interventionsmöglichkeiten vorhanden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Umgang mit der Aggression, auch mit der eigenen.

Der internationale Markt für Aggressionsmanagement scheint lange vorhanden und mit neuesten wissenschaftlichen Konzepten versorgt zu sein. Ein ganzer interdisziplinärer Forschungszweig beschäftigt sich hiermit. An welchen Punkten könnten wir als WTler etwas Neues dazulernen?
Es gibt eine Menge lesenswerter Arbeiten zu diesem Thema. Viel kommt aus dem europäischen Ausland, der Schweiz, den Niederlanden, Skandinavien. Ich empfehle, sich damit zu beschäftigen. Wer als „Experte“ für Selbstverteidigung auch über ein Grundwissen aus den Bereichen Psychologie, Soziologie und Psychiatrie verfügt, steigert seine Chance, in diesem Marktsegment ernst genommen zu werden. Strukturelle Gewalt, strukturelle Defizite, ein schlechtes Arbeitsklima, Personalmangel, die Kommunikation im Team, die baulichen Voraussetzungen, sogar die Farben an der Wand können Auswirkungen haben. Die reine körperliche Selbstverteidigung spielt eine eher untergeordnete Rolle.

Du bist leidenschaftlicher Hobby-Wracktaucher. Kannst Du hier etwas vom WT einbringen oder umgekehrt?
Man muss beim Tauchen – wie auch in der Selbstverteidigung – die eigenen Fähigkeiten und Grenzen genau kennen. Sich selbst zu überschätzen oder eine potentielle Gefahr zu unterschätzen oder gar zu ignorieren, kann fatale Folgen haben.
Man ist im Meer bisweilen gewaltigen Kräften ausgesetzt. Eine starke Strömung zum Beispiel kann ein unbezwingbarer Gegner sein. Wenn man sie aber kennt und bei der Tauchgangsplanung berücksichtigt, kann man sie sich zum Freund machen und sie bringt einen dorthin, wo man möchte. Dabei lernt man viel über das WuWei-Prinzip.
Unfälle passieren beim Tauchen bisweilen dadurch, dass Taucher unter Wasser mehrere nacheinander oder gleichzeitig auftretende Probleme nicht handhaben können. Sie geraten in Panik und der einsetzende Fluchtreflex zwingt sie unter Missachtung der nötigen Dekompressionsstopps an die Wasseroberfläche. Daraus können schwere gesundheitliche Schäden resultieren. Unter erschwerten Bedingungen und starkem Stress handlungsfähig zu bleiben, ist eine Fähigkeit, die einem sowohl beim Tauchen als auch bei der Selbstverteidigung das Leben retten kann.

Mit welchen Eigenschaften siehst Du Dich selbst als WT-Lehrer?
Humorvoll-ernst, kompetent-verständnisvoll. Gelegentlich vielleicht ein bisschen zu wenig ehrgeizig.

Was bedeutet das Unterrichten für Dich?
Andere Menschen groß zu machen. Den Schülern das zu geben, was sie brauchen, um sich weiterzuentwickeln. Wenn man gut ist, macht man sich irgendwann selbst überflüssig.

Was willst Du den Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben?
Lernen bedeutet nicht notwendigerweise, dass man immer neue Informationen aufnehmen, sich immer neues Wissen aneignen muss. Lernen kann auch bedeuten, dass man sich von falschen Ansichten und Unwahrheiten befreit, so dass das in einem selbst schon vorhandene Wahre und Richtige, das vorher verdeckt war, hervortritt und sich entfalten kann. In unserer Zeit des Informationsüberflusses wird es immer wichtiger, sich vor nutzlosem „Datenmüll“ zu schützen.

Das Interview führte Sifu Oliver C. Pfannenstiel
Fotos: WT-Schule Brake