Negative Gefühle unterdrücken?
Raten Sie wirklich dazu, Gefühle zu unterdrücken?
Sehr geehrter Autor, ich finde auch Ihr neues Buch unglaublich lesenswert und empfehle es allen meinen Sportkameraden, weil es sich so sehr von normalen Selbstverteidigungsbücher abhebt.
Dennoch bin ich als Psychologiestudent nicht einverstanden mit Ihrem Ratschlag auf S. 8. Ich zitiere: „Die Fähigkeit, bei sich selbst aufkeimende Impulse rechtzeitig zu erkennen und zu unterdrücken, sollte uns ebenso auszeichnen wie das Hineinversetzen in andere, um ihre Emotionen zu verstehen. Dass das rechtzeitige Erkennen von Emotionen unerlässlich ist, sehe ich ein. Das Hineinversetzen in andere macht ebenso für mich Sinn, aber das Unterdrücken von Gefühlen ist meiner Meinung immer falsch.
Karl Gebhard, Hamburg
Sehr geehrter Herr Gebhard,
Sie beziehen sich auf das Vorwort zu meinem Buch. In der Tat muss ich um Nachsicht bitten, denn ich hätte diese Andeutung im weiteren Text unbedingt näher erklären müssen, damit kein Missverständnis entsteht.
Wenn ein Leser, der meine Technik nicht kennt und meine Terminologie, die möglicherweise in der modernen Psychologie, Philosophie oder sonst einer Spezialdisziplin anders besetzt bzw. benutzt wird, könnte er mich für einen Verfechter des „positiven Denkens um jeden Preis“ halten und gründlich missverstehen.
Nun liegen meine eigenen Studienjahre schon lange zurück, was mich aber nicht daran hindert, ein leidenschaftliches, dilettantisches Interesse an solchen Themen zu haben, wobei es mir aber immer um die praktische Umsetzung und den Bezug zum WingTsun geht.
Ich hätte mich, was aus Platzmangel nicht möglich war, wie folgt ausdrücken müssen: Ich sehe es als eine lohnende Praxis (aber nur für Leute mit gesundem Selbstwertgefühl und auf keinen Fall für solche, die ihren Ärger nicht zeigen können, selbst wenn sie wollten) an, nicht gewohnheitsmäßig und mechanisch jeder negativen Emotion sofort Ausdruck zu verleihen. Das gilt als Übung schon für das automatische Stöhnen über das schlechte Wetter oder Langeweile und ganz besonders bei aufkommenden unangenehmen und energieraubenden Gefühlen wie Aggression, Neid, Eifersucht, Ärger, verletzter Gerechtigkeitssinn usw.
Wenn ich neutral von „unterdrücken“ oder „nicht ausdrücken" sprach, dann meinte ich damit nicht das Verleugnen (denial), Verbergen (concealment) oder die Repression (repression) negativer Emotionen. In bestimmten Ländern, in bestimmten Gesellschaftsschichten ist es tabuisiert, Gefühle zu zeigen. Aber das meinte ich keineswegs. Mir geht es nicht darum, negative Gefühle zu verdrängen, „in sich reinzufressen“ oder sich einzureden, dass man sich z.B. gar nicht ärgert. Ganz im Gegenteil soll die Technik des inneren Kampfes, negative Emotionen nicht auszudrücken, dazu führen, dass sich der Betreffende ihrer eben besonders bewusst ist. Wie heißt es im Tsun Yung, der Lieblingsphilosophie des verstorbenen Großmeisters Yip Man: Das was man verbergen will, ist (einem selbst) das Allerdeutlichste! Wir wollen die negative Emotion nicht in unser Unterbewusstsein runterdrücken. (Wobei ich es mir nicht verkneifen kann, zu bemerken, dass ein Unterbewusstsein ja eigentlich vom Namen her die Existenz eines Bewusstseins voraussetzt.) Um mehr Bewusstsein geht es uns, und jedes unangenehme Ereignis ist für den, der das Leben zum Lehrer nimmt, eine günstige Chance, wenn auch nur für kurze Zeit, bewusst zu sein. Indem wir nämlich inneres Krafttraining machen und dem Impuls nicht nachgeben, sondern die mechanische Äußerung z.B. des Ärgers über den weggenommenen Parkplatz nicht „unterdrücken“, aber auch nicht ausblenden, werden wir uns unseres inneren Zustandes deutlich bewusst und wir können ihn als Zeuge und Beobachter gut verfolgen, indem wir aus den Augenwinkeln zu uns sehen, wie zu einem exotischen Tier, das man studiert. Sie beobachten sich aus der Distanz, teilen Ihr Aufmerksamkeit, sehen die Angelegenheit und sich selbst mit ihrem Ärger. Aber Sie können nicht mehr eins werden mit der Wut, Sie können sich nicht mehr mit dieser Emotion identifizieren und selbst zur Wut werden. Nutzen Sie jede Gelegenheit, wenn etwas nicht so läuft, wie Sie möchten, indem Sie das scheinbar Unangenehme in eine innere Übung verwandeln und der Emotion keinen Ausdruck verleihen, ihr nicht nachgeben, aber die Irritation die ganze Zeit fühlen. Und Sie sollten sie auch so körperlich wie möglich fühlen, etwa als leichtes Brennen im Magen. Spüren Sie diesem Brennen nach. Kosten Sie es aus und Sie werden nach einiger Zeit des in sich Hineinhörens spüren, wie diese Irritation sich selbst verbraucht und nicht einfach nur verschwindet, sondern als neue Energie in Ihr System recyclet wird. Sie haben den Ärger verbrannt und müssen ihn nicht länger mit sich herumschleppen!
Dies ist nur eine oberflächliche Erklärung der Technik mit negativen Gefühlen zu kämpfen und nicht meine Erfindung. Tatsächlich steckt viel mehr dahinter, denn wie immer im Taoismus geht es um Energien und in diesem Fall um 1. Stopfen von Energielecks und 2. Transformation (Wandelung) negativer Gefühle in positive Energie.
Aber auch eine innere Technik wie diese ist eine Technik und mit guter Anleitung erlernbar. Am Anfang werden Sie sich erst beobachten können, wenn der Impuls schon vorüber ist. Später mit der entsprechenden hartnäckigen Praxis werden Sie schon den Ansatz des Impulses erkennen.
Ich möchte gerne sagen, dass es sich hier um eine ausschließliche WT-Technik der 3., also der höchsten und inneren Ebene handelt. Aber mir ist sie auch aus anderen inneren Lehren bekannt. Bei den Alchemisten sollte so das „Blei“ der normalen Erfahrung in das „Gold“ des Bewusstseins verwandelt werden. Nur exoterische, also oberflächliche Alchemisten glaubten an die Verwandlung in Gold aus Metall. Hitze ist zur Verwandlung in Energie-Gold nötig, nicht ohne Grund sprechen die Chinesen vom Entfachen des Ofens mit dem Blasebalg, wenn von der ChiKung Siu Nim Tau-Form und Chi-Gewinnung die Rede ist. Auch dort zittern die Beine und es tritt ein ähnlicher Effekt ein wie bei der Friktion (Reibung), die durch den inneren Kampf mit den Irritationen entsteht. Auch im inneren Christentum spricht man in diesem Zusammenhang von „Feuer“ und Christus sagt in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 3, Vers 18: „Ich rate dir, daß du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest“.
K. R. Kernspecht