Niemand ist frei, der nicht über sich selbst Herr ist. (Matthias Claudius, „Sprüche des Demophilus")
Dr. G. hat es geschafft. Sein Bankkonto wächst, seine Söhne haben es zu etwas gebracht, seine Tochter hat er gut verheiratet, um seine Zukunft muss er sich keine Sorgen machen, er ist Vorstandsmitglied mit eigenem Chauffeur, zuverlässige und kompetente Mitarbeiter managen alles zu seiner Zufriedenheit. G. gehört zu den Honoratioren seiner Stadt. Seit er US$ 100.000 spendete, gilt er über seine Region hinaus als Wohltäter und genießt uneingeschränkte Anerkennung, Politiker fragen ihn nach seiner Meinung und Moderatoren laden ihn in ihre Talkshow. Er hat auch geistige Interessen, veranstaltet Dichterlesungen und fördert die Künste allgemein. Seine spirituelle Neigung hat er ebenfalls entdeckt und über die institutionalisierte Kirche hinaus fühlt er sich vom Dalai Lama ebenso angesprochen wie von den Schriften Krischnamurtis.
Gegen 11 wacht G. benommen und verwirrt von einem Albtraum in seiner Hotelsuite auf. Schlaftrunken rappelt er sich auf. Als er aus dem Bad kommt, nimmt er seine Armbanduhr vom Nachttisch und will sie sich ums Handgelenk binden, aber sie entgleitet ihm und droht runter zu fallen. Er versucht sie noch zu fangen, aber bei dem Versuch, sie zu greifen, stößt er den schweizer Zeitmesser in den Spiegel, der sofort zerbricht, die Uhr selbst hat ebenfalls hässliche Kratzer abbekommen und der Sekundenzeiger bewegt sich nicht mehr. Scheiße! Angewidert legt G. die Uhr zur Seite, auf die er so stolz war.
Der Etagenservice bringt ihm sein Frühstück. Verdammt, das 5-Minuten-Frühstücksei ist hart. G. nimmt sich vor, das nächste Mal das Hotel zu wechseln.
Als er die Lobby des Hotels verlässt, um beim Ministerium vorzusprechen, sieht er einen blinden Bettler, der ihn vom Aussehen an den Kellner vom Restaurant „Krokodil" erinnert, wo er immer diesen göttlichen Hummer bekam. Plötzlich fühlt er Hunger, das steinharte Ei hatte ihm das ganze Frühstück verleidet, aber im KdW würde er sich mit Hummersalat und Sekt entschädigen.
An der Bar sitzen auch zwei entzückende junge Damen, die ihn sichtlich angetan betrachten, wobei er die eine zur anderen flüstern hört: „Schau mal den, toller Typ." Man kommt ins Gespräch, und er erwähnt, in welchem Hotel er wohnt. „Vielleicht haben die Damen ja Lust, mit mir heute abend zu speisen?"
G. fühlt sich super und als er das Kaufhaus des Westens verlässt, wirft er dem Bettler einen 20 Euro-Schein in den Hut.
Fröhlich pfeifend betritt er das Uhrengeschäft und gibt seine Uhr zur Reparatur. „Wir müssen sie einschicken. Es wird aber bestimmt ein paar Wochen dauern, mein Herr." „Macht nichts, ich hab ja noch ne andere Uhr dabei." G. geht in sein Hotel zurück. Der Portier hält ihm die Tür auf. „Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt, Dr. G." G. genießt den Service in diesem Hotel und gibt ein großzügiges Trinkgeld.
Er betritt sein Zimmer, der zerbrochene Spiegel ist ausgetauscht. Auf dem Bildschirm des TV-Gerätes ist eine interne Hotelnachricht „Herr G., bitte kontaktieren Sie die Rezeption. Es liegt eine Nachricht für Sie vor." Er ärgert sich, dass man seinen Doktor-Titel weggelassen hat und greift zum Hörer, um die Rezeption anzurufen, niemand meldet sich. Als es nach ca. zwei Minuten Durchklingeln endlich „Rezeption" heißt, lässt G. Luft ab: „Geht denn in diesem Saftladen überhaupt keiner ans Telefon?" – „Entschuldigen Sie bitte, Dr. G., zwei Damen haben hier für Sie angerufen und erwarten Sie um 20 Uhr in der Lobby." – Schlagartig ändert sich G.s Stimmung: „Vielen Dank, bitte besorgen Sie mir einen guten Tisch für drei Personen am Fenster."
Der Mensch, die Krone der Schöpfung, ist er wirklich frei in seinem Handeln?
Keith R. Kernspecht